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Shit-Stürme haben keinen Rettungsring © cc Kai Sender

Shit-Stürme und Mobbing im Netz

Heinz Moser /  Die sozialen Medien können das Leben zur Hölle machen. Das ist die Botschaft des Buches von Jon Ronson.

Der britische Journalist Jon Ronson hat sich aufgemacht, um Leute zu treffen, die Opfer von Shit-Gewittern im Internet wurden. Ihn fasziniert das Phänomen, wie eine unbedarfte Äusserung im Netz eine Flut gehässiger Kommentare nach sich zieht, die sich wie eine Sturzwelle über den Urheber ergiesst.

Genau solche Menschen hat Jon Ronson aufgesucht und interviewt – etwa Justine Sacco, deren Leben sich während eines Flugs von London nach Südafrika zur persönlichen Katastrophe verwandelte. Sie hatte schon immer etwas gedankenlos sarkastische Nachrichten an ihre Freunde abgesetzt. Noch vor dem Abflug tweetete sie in Heathrow: Ab nach Afrika. Hoffe, ich hol mir kein AIDS. Nur ein Scherz. Bin ja weiss! Sie lachte über ihren Witz und drückte auf Senden – wohl keine gute Idee.

Justine Saccos geschmackloser Witz

Als sie nach dem elfstündigen Flug landete, starrte sie verblüfft auf den Bildschirm, wo sich Nachrichten von Leuten häuften, die sie gar nicht kannte: Sprachlos angesichts dieses furchtbar ekelhaften, scheissrassistischen Tweets von Justine Sacco. Ich bin mehr als geschockt. Noch vor ihrer Landung auf dem Cape Town Airport hatte jemand geschrieben: Alles, was ich zu Weihnachten will ist @JustineSaccos Gesicht zu sehen, wenn ihr Flieger landet und sie ihr ePostfach/Voice-Mail checkt. Und natürlich fand sich jemand, der sie auf dem Flughafen gleich fotografierte und dazu schrieb: Um unentdeckt zu bleiben, hat sie sich eine Sonnenbrille aufgesetzt.

Ronson beschreibt minutiös, wie das Leben von Justine Sacco buchstäblich zerbrach. Sie verlor ihren Job und blieb lange arbeitslos. Man hielt ihr vor, sie sei die Tochter eines südafrikanischen Bergbau-Tycoons, obwohl sie in den USA in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen war. Ihr Leben und ihre Karriere waren mit einem Mal zerstört. Ronson dazu: Und wozu? Nur für ein wenig Aufregung in den sozialen Netzwerken?
Dabei konnte Justine nicht begreifen, dass man sie jetzt als Rassistin brandmarkte. Sie hatte ihren Witz «bloss» sarkastisch gemeint und sich nichts dabei gedacht. Wahrscheinlich genauso wenig wie all jene, welche die Gelegenheit nutzten und aus der Anonymität heraus über Justine herfielen: Mit einigen ebenso leichtfertig formulierten Sätzen beteiligten sie sich an ihrer Zerstörung. Sacco gibt zu Protokoll: In den ersten vierundzwanzig Stunden habe ich nur Rotz und Wasser geheult. Es war unfassbar traumatisch. Du schläfst nicht. Du wachst mitten in der Nacht auf und weisst nicht, wo du bist. Plötzlich weisst du nicht mehr, was du eigentlich machen sollst.

Der Fälscher von Dylan-Zitaten

Jon Ronson berichtet über eine ganze Reihe von Personen, denen es ähnlich ergangen ist. Und nicht alle waren so unschuldig wie Justine. Etwa der Journalist und Bestseller-Autor Jonah Lehrer, der für ein Buch über Bob Dylan Zitate des Sängers frei erfand oder fälschte. Zu seiner Enttarnung meint Ronson: Jonah Lehrer sei ein unehrlicher Autor, er habe wiederholt Genzen überschritten. Deshalb sei es angemessen gewesen, seine Lügen aufzudecken und ihn blosszustellen.

Doch war das wirklich «angemessen»? Ronson trifft Lehrer und meint danach, er habe ihm dennoch Leid getan, als er sah, wie dieser litt. Vor allem war Ronson schockiert, wie sich Lehrer in einem Vortrag öffentlich entschuldigte. Denn während Lehrer sprach, lief hinter seinem Kopf ein riesiger Bildschirm mit Twitter-Kommentaren wie: Geschwätz eines desillusionierten, reuelosen Narzissten oder Jonah Lehrers Rede sollte den Titel tragen: ‘Wie man Arschlöcher erkennt, die sich selbst in die Tasche lügen’.

Der öffentliche Pranger im 21. Jahrhundert

Diese öffentliche Demütigung ist es, welche Ronson erschreckte, da sie mit den sozialen Medien salonfähig geworden ist. Er vergleicht dies mit dem öffentlichen Pranger früherer Jahrhunderte. Damals waren das Auspeitschen oder an den Pranger Stellen als Strafe selbstverständlich gewesen. Schon im 19. Jahrhundert nahm man jedoch von solchen Methoden Abstand. So hatte Benjamin Rush, einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, schon 1787 ein Verbot verlangt, da die Schande als viel schlimmere Strafe wie der Tod zu betrachten sei. Jonah Lehrer hatte, so Ronson, etwas erlebt, das seit dem 19. Jahrhundert verpönt war.

