Sperberauge

SBB-Überwachung: Angeblich nur ein «Missverständnis»

Marco Diener © zvg

Marco Diener /  Erstaunliche Tamedia-Interviews: Die SBB-Chefs Ducrot und Ribar stellen Behauptungen auf. Die Journalistinnen fragen kaum nach.

Mitte Februar deckte es die Konsumentenzeitschrift K-Tipp auf: «SBB bespitzeln Passagiere bald auf Schritt und Tritt.» Der Grund: Die SBB hatten eine Ausschreibung für ein Überwachungssystem in ihren Bahnhöfen publiziert.

Vom künftigen Lieferanten verlangten die SBB, dass er eine «eindeutige Identifikation der Person (Person-ID) während des gesamten Aufenthalts im Bahnhof» ermögliche. Laut Experten ist das nur mit biometrischen Daten möglich.

«Die Abschöpfungsrate» erhöhen

In der Ausschreibung stand auch: «Durch die Verknüpfung der Personenbewegungsdaten mit Daten aus anderen Quellen, wie Fahrgastdaten, kann Auskunft über das Verhalten von Bahnhofsbesuchen gegeben werden.» Die Erkenntnisse wollten die SBB unter anderem dazu nutzen, «die Abschöpfungsrate» pro Reisenden zu erhöhen. Denn die Läden müssen den SBB mehr Miete zahlen, wenn sie mehr Umsatz erzielen.

Inzwischen sind die SBB ein Stück weit zurückgerudert. Alter, Geschlecht und Grösse der Passanten wollen sie nicht mehr erfassen, wie sie in einer Medienmitteilung schreiben. Die SBB wollen nach eigenen Angaben plötzlich nur noch «die Personenflüsse in den Bahnhöfen besser kennen, um die Bahnhöfe für Reisende und Kunden so sicher und so angenehm wie möglich zu gestalten».

Sehr pfleglich

Nun gewährte SBB-Chef Vincent Ducrot den Tamedia-Zeitungen ein Interview (Paywall). Das Interview liess die Leser aber über weite Strecken ratlos zurück. Zum einen, weil Ducrot wenig glaubwürdig wirkt, zum anderen, weil die Journalistinnen sehr pfleglich mit ihm umgehen.

SBB Chef Vincent Ducrot
Die Überwachungspläne der SBB: Alles nur ein «Missverständnis» – behauptet jedenfalls SBB-Chef Vincent Ducrot.

Einleitend behauptet Ducrot: «Wir hatten nie die Absicht, Kunden zu überwachen. Wir haben den Nutzen des Kundenfrequenzsystems in der Konzernleitung sehr genau angeschaut, lange diskutiert, was wir genau wollen, und nun einen Entscheid getroffen.»

Tamedia: Diese Diskussionen haben Sie ja hoffentlich schon vorher geführt. Wie kann es sein, dass die SBB ein System ausschreiben, das so viele Missverständnisse beinhaltet?

Vincent Ducrot: Wissen Sie, die SBB machen Hunderte Ausschreibungen im Jahr. Da sind Projektteams und zum Teil auch externe Firmen involviert. Da können Missverständnisse vorkommen.

Infosperber wundert sich: Warum sprechen die Journalistinnen von «Missverständnissen»? Wenn die SBB in der Ausschreibung schreiben, dass sie «die Abschöpfungsrate» erhöhen wollen, dann ist das überhaupt nicht missverständlich.

Und Ducrot? Ist es ihm ernst damit, dass niemand genau hinschaut, weil die SBB «Hunderte von Ausschreibungen im Jahr machen»?

Tamedia: Warum brauchen die SBB überhaupt Informationen über Kundenbewegungen, um die Umsätze zu steigern? Es läuft doch gut bei den Immobilien, der Mietertrag ist letztes Jahr gestiegen.

Vincent Ducrot: Es geht nicht um die Umsätze. Unsere Immobilienabteilung ist nicht nur für die Läden zuständig. Sondern auch für Rampen oder Unterführungen. Uns geht es darum, diese an den Bahnhöfen ideal zu dimensionieren und zu positionieren.

