Kommentar

Schafft die Karikaturisten ab

Rainer Stadler © zvg

Rainer Stadler /  Die Zeitung «Le Monde» distanziert sich von ihrem langjährigen Karikaturisten - kein gutes Zeichen für dieses Genre der Zeitkritik.

In Frankreich hat es erneut Ärger gegeben wegen einer Karikatur. Vor einer Woche publizierte die Zeitung «Le Monde» in ihrem Newsletter (52 000 Abonnenten) eine Zeichnung ihres langjährigen Mitarbeiters Xavier Gorce. Diese greift den derzeitigen Skandal um einen Inzestfall auf. Anstoss erregte dabei nicht das Dargestellte, sondern der Dialog zwischen zwei Pinguinen. Da fragt der Kleine den Grossen: «Wenn ich vom adoptierten Halbbruder der Gefährtin meines Transgender-Vaters, der jetzt meine Mutter ist, missbraucht worden wäre, wäre das dann ein Inzest?»

Dazu muss man wissen: Gemäss dem französischen Strafgesetz setzt ein Inzest nicht zwingend eine Blutsverwandtschaft voraus. Ein solcher liegt auch vor, wenn ein sexueller Übergriff durch eine Person erfolgt, welche eine Beziehung mit einem Blutsverwandten des Opfers hat. Im Skandal, der jetzt die französische Öffentlichkeit bewegt, geht es darum, dass die Anwältin Camille Kouchner in einem Buch ihrem berühmten Stiefvater Olivier Duhamel vorwirft, ihren Zwillingsbruder missbraucht zu haben, als dieser noch minderjährig gewesen sei.

Frivolitäten in Frankreich

Einige Angehörige der französischen Elite hatten lange Zeit eine ziemlich frivole Einstellung zum Sex mit Minderjährigen. Doch die Zeiten ändern sich im Zeichen von «Me too» auch im westlichen Nachbarland. Das hatte der Alt-Intellektuelle Alain Finkielkraut noch nicht bemerkt, der in einer Diskussionssendung die unschöne Aktualität salopp kommentierte, worauf ihn der Sender LCI entliess.

Auf diese Vorfälle hatte sich der Karikaturist Xavier Gorce bezogen. Seine Zuspitzung löste in Teilen der Leserschaft heftigen Protest aus. Darauf hin entschuldigte sich die neue Chefredaktorin von «Le Monde», Caroline Monnot. Warum? Weil die Karikatur als Relativierung von Inzest interpretiert und weil ihr Text von Opfern und Transgender-Personen als deplatziert wahrgenommen werden könnten. So notierte es Monnot. Gorce liess sich das nicht gefallen und kündigte sogleich.

Klima der Intoleranz

Man kann lange darüber diskutieren, was eine treffende Karikatur ist. Aus den Worten von Gorce kann man jedoch nicht herauslesen, dass sexueller Missbrauch eine harmlose Angelegenheit wäre. Vielmehr erlaubt sich der Karikaturist eine ironische Bemerkung zu Zeitverhältnissen, die auch dank dem medizinischen Fortschritt die alte duale Geschlechterordnung durcheinanderbringen. Man mag das als allzu leichtfüssige Bemerkung zu einem gravierenden Vorfall empfinden. Wenn damit aber bereits die Grenzen der Satirefreiheit und des Tolerierbaren überschritten sind, wird es eng im publizistischen Kosmos.

Nachdem in Frankreich die deftigen Karikaturen von «Charlie Hebdo», die Angehörigen des muslimischen Glaubens einiges zumuten, zu Recht im Sinn der Medienfreiheit verteidigt worden sind, erscheint die Reaktion von «Le Monde» sehr mutlos. In diesem Sinne gerät die vielzitierte Tucholsky-Proklamation «Satire darf alles» ihrerseits zur Satire.

So konsequent wie mutlos

Der Fall erinnert an die «Süddeutsche Zeitung», die vor zwei Jahren nach Protesten wegen angeblichem Antisemitismus voreilig zurückkrebste und ihren langjährigen Karikaturisten vor die Türe setzte. Wenn Redaktionen sich so schwach verhalten, sind die Voraussetzungen für Karikaturisten nicht mehr gewährleistet. Um sich Ärger mit dem Publikum zu ersparen, beschloss denn auch die «New York Times» im Juni 2019, keine Karikaturisten mehr für ihre internationale Ausgabe zu beschäftigen. Sie entliess Patrick Chappatte und Heng Kim Song. Diese Entscheidung ist zumindest konsequent. Aber ein tristes Zeichen für die satirische Ausdrucksfreiheit – und das Selbstvertrauen von alteingesessenen Zeitungsredaktionen.

Gorce kommentierte den Vorfall in einer neuen Karikatur. Ein Pinguin fragt den anderen: «Haben Sie bereits einen Humor-Pass?»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

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Eine Meinung zu

  • am 26.01.2021 um 17:54 Uhr
    Permalink

    Habe mir die zweite Pinguin-Karikatur gleich angesehen. Dort steht «passeport sanitaire d’humour». Das könnte man auf Deutsch vielleicht als Humor-Hygienepass oder Humor-Unbedenklichkeitspass übersetzen. Und um das geht es wohl in dieser Geschichte: um hygienischen Humor. Der «passeport sanitaire» ist momentan in Frankreich offenbar wegen COVID-19 im Gespräch. Da wollte Xavier Groce vermutlich gleich zwei Fliegen auf einen Schlag treffen …

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