Rechnen Können? Bist du von gestern?
Das ABC und das 1×1 waren, während Jahrhunderten, die Basis des Wissens und Verstehens. Tempi passati, die Zeiten sind definitiv vorbei. Nachrichten muss man nicht mehr lesen können, man erhält sie im Fernsehen in Form von Bildern serviert. Und um im Restaurant die Toilette zu finden, muss man nur noch wissen, dass früher Frauen Röcke trugen. Aber auch Rechnen ist nicht mehr nötig, seit es Taschenrechner gibt. Selbst die Kellnerin muss den Preis der Pizza und den Preis der Cola nicht mehr im Kopf oder auf einem Zettel von Hand zusammenzählen können, das besorgt längst der Kassen-Computer.
Und es ist ja auch kein Zufall, dass Berlusconi als Werbung vor den Wahlen schon vor ein paar Jahren 16 Millionen Gratis-Taschenrechner verteilen liess. Leuten, die 1 und 1 immer noch ohne Taschenrechner zusammenzählen konnten, musste das schnellstens abgewöhnt werden. Wie hätten sie sonst Berlusconi ihre Stimme geben können?
Viele Medien, nicht zuletzt digitale, beginnen sich auf den zunehmenden Neo-Analphabetismus und die bereits weitverbreitete Neo-Dyskalkulie einzustellen. Was schon heute zum Alltag gehört: Man meldet bei einer Person nicht mehr nur das Geburtsjahr, sondern auch das Alter. Ein Beispiel: «Born in the city of Karak in Jordan in 1988, he is 26 years old», schrieb BBC unter das Bild des von den IS-Kriegern abgeschossenen Kampfjet-Piloten Moaz Youssef al-Kasasbeh. Geboren in der Stadt Karak im Jahr 1988; er ist 26 Jahre alt (siehe Bildlegende erste Zeile).
Auch Google hat sich dem Markt angepasst. Barack Obama, «Geboren: 4. August 1961 (Alter 53)», steht da geschrieben (siehe Bild unterste Zeile).
Dafür bemühen sich immer mehr Medien, «Wissen» zu vermitteln, sprich: sie haben als neuste Innovation ein spezielles Ressort «Wissen». Das deutsche Intelligenz-Wochenblatt Die Zeit zum Beispiel erklärt in der Ausgabe vom 23. Dezember unter «Wissen», was es mit den Windeln auf sich hat. Hat ja eben einen aktuellen Bezug, schliesslich war gemäss dem Lukas-Evangelium auch das Christkind in Windeln gewickelt, wie man nun in der Zeit lesen kann.
Auch die Schweiz am Sonntag hat in der letzten Ausgabe auf Seite 46 angekündigt, ab nächstem Sonntag statt einer Kinder- an gleicher Stelle eine Wissen-Seite zu bringen. Vielleicht erfahren wir dann dort endlich, warum ausgerechnet an Weihnachten und an Silvester die Tage kurz und die Nächte lang sind, am 1. August aber, wenn wir auch feuerwerkeln wollen, die Sonne erst so spät untergeht.
Der Zukunftsmarkt: Ich weiss, dass ich nichts weiss
Auch die Informationsplattform watson.ch, die den Ehrgeiz hat, in kürzester Zeit die Nr. 1 der Schweizer Informationsplattformen zu sein (sprich: 20 minuten an Klicks zu überholen), kennt die Rubrik «Wissen». Dort zeigt sie zurzeit, dass auch die Prozentrechnung ein Auslaufmodell ist. Die Zusammensetzung der Weltbevölkerung aus Europäern, Afrikanern, Asiaten und dem Rest, heute und im Jahr 2050, wird nicht mehr, wie es bisher bei diesem Thema üblich war, in Prozenten angegeben, sondern an einem anschaulichen Beispiel aufgezeigt. Wörtlich: «Wenn die Welt heute ein Dorf mit 100 Einwohnern wäre, wären davon 15 Afrikaner, 60 Asiaten und zehn Europäer. Die Zahl der Dorfbewohner würde bis zum Jahr 2050 auf 134 Menschen steigen. Davon wären 33 Afrikaner, 73 Asiaten und zehn Europäer» (siehe Bild ganz oben, und hier zum Artikel; man beachte im grauen Balken über dem Artikel die grün geschriebene Rubrik: Wissen).
