ZEIT_Ewiges_Leben_Web

Immer öfter Ego-Themen auf dem Cover: DIE ZEIT © zeit.de

Spinnen wir eigentlich alle?

Christian Müller /  Immer mehr Zeitungen und Magazine verkaufen sich mit Psychologie-Themen. Die Masche zieht. Sind wir alle so unsicher geworden?

Nein, nicht schon wieder! Ich ziehe DIE ZEIT aus dem Postfach, und wieder fordert mich ein riesiges Fotomontage-Poster auf, Neues über meine eigene Seele, über meine Psyche, zu erfahren. Muss ich wirklich all den «wissenschaftlichen» Shit lesen, bis ich wirklich selber wahnsinnig bin?

«Der Traum vom ewigen Leben. Nicht alle glauben an die Auferstehung. Wie die Menschen trotzdem versuchen, die eigene Endlichkeit zu überwinden.» So die Frontseite der deutschen Wochenzeitung DIE ZEIT irgend einmal im März dieses Jahres, siehe Bild oben. Muss ich mich tatsächlich damit beschäftigen, wie andere Leute ihre Endlichkeit «überwinden» wollen, frage ich mich. Ich selber habe das Problem mit meiner «Endlichkeit» nicht. Irgend einmal ist halt Schluss. Soll ich das «Dossier» mit vier oder fünf riesigen ZEIT-Seiten zu diesem Thema also wirklich lesen?

Eine Woche später, wieder auf der Frontseite: «Woher kommt Vertrauen? Gerade in unsicheren Zeiten brauchen Menschen dieses Urgefühl. Verantwortlich dafür ist ein Hormon. Man kann es sich sogar in die Nase sprühen. Was dann passiert, ist so verheissungsvoll wie verstörend.» So der Text auf der Frontpage. Mag ja interessant sein, dass Leute sich das Vertrauen in die Nase sprayen. Ich werde das sicher nie tun. Wenn schon, dann habe ich eher zu viel Vertrauen in Andere, bin mit (zu) viel Vertrauen zumindest auch schon auf die Nase gefallen. Etwa, als ich einem Touristen mit fünfköpfiger Familie auf einer Autobahn-Raststätte 200 Euros gab, damit er sich Sprit für die Heimfahrt kaufen konnte, nachdem ihm, wie er mir klagte, sein Portemonnaie mit allen Kredit-Karten geklaut worden war. Er werde mir das Geld unverzüglich zurückschicken, versprach er – und hat es dann halt doch nie getan. Aber soll ich eine ZEIT mit hundert überdimensionierten Seiten kaufen, weil sie mir vorne gross verrät, dass man sich jetzt Vertrauen in die Nase sprayen kann?

Aber es waren keine Ausnahmen, diese ZEIT-Ausgaben. Schon im Februar nämlich hatte DIE ZEIT mir das Thema «Vorurteile» andrehen wollen. «Die Macht der Vorurteile». Klar, Vorurteile gibt es, mehr als genug. Und vielleicht ist es ja auch gut, einmal darüber zu lesen. Im Blatt vielleicht auf Seite 23 oder 24. Falls mich das Thema dann wirklich interessiert, weil ich vielleicht feststelle, dass auch ich Vorurteile habe, die ich besser nicht hätte, dann gibt’s immer noch den Buchladen – und Hunderte von Büchern, die mir erklären, was ich alles falsch mache…

Im April dann, erneut: «Keine Angst vor Stress. Er gilt als Geissel des modernen Menschen. Doch nun erforscht die Wissenschaft seine positive Seite: Stress hält lebendig, gesund und macht, dass wir über uns selbst hinauswachsen.» Na ja. Stress macht gesund. Wer’s glaubt? Und über mich hinauswachsen muss ich eigentlich auch nicht. Ich bin ja eh schon 1.92.

Und dann im Mai: «Die Kraft der Gedanken»

Und dann im Juli: «Die Zukunft der Liebe»

Und so weiter.
Und so weiter.

Die andere Meinung kennenlernen

Ich habe doch eine Wochenzeitung abonniert, weil ich mich für Politik, für Wirtschaft, für Gesellschaft und Kultur interessiere. Und vor allem damit ich auch an Informationen und an Meinungen komme, die in meiner Tageszeitung keinen Platz finden. Damit ich nicht einäugig werde. Aber jetzt immer diese Psychologie. Will ich das wirklich? Spinne ich vielleicht?

