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Sie tun, was andere zusehends lassen: Christian Zeier vom Recherchebüro Reflekt bei einem Interview. © Reflekt

Recherchebüros: Schritt für Schritt zum Medienunternehmen

Pascal Sigg /  Ein neues Geschäftsmodell belebt den Schweizer Journalismus. Zwei Recherchekollektive etablieren sich gerade trotz Medienkrise.

Am Anfang war vor allem das Feuer. Als sie loslegten, hatten sie kaum Geld, wenig Erfahrung und keine Fans. Heute, ein paar Jahre später, zeigen die Recherchebüros Reflekt und WAV Wege für einen neuen Schweizer Journalismus. Er ist gemeinwohlorientiert, zugänglich, kooperativ und leidenschaftlich.

«Man darf sich nicht in der Kritik am Status quo verlieren», sagt Reto Naegeli über die Medienkrise. Er ist Mitgründer und Genossenschafter beim Recherchekollektiv WAV und sitzt im Sitzungszimmer der WAV-Büros mitten in Zürich. Es ist eigentlich eine Wohnung, günstig gemietet als Zwischennutzung. Bald müssen die WAV-Leute wieder raus. Doch das sieht Naegeli sportlich. Zu viele Hürden hat sein junges Medienunternehmen schon genommen, als dass er sich daran aufreiben würde.

Gratisarbeit, Eigeninitiative und Zusammenarbeit

Vor etwa vier Jahren wälzte eine Gruppe von neun Personen aus Journalismus und Sozialwissenschaften Ideen. Sie wollten ein eigenes Journalismusprojekt gründen und einigten sich irgendwann – auch nach dem Vorbild von Correctiv aus Deutschland – auf das Konzept eines Recherchebüros. Das Medienunternehmen benannten sie nach dem Audiodateiformat, das Aufnahmen unkomprimiert speichert. Wichtig war der klare Fokus auf das Erzählen «ganzer» Geschichten und damit auf Recherche und Hintergrundinfos.

«Wir bildeten bald eine diverse Gruppe. Nur die Hälfte hatte journalistische Erfahrung, aber wir hatten schnell die nötigen Skills, vor allem in der Analyse grosser Datensätze», erinnert sich Naegeli, der Philosophie studiert hat, aber bis zu diesem Zeitpunkt nur gelegentlich für Quartierblätter geschrieben hatte. «Ich habe eigentlich einfach WAV-intern ein Journalismuspraktikum gemacht.»

Denn die Gruppe legte einfach los mit monatelanger Gratisarbeit. Sie beschafften sich 35’000 Franken privater Darlehen, gründeten eine Genossenschaft, mieteten im April 2021 das Büro und stürzten sich auch dank einem Projektbeitrag des JournaFONDS in eine monumentale Analyse von BlackRock, dem grössten Vermögensverwalter der Schweiz, der damals auch die grössten Anteile an UBS und Credit Suisse hielt.

Die WAV-Rechercheur:innen wollten wissen: Was bedeutet es, wenn ein einzelnes Unternehmen einen wesentlichen Anteil einer Volkswirtschaft hält? Oder wenn es gegen aussen Nachhaltigkeit preist, aber Milliarden in fossile Energien pumpt? Die Daten veröffentlichten sie auf einer eigenen Website. In der NZZ am Sonntag publizierten sie einen Artikel über BlackRocks computergesteuertes Risikoanalysetool.

Essenzieller Grössenwahn

Rückblickend bezeichnen die WAV-Leute die Recherche als «anfänglichen Grössenwahn». Doch für Naegeli sind derartige «Spinnereien» essenziell, Projekte, die sie angehen, weil sie ihnen wichtig erscheinen und weil niemand anders sie macht. «Wir wollen aufgreifen, was anderswo liegen bleibt. Dafür nehmen wir auch umständlichere Wege in Kauf.» Ohne grosses Startkapital ausgestattet, haben die WAV-Rechercheur:innen neben der Gratisarbeit vor allem ihre eigenen Lebenskosten so tief wie möglich gehalten.

Das Feuer für den Journalismus scheint sich nun auszuzahlen. «Wenn ich nicht vollkommen davon überzeugt wäre, dass unser Geschäftsmodell in absehbarer Zeit aufgeht, würde ich jetzt nicht hier sitzen», sagt Naegeli. Sie hätten sich auch betriebswirtschaftlich weiterentwickelt.

Dazu gehören: Klare, messbare Ziele. Und drei Märkte, die sie gezielt bearbeiten: 1. Journalistische Recherchen mit und für Schweizer Medien. 2. Recherchen für die Zivilgesellschaft wie das Transparenzprojekt «Das Geld + die Politik» über Parteienfinanzierung. 3. Auftragsrecherchen für NGOs in der Schweiz.

Die WAV-Einnahmen haben sich im letzten Jahr verdoppelt. Und auch die Entwicklung in diesem Jahr stimmt ihn zuversichtlich. Dafür verantwortlich ist auch Sara Lisa Schäubli, die Geschäftsführerin, seit wenigen Tagen im Amt. Sie will den Rechercheur:innen die Rücken freihalten, die Kommunikation stärken und mehr Mittel beschaffen. Dazu gehört gerade jetzt: mehr Mitglieder anwerben, welche die Arbeit von WAV regelmässig unterstützen. Ein zuverlässig finanzierter Sockel würde vieles erleichtern.