Ich freue mich schon darauf, wenn mir meine Bank mitteilt: «Wenn Sie auf Ihrem Konto genau einen Franken haben, werden wir Ihnen am Ende des Jahres als Zins einen Viertelrappen gutschreiben.» Noch meldet sie mir den Zinssatz in Prozent, sie ist überhaupt nicht modern und nicht kundenorientiert…
Einfach ist besser
Aber auch sonst versuchen die Medien, ihre Nachrichten möglichst einfach ans Publikum zu bringen, wenigstens die neuen, die modernen. Während etwa die altehrwürdige NZZ am Montagmorgen vermeldete, auf dem brennenden Fährschiff in der Adria seien immer noch über 300 Menschen, die auf Rettung warteten, vermeldete die Plattform watson.ch in ihrer Headline deutlich einfacher: «Es gibt Probleme bei der Rettung: Vier Schweizer sind immer noch auf der Fähre» (siehe Bild).
Die Formulierung ist massgeschneidert auf watsons Zielpublikum: Wer interessiert sich denn schon für Menschen, die irgendwo in Lebensgefahr sind, wenn es keine Schweizer sind?
Einstein soll einmal gesagt haben: «Der Weltraum und die Dummheit sind grenzenlos. Wobei ich bei ersterem noch nicht so ganz sicher bin.»
Einstein? Ja, Albert Einstein, geboren am 14. März 1879, gestorben am 18. April 1955; er wurde 76 Jahre alt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Deutsch zu “Können“, scheint auch von gestern zu sein.
Nennt mich meinetwegen Kassandra (tochter des königs von Troja, aber das braucht man ja nicht zu wissen), aber die volksverdummung, und damit die manipulation im grossen stil, naht mit riesenschritten….
Ja, genau! Gute Philippika. (Klammer auf: Wissen: Philippika ist, wenn man…. Klammer zu) Hab tüchtig geschmunzelt beim Lesen.
Früher war alles besser – und aus Holz …
Alle paar Jahre wieder die gleiche Debatte: Bildungs-Katastrophenmeldung + Entwarnung durch verfügbare Erhebnungen. Jede Generation meinte an einem Bildungs-Abgrund zu stehen und trotzdem ging es weiter – allerdings anders. Als die Taschenrechner und die Mengenlehre aufkamen. PC und Internet: Lesekiller? auch hier Entwarnung. Der Illetrismus oder die Diskalkulie gibt es bei einer verschwindenden Minderheit, die keinen Platz auf dem Arbeitsmarkt findet. 95% aller Schüler (das sind erheblich mehr als vor 50 Jahren) sind heute viel besser ausgebildet als je zuvor und die Schweiz machte bei PISA in Mathematik sehr gute Figur. Die Serviertochter mit Taschenrechner ist eine Urban-Legend..
Wo Hr.Müller allerdings recht haben könnte: überall wird an Lektoren und Korrektoren in Verlagen und Redaktionen gespart und viele Texte werden in schlampigen Rohfassungen ins Internet gestellt oder abgedruckt, die Kontrollen fallen weg. Bald haben wir eine NZZ im SMS-Stil, wenn es überhaupt noch eine NZZ als Leitmedium wie heute geben wird. Die Medienlandschaft hat sich erheblich verändert. Da liegt der Hase im Pfeffer.
In meiner Jugend wollte man uns vor schlechter Lektüre schützen und erfand die SJW Hefte.
In den 30er Jahren wollte der Bund durch das Zurvefügung Stellen von Telephonanschlüssen in Primarschulen das «Telephonieren-Lernen» einführen: der Plan sollte bis in die 70er Jahre dauern¨!
Jean-Pierre Meylan, j.p.meylan@me.com
Guter Inhalt, gut geschrieben. Hoffentlich liest das auch Jürg Meier, bevor er uns mit seinem Schrubelstil wiederum belastet.