Wer allerdings meint, nur DIE ZEIT versuche, sich mit Stories zur Selbsterkenntnis ein Blatt besser zu verkaufen, der irrt. Viele Sonntagszeitungen tun dasselbe, wenn auch noch nicht so aufdringlich. Getreu der Devise: Wenn du am Sonntag nichts zu tun hast, dann beschäftige dich doch einfach mit dir selbst. Auch du bist ja sicher ein Narziss.

Auch die Zeitschriften

Und natürlich, nicht nur die Wochenzeitungen, auch die Zeitschriften haben diese Masche entdeckt. Zum Beispiel auch DER SPIEGEL. Schlagzeile irgend einmal im Juni: «Ich liebe mich!»

Wobei es hier wenigstens um den Nazissmus der Politiker ging, nicht um den meinen. Das gleiche Thema also, aber raffinierter verpackt halt.

Die Masche zieht

Dass immer mehr Wochenzeitungen und Zeitschriften auf Psychologie machen und damit den Ego-Trip ihrer Leserinnen und Leser bedienen, ist kein Zufall. Sie alle wissen ja, welche Ausgaben an den Kiosken sich gut verkauft haben. Und wenn sich so eine Psycho-Schlagzeile gut verkauft, dann macht man das eben wieder. Und wieder. Und wieder.

Ein Spiegel der Gesellschaft

Dass diese Themen ziehen, ist ein Spiegel der Gesellschaft. Der kleine Mann, die kleine Frau, sie kaufen sich einen Stick, auf dem sie ihr Smartphone befestigen, um sich selber in Luzern vor der Kapellbrücke oder auf der Kleinen Scheidegg vor der Eiger-Nordwand ablichten zu können. Und um das Selfie dann – als «Zeitdokument» – in der gleichen Minute rund um die Welt fliegen zu lassen.

Und was tut die Intelligenz? Sie abonniert oder kauft sich eine grosse und gescheite Zeitung – um darin dann vor allem über sich selbst zu lesen…

Sich mit sich selbst zu beschäftigen, scheint, zumindest in den Wohlstandsländern, das absolut Wichtigste geworden zu sein. Das haben, wen wundert’s, mittlerweile auch deren Medien gemerkt.

Nachtrag vom 25. August 2016:

He, Männer, begreift Ihr endlich, dass Ihr alle spinnt?

Nachtrag vom Sonntag, 4. September 2016:

Und womit wirbt jetzt die NZZ am Sonntag? Man darf dreimal raten: mit Sex! «Die schönste Nebensache der Welt. Die 7-teilige Serie zum Thema Sexualität. … Verpassen Sie nichts und bestellen Sie jetzt … «

Nachtrag vom 8. September 2016:

Und ob es Sex oder Liebe genannt wird, Probleme damit haben eh alle …


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

Zum Infosperber-Dossier:

Business_News_Ausgeschnitten

Medien: Trends und Abhängigkeiten

Konzerne und Milliardäre mischen immer mehr mit. – Die Rolle, die Facebook, Twitter, Google+ spielen können

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

5 Meinungen

  • am 17.08.2016 um 14:24 Uhr
    Permalink

    Eine hübsche Pirouette drehen Sie da, Herr Müller. Ich benutze mal Ihren Satz aus dem ersten Abschnitt und drehe ihn um: Muss ich wirklich all den Shit lesen, den Sie da über weiß der Himmel was schreiben? Oder ernsthafter: In unserem Kopf spielen sich eine Menge noch (und wohl noch lange) unerklärter Dinge ab. Was soll falsch daran sein, sich dafür zu interessieren? Natürlich schreiben Medien über Dinge, die die Leute lesen wollen – das ist ja bei Themen aus Politik und Wirtschaft nicht anders. Dass Sie nicht so ganz implizit behaupten, man spinne, wenn man sich für psychische Vorgänge interessiert, finde ich ein starkes Stück (oder ist es ein sehr veraltetes Stück?). Dass Sie daraus einen Artikel machen … nun ja, man schreibt, wenn man hofft, dass andere es lesen, das sind ja Ihre eigenen Worte. Aber noch grundsätzlicher: Wer sagt denn, dass Sie lesen MÜSSEN, was irgendwo steht? Ich finde es spannend, mich darüber zu orientieren, was hinter der Selfie-Manie steckt, zum Beispiel. Warum MÜSSEN Sie denn jetzt daraus ein Wort-Selfie machen? Bitte lassen Sie es doch.