Verdientes Glück zum Start

Eine Geschäftsführerin hat seit Kurzem auch Reflekt, das zweite Schweizer Recherchebüro. Im Vergleich zu WAV ist das Berner Team aber einen Schritt weiter. Diesen Sommer feiert es sein fünfjähriges Bestehen. Doch auch Journalist Christian Zeier und seine beiden Mitgründer begannen 2019 als Nobodys mit internationalen Vorbildern wie Correctiv oder Bellingcat. Zeier hatte nach einem Medienwissenschaftsstudium in Freiburg als freischaffender Reporter gearbeitet, spezialisiert auf Auslandsrecherchen. Dabei hatte er bald bemerkt, dass immer weniger Schweizer Medien bereit waren, die aufwändigen Geschichten anständig zu bezahlen.

Zeier und seine damals zwei Kollegen hatten Glück. Zwar ging auch Reflekt in unentgeltliche Vorarbeit, doch die aufwändige Recherche über die Credit-Suisse-Kredite in Moçambique war ein Volltreffer. Das Team gewann einen Swiss Press Award und den Zürcher Journalismuspreis. «Dieser Erfolg hat uns sehr geholfen», sagt Zeier. Das Unternehmen ist massgeblich von Stiftungsgeldern abhängig, welche die Finanzierung sicherstellen. Denn die Verkäufe der Recherchen an Schweizer Medien können die Kosten bei weitem nicht decken. Neben den 210 Stellenprozenten bezahlt Reflekt auch projektbezogen weitere Freischaffende.

Stiftungsgelder, Spenden, Rechercheverkäufe

Wie WAV musste sich Reflekt das eigene Geschäftsmodell über die Jahre erarbeiten. Was funktioniert? Was passt? Im Herbst 2022 führte die Gruppe erfolgreich ein Crowdfunding durch und warb so über 650 Mitglieder an, welche jährlich im Schnitt 100 Franken pro Kopf beisteuern. Für sie machen Zeier und Co. ein gedrucktes Magazin und Events. Johanna Weidtmann, die Geschäftsführerin, strebt einen nachhaltigen Finanzierungsmix aus Mitgliedschaften, Stiftungsgeldern und Verkaufserlösen an: «Wir sehen überall Potenzial.» Die Stiftungslandschaft verändere sich erst langsam und unterstütze gemeinwohlorientierten Journalismus vermehrt. Auch für einzelne, konkrete Rechercheprojekte gebe es immer mehr Möglichkeiten.

Erstmals mit einer Geschäftsführung ausgestattet, fasst Reflekt vorerst eine Konsolidierung ins Auge. «Ende Jahr wollen wir auf sichereren Beinen stehen und angefangene Projekte abgeschlossen haben», so Zeier. Danach sei weiterhin stetige Weiterentwicklung angesagt. So hat sich der inhaltliche Fokus in den letzten Jahren vom Ausland in die Schweiz verschoben. Davon zeugen grosse Recherchen über die Tonnage-Steuer, die JacobsFoundation, Syngenta, oder illegales Glücksspiel. «Wir wollen diese Entwicklung fortsetzen und noch lokalere Arbeit machen, gern auch mit Lokalmedien.»

An Ideen mangelt es auch sonst nicht. Während WAV eigene Publikationen vorerst kategorisch ausschliesst und sich auf die Recherche konzentrieren will, liebäugelt Reflekt mit der Rolle als Medium. «Wir überlegen uns, in Zukunft öfters exklusiv über unsere Kanäle zu publizieren», sagt Zeier. Eine grosse Recherche erscheine bald in Kooperation mit Gülsha Adilji als Youtube- und Instagram-Video.
Unabdingbar ist bei jeder Recherche: Sie gehört der Allgemeinheit und muss für jedermann frei zugänglich sein. Dies ist auch für WAV ein Muss.

Zusammenarbeit ist Zukunft

Die beiden Büros sind keineswegs Rivalen, sondern Partner. «Wir stehen in regelmässigem Austausch», sagt Zeier. Und Reto Naegeli verrät, dass die beiden Recherchebüros demnächst erstmals gemeinsame Sache machen. Sie recherchieren für die Wochenzeitung eine ganze Ausgabe der Magazinbeilage «wobei». Wie Naegeli blickt auch Zeier optimistisch in die Zukunft des Schweizer Journalismus. «Schweizweit passiert gerade sehr viel. Der konzernunabhängige, gemeinwohlorientierte Journalismus wird immer grösser und stärker.»

Die wichtigsten Recherchen

WAV:

Reflekt:


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Pascal Sigg unterstützt WAV und Reflekt mit einer Mitgliedschaft.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

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Pascal Sigg

Pascal Sigg ist Redaktor beim Infosperber und freier Reporter.

Eine Meinung zu

  • am 24.03.2024 um 12:50 Uhr
    Permalink

    Es ist im Grunde die Idee des ‹Outsourcing› für Presseerzeugnisse, welche Journalismus nicht mehr selber machen, sondern diesen extern zukaufen. Das wird vor allem Druck auf die Löhne in der Branche geben. Und ob man davon leben kann, wird sich zwar noch zeigen müssen, aber hoffentlich steigert es die Qualität der Recherchen. Ob diese aber bei Vorbildern wie Bellingcat wirklich besser wird? Wir werden sehen.

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