Mit den sozialen Medien ist der öffentliche Pranger wieder neu aufgekommen – und zwar in einer Form der anonymen Unerbittlichkeit. Denn es fällt leicht, sich am Computer-Bildschirm zu empören und sich auf Twitter lautstark zu äussern. Die Erbarmungslosigkeit, mit der ein Shitstorm losbrechen kann, zeigt der Fall von Justine Sacco: Noch während sie im Flugzeug nach Südafrika sass, wurde voll Schadenfreude getwittert: Oh, Mann, @JustineSacco wird wohl den schlimmsten Telefonanschalt-Moment aller Zeiten haben, wenn ihr Flieger landet.

Im Netz verbreiten sich solche Botschaften mit unheimlicher Geschwindigkeit. Sich dagegen zu wehren, ist fast unmöglich, weil alles in einer Sphäre der Anonymität abläuft. Unerbittliche Empörung ist aus einem sicheren Hinterhalt leicht zu formulieren. Und oft entfacht sich der Shitstorm erst richtig, wenn die Medien ihn aufgreifen und noch weiter an die Öffentlichkeit zerren.

Wen ein Shitstorm treffen kann

Dabei ist kaum jemand sicher, dass er nicht einmal von der Wucht eine solchen Ereignisses getroffen wird. Es sind nicht nur einzelne Personen, sondern auch Unternehmen und Organisationen, die Opfer werden können. Man muss nur im Internet googeln, um auch in der Schweiz solche Ereignisse zu finden, wie sie Ronson für die USA beschreibt.
Besonders häufig sind es Politiker, über die ein Shit-Sturm losbricht – und dies nicht immer unverschuldet. Denn eine provokative Aussage ist schnell auf Twitter formuliert. Wer wieder gewählt werden will, braucht öffentliche Aufmerksamkeit. Manche Politiker und Politikerinnen mussten einen locker und schnell hingeschriebenen Satz im Nachhinein schwer bereuen. Das gilt für linke und rechte gleichermassen.

Der Aargauer Grossratskandidat Reto Schmid fuhr in seinen Ferien zum Hochseefischen aufs Meer hinaus und postete ein Bild, das ihn als erfolgreichen Angler mit einem erbeuteten Hai zeigte. Das hätte er besser unterlassen. Die «Limmattaler Zeitung» fasst das Geschehen kurz und bündig zusammen: CVP-Politiker spricht über seinen Fang und das Protzfoto: ‘Ich war mir der Tragweite nicht bewusst’.

Der SVP-Nationalrat Andreas Glarner beleidigte via Facebook zwei Frauen mit einem abschätzigen Kommentar zu deren Profilbild («Ich verstehe irgendwie schon, warum sie links und feministisch sind»). Auch er erntete einen Shit-Sturm ünd musste seinen Facebook-Account vorübergehend schliessen. Oder man kann sich an Geri Müller, den Stadtpräsidenten von Baden erinnern, über den nach seiner «Nackt-Selfie-Affäre» ein wochenlanger Sturm hereingebrochen war. Zwar musste seine Chat-Partnerin am Schluss dem Grünen-Politiker eine Entschädigung von 16’000 Franken bezahlen. Aber das wiegt den Schaden bei weitem nicht auf, den ihm die ganze Affäre bescherte.

Wie Unternehmen ins Gewitter eines Sturmes geraten können, zeigt das Beispiel der Firma «Mammut». Der Outdoor-Spezialist, der stets sein ökologisches Image betonte («Mammut lebt von und für die Natur»), schien unglaubwürdig zu werden, als auf Facebook eine Meldung zu kursieren begann, wonach die Firma sich im Internet gegen das CO2-Gesetz gestellt habe: Mammut macht auf öko und agitiert gegen das CO2-Gesetz: Sag ihnen deine Meinung.
Der US-amerikanische Sportartikel-Hersteller «New Balance» trat mit einem positiven Kommentar zu Donald Trump ebenfalls ins Fettnäpfchen. Weil der künftige US-Präsident sich gegen das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP stellt, könnte seine Wahl für «New Balance» ein Vorteil sein, denn das Unternehmen lässt seine Sneaker in Amerika produzieren. In den sozialen Medien erntete «New Balance» jedoch kein Verständnis für diese Haltung: Es wurde zum Boykott der Marke aufgerufen, Schuhe wurden verbrannt und der Slogan «Not my President» in «Not my Sneaker» umgeschrieben.

Appell gegen eine reflexhafte Verurteilung

Doch zurück zum Buch von Jon Ronson. Die vielen dort beschriebenen Fälle belegen das neue Phänomen des Shitstorms eindrücklich. Mit dem Appell an die Leserinnen und Leser seines Buches zieht er daraus die logische Konsequenz: Natürlich wird es immer Leute geben, die genau zwischen den Stühlen landen werden. Das Mindeste, was wir für sie tun können, ist geduldig und neugierig zu sein, statt sie reflexhaft zu verurteilen. Und ertappen wir uns dabei, Menschen auf eine Weise zu demütigen, die ihr eigenes Vergehen bloss wiederholt, sollten bei uns alle Alarmglocken schrillen. Allerdings ist fraglich, ob damit die «Shit-Gewitter» zum Stoppen gebrachte werden können.

Doch es ist verdienstvoll, wenn Ronson darauf hinweist, dass die Kommunikation in den sozialen Medien seine zerstörenden Schattenseiten hat. Auch wenn die meisten nicht ohne Grund in einen solchen Sturm geraten, so gehört der öffentliche Pranger als Strafe zum Schlimmsten, was uns passieren kann.

Jon Ronson, In Shit-Gewittern. Wie wir uns das Leben zur Hölle machen, Stuttgart 2016, Tropen Verlag

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

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