  • am 17.08.2016 um 16:36 Uhr
    Permalink

    Christian Müller kritisiert, dass immer mehr Zeitungen und Magazine sich mit Psychologie-Themen verkaufen. Ich finde es jedoch gut, dass sich Zeitungen und Magazine mit psychologischen Fragen beschäftigen. Diese Zeitungen und Magazine könnten vielleicht auch einmal die Untersuchung der US-Psychologin Frances Shure veröffentlichen. Sie hat sich mit der Frage befasst, warum Menschen Fakten zu den Ereignissen vom 11. September 2001 nicht zur Kenntnis nehmen wollen, Fakten die die ganz 9/11 Osama Bin Laden Verschwörungstheorie der US-Regierung in Frage stellen. Ihre Studie wurde übersetzt und veröffentlicht unter:

    http://www.ae911truth.ch/psychologie.html

    Zu den Wochenzeitungen die kritische Untersuchungen zu den verheerenden Ereignissen vom 11. September 2001 nicht zur Kenntnis nehmen wollen, gehören auch die Verantwortlichen der „Zeit“ und des „Spiegels“. Sie halten an der offiziellen Version der US-Regierung von 9/11 eisern fest. Obwohl: Der frühere Mitarbeiter der Zeit, Mathias Bröckers hat zusammen mit Christian C. Walther, ein faktenreiches Buch zu 9/11 geschrieben hat. „11.9, Zehn Jahre danach. Der Einsturz eines Lügengebäudes“, erschienen im Westend Verlag.

  • am 17.08.2016 um 20:32 Uhr
    Permalink

    Christian Müller frug:

    > Muss ich wirklich all den «wissenschaftlichen» Shit lesen, bis ich wirklich selber wahnsinnig bin?

    Nein, müssen Sie nicht.

    Nichts zu danken.

  • am 18.08.2016 um 08:04 Uhr
    Permalink

    Die Masche zieht. Sind wir alle so unsicher geworden? meint Herr Müller.
    Hoffentlich! sind wir unsicher geworden, ob den die Gewinnoptimierung allein im monetären Bereich unser Leben qualitativ verbessert.
    Es ist ihm wahrscheinlich entgangen, dass die ganze Neurowissenschaft bis heute nicht weiss wo das Bewusstsein des Menschen sich «versteckt». Solange dieses schwarze Loch der Psyche noch nicht ausgeleuchtet ist, ist jede Bemühung der Medien (und sei es nur zur Gewinnoptimierung), sich mit der Psyche des Menschen zu befassen zu begrüssen. Das finde ich jedenfalls weitaus interessanter als jeden Tag tonnenweise Papier mit solchem Schwachsinn wie z.B. Börsenkurse zu bedrucken.

  • am 9.03.2020 um 12:19 Uhr
    Permalink

    Ich kann die Abneigung des Autors sehr gut nachempfinden: Die oben vorgestellte Themenauswahl finde ich nicht nur todlangweilig, auch verbinde ich diese Themen mit Menschen, bei denen in erster Linie sich alles um sich selbst dreht – was mir persönlich äußerst unsympathisch ist. Aber Herr Schwob und Herr Kaufmann haben natürlich Recht. Man muss all das ja nicht lesen (genauso wie man den Beitrag von Herrn Müller ja auch nicht lesen muss), und genau das tue ich auch nicht. Es gibt andere Publikationen, die genau das bringen, was mich interessiert: Hintergrundjournalismus zu Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

    Übrigens richtet sich meine Abneigung nicht grundsätzlich gegen Themen aus dem Bereich Psychologie. Die vom Herrn Frei angesprochene Thematik, oder die von Rainer Mausfeld beleuchteten Mechanismen des Meinungs- und Empörungsmanagements sind aber etwas ganz anderes als die oben präsentierten Lifestyle Themen aus der Wohlfühlblase. Wobei Deutschland hier den USA ziemlich hinterherhinken. Charles Taylor sprach diesbezüglich von der «Kultur des Narzissmus». (Was insbesondere aber auch die liberalen Exzesse der hedonistischen Selbstverwirklichung adressiert.) Und so kennt die US-amerikanische «Erzählung» des urbanen Bürgertums insbesondere drei Helden: Den erfolgreichen Unternehmer, den erfolgreichen Anwalt und den erfolgreichen Psychologen.

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...