Lokalmedien: US-Konsumenten wollen einen anderen Journalismus
«Das ist doch Mist», schimpft mein Bekannter. «Was wirklich wichtig ist, steht fast nie in der Zeitung.» Meckern über «die Medien» ist zwar ein beliebter Zeitvertreib, aber er hat einen Punkt. Seit Wochen versucht er, Informationen zum geplanten Anschluss seines Stadtteils an das Fernwärmenetz zu bekommen. Bisher vergeblich.
Der Bekannte wohnt im süddeutschen Stuttgart. Dort gibt es im Wesentlichen die «Stuttgarter Zeitung» und die «Stuttgarter Nachrichten», beides Regionalzeitungen mit überregionalem Anspruch. 2016 wurden sie zusammengelegt, behielten aber eigenständige Redaktionen. «Das ist im Grunde dieselbe Zeitung», sagt er – einigen Bernern dürfte das bekannt vorkommen. Die Lokalberichterstattung jedenfalls sei seither merklich schlechter geworden.
Von der Stadtplanung bis zur Bushaltestelle
Er habe mehrmals erlebt, dass stadtplanerische Vorhaben erst an die Öffentlichkeit gelangten, als das Thema durch Bürgerinitiativen und Einsprachen schon eskaliert war. Vorab-Informationen habe es zwar gegeben. Die Pressemeldungen der städtischen Stellen jedoch hatte niemand gelesen, die Medien hatten das Thema nicht aufgegriffen.
«Ich will wissen, was in meinem Viertel passiert», sagt er frustriert. «Und wenn es nur darum geht, dass die Bushaltestelle für ein paar Wochen verlegt wird.»
Ansprüche von Medienkonsument:innen sind erstaunlich einheitlich
Der Stuttgarter ist mit seinem Anspruch nicht allein, nicht einmal in Deutschland. Das American Journalism Project (AJP), das sich mit der Reform der Lokalmedien in den USA beschäftigt, hat eine Umfrage dazu durchgeführt, warum Menschen Lokalmedien konsumieren und was sie darin lesen, sehen und hören möchten. Das AJP versucht, nicht-profitorientierte lokale Medien aufzubauen, geht Partnerschaften mit Lokalmedien ein und vergibt Fördergelder.
Bei der Umfrage ging es aber für einmal nicht um Finanzierung, sondern um Inhalte. 5000 Personen aus den gesamten USA stellten dar, was sie von einem Lokalmedium erwarten und wie sie die Medien beurteilen, die es in ihrer Gegend gibt.
Die Ergebnisse seien erstaunlich einheitlich, schreibt das AJP. Sehe man davon ab, dass sich Prioritäten in unterschiedlichen Gegenden unterscheiden und Konsument:innen «ihr» Lokalmedium mehr oder weniger schätzen und unterschiedlich häufig nutzen, glichen sich grundlegende Aussagen.
Gefragt hatte das AJP auf allen möglichen Kanälen. Über 100 «Community Ambassadors» holten über Telefoninterviews, Fokusgruppen, SMS-Umfragen und Social Media Stellungnahmen ein. Das AJP weist darauf hin, dass die Studie wegen dieser Herangehensweise nicht repräsentativ ist.
An erster Stelle: hyper-lokal, zugänglich, vertrauenswürdig, neutral
Wenig überraschend wollen alle Befragten gute oder mehr Lokalnachrichten. Und die klassischen Prioritäten gelten weiter. Den meisten Menschen ist die Rolle, die Medien in ihrer Community spielen oder spielen sollten, durchaus bekannt. Sie haben eine dezidierte Meinung dazu, was sie leisten sollen.
Am wichtigsten ist ihnen die räumliche und soziale Nähe des Gesagten, an zweiter Stelle steht die Vertrauenswürdigkeit und Zugänglichkeit der Quelle. Mit einer Einschränkung – nämlich nur dann, wenn Nachrichten auch wirklich lokal sind. Medien, die aus wirtschaftlichen oder personellen Gründen grosse Gebiete abdecken müssen, kommen demnach nicht gut an.
«Dass wir Mexikaner oder Latinos sind, bedeutet nicht, dass wir informiert werden wollen, was in unseren Heimatländern passiert. Ich interessiere mich für das, was in meiner Gemeinde hier geschieht», sagt jemand aus Los Angeles in einem Interview, das auf Spanisch geführt wurde.
Auf Nachrichten in ihren Sprachen legen fremdsprachige Gemeinschaften in den USA dabei weniger Wert als auf vertrauenswürdige und umfassende News. Den Aufwand, Inhalte in verschiedene Sprachen zu übersetzen, könnte manches Medium also in eine bessere Abdeckung investieren.