Infosperber fragt sich: Wie kommt Ducrot zur Behauptung, es gehe gar nicht um die Umsätze? Genau das stand ja in der Ausschreibung. Zum Glück haken die Journalistinnen diesmal nach.

Tamedia: In der Ausschreibung war klar von einer «höchstmöglichen Abschöpfung der Shop-Passanten» die Rede.

Vincent Ducrot: Das war keine gute Formulierung, das gebe ich zu.

Infosperber ist überrascht: Das soll keine gute Formulierung gewesen sein? Sie ist völlig klar. Eine solche Formulierung rutscht nicht einfach so in eine Ausschreibung. Das war Absicht. So sehen es möglicherweise auch die beiden Journalistinnen. Aber sie stellen Ducrot leider nicht zur Rede.

Tamedia: Hatte das Konsequenzen? Arbeitet der Angestellte, der diese Ausschreibung verantwortet, noch bei den SBB?

Vincent Ducrot: Ja, er arbeitet noch bei uns und lernt aus den Fehlern. Das Team war nicht genügend aufmerksam, das Management dieser Einheit ebenfalls nicht. Jeder darf bei uns Fehler machen, aber das soll nicht mehr vorkommen.

Infosperber wundert sich: Warum soll der Angestellte entlassen werden? Er wird ja bloss die Anweisungen aus der Chefetage ausgeführt haben. Erst auf öffentlichen Druck hin hat sie ihre Pläne revidiert. Nachträglich! Oder in den Worten von Vincent Ducrot: «Wir haben auch gelernt, dass es ein sensibles Thema ist und dass Befürchtungen in der Bevölkerung da sind. Diese Ängste hatten wir nicht genügend berücksichtigt, das nehmen wir auf uns.»

Warum fragen die Journalistinnen — wenn schon — nicht, welches Konzernleitungsmitglied zurücktrete? Der Mut fehlte den beiden Journalistinnen auch ein paar Tage später, als sie SBB-Verwaltungsratspräsidentin Monika Ribar zu den Plänen befragten (Paywall). Ribar sagt: «Anfangs kam es ja so rüber, als ob wir Überwachungskameras installieren möchten.»

Tamedia: Was wollen Sie denn?

Monika Ribar: Wir möchten die Frequenzen messen. Ich habe wie alle anderen auch meine Trampelpfade am Bahnhof Zürich und nehme den subjektiv besten Weg, der objektiv nicht der beste Weg zu sein braucht. Wir können die Kunden zwar nicht zwingen, bestimmte Wege zu nehmen. Das System kann uns aber helfen, zu beurteilen, wo beispielsweise Sitzmöglichkeiten am Bahnhof Sinn machen – und wo sie stören. So können wir Bahnhöfe sicher und kundenfreundlich gestalten. Das wurde zuerst falsch verstanden.

Infosperber empfiehlt: Gehen Sie doch mit offenen Augen durch den Bahnhof Zürich, Frau Ribar! Sie werden sofort sehen, wo Sitzmöglichkeiten fehlen. Auch ohne Überwachungssystem.

Tamedia: Das heisst, die SBB haben es falsch vermittelt.

SBB Verwaltungsratspräsidentin Monika Ribar
«Falsch interpretiert», findet SBB-Verwaltungsratspräsidentin Monika Ribar.

Monika Ribar: Man kann auch sagen, es ist falsch interpretiert worden. Sie können ja die Ausschreibung lesen, da stand weder etwas von Kameras drin noch von Überwachung …

Tamedia: … aber von einer «höchstmöglichen Abschöpfung der Shop-Passanten».

Monika Ribar: Ja, das war extrem ungeschickt formuliert. Aber ich sehe es anders: Unsere Kundinnen und Kunden, die Shops in Bahnhöfen betreiben, wollen dort sein, wo die Leute vorbeigehen, und nicht in irgendeiner Ecke. Ihnen hilft es also auch.

Infosperber stellt klar: Das ist nicht einfach «ungeschickt formuliert». Den SBB geht es um den Profit. Das bringt Monika Ribar ja auch zum Ausdruck, wenn sie sagt, das Überwachungssystem helfe auch den Läden.

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Eine Meinung zu

  • am 22.03.2023 um 09:31 Uhr
    Permalink

    Abschöpfungsrate, das neue Wort des Jahres?

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