Dabei geht es wortwörtlich um die Bushaltestelle vor dem Haus. Was am anderen Ende der Stadt passiert, interessiert oft wenig. Entferntere Quartiere in grösseren Städten werden nicht als lokal wahrgenommen, fand das AJP.
Lokalmedium – oft gesucht und nicht gefunden
Viele Befragte beklagten die grosse Menge an Fehlinformationen, der sie täglich ausgesetzt sind. Sie wünschten sich vor allem eine vertrauenswürdige Quelle, die viele Menschen in ihrem Umfeld kennen und auf die sie Bezug nehmen können. In Gegenden mit starker Polarisierung, wie in Kansas, Texas und Ohio, legen sie ausserdem grossen Wert auf Neutralität.
Einige Informationsquellen sind den Befragten dabei völlig unbekannt oder schwer zugänglich. Das kann am Bekanntheitsgrad liegen, an der Art der Aufbereitung, am Kanal oder an der Art des Zugangs, der vielleicht durch eine Paywall erschwert wird.
Viele Teilnehmende sagten, sie hätten keine Ahnung, wo sie nachsehen sollten, wenn in der Nachbarschaft etwas passiere. «Wenn bei mir die Zombie-Apokalypse ausbräche, würde ich wahrscheinlich zu spät davon erfahren», schreibt jemand aus Fort Wayne, Indiana, in einer SMS-Umfrage.
Helikopter-Journalismus in der Kritik
Vor allem Einwohner weniger wohlhabender Quartiere empfinden die Berichterstattung in ihrem Umfeld als ungenügend. Medienvertreter:innen liessen sich oft nur blicken, wenn ein spektakuläres Verbrechen geschehe, sagen sie.
Befragte in den gesamten USA finden, dass Medien ein unausgeglichenes, unvollständiges und negatives Bild ihrer Gemeinschaft zeichnen, wenig einfühlsam vorgehen und den falschen Fokus setzen. Sie beklagen zudem, dass Medien einer Sache nicht mehr nachgingen, wenn sie keine grosse Geschichte mehr ist. Zum Beispiel, wenn es um verschwundene Personen geht.
«Die Leute vergessen, dass hier Menschen leben. Dass Leute hier zur Arbeit oder zur Schule gehen und was sie sonst machen, zeigen sie [die Medien] nicht», sagt eine Person aus der Obdachlosensiedlung Skid Row in Los Angeles.
Nützliche Informationen statt negativer Schlagzeilen
Informationen sollten so aufbereitet sein, dass man danach handeln kann. Wenn schon Kriminalität, bevorzugen die Konsument:innen statt blutiger Details und knalliger Titel beispielsweise Informationen, wie sie sich besser schützen können, resümiert das AJP.
Mehr Präsenz wünschen sich viele auch in anderen Bereichen. Viele politische Entscheide in seiner Gegend geschähen «hinter verschlossenen Türen», sagt jemand aus Houston, Texas. Das sei vielleicht einfacher für die Behörden, die Einwohner aber wollten informiert werden, noch bevor etwas beschlossene Sache sei.
«Kommt öfter mal vorbei»
Medienvertreter:innen sollen demnach nicht nur Entscheidungen kommunizieren, sondern zu Sitzungen gehen, öffentliche Erklärungen hinterfragen und durch ihre Arbeit Transparenz erzwingen.
Journalistinnen und Journalisten kämen nicht nur generell zu selten vorbei, so der Tenor. Sie kennen sich in den Gemeinschaften, über die sie berichten, oft nicht aus und fragen immer dieselben Quellen an, die dadurch überrepräsentiert sind.
«Werdet aktiv und repräsentiert uns»
Viele Befragte sehen sich selbst auch nicht als passive News-Konsumenten. Sie möchten nicht nur gefragt, sondern auch repräsentiert werden. Von den Medien verlangen sie, dass ihre Fragen öffentlich gestellt und beantwortet werden und dass ihre Perspektive angemessen berücksichtigt wird.
Unabhängig davon, ob sie ihre lokalen Medien positiv oder negativ wahrnehmen, wollen sie, dass Journalist:innen aktiv werden, «wenn der Abfall bei uns nicht abgeholt wird». Oder am besten schon, wenn sich das abzeichnet.
Der kürzeste Weg gewinnt
Die gute Nachricht also: Lokaljournalismus wird nach wie vor dringend gebraucht. Die schlechte: Obwohl Inhalte den Befragten bei weitem am wichtigsten sind, hängt es vom Kanal ab, ob Lokalmedien die Menschen erreichen. Nur wenige suchen aktiv nach Lokalnachrichten.
Nur wer E-Mail, TikTok, Whatsapp oder Facebook ohnehin nutzt, konsumiert auch Nachrichten in «seinem» Kanal. Die Mühe, woanders nachzusehen, machen sich die meisten nicht.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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