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«... Er geht in die Badi, wenn es schön ist, oder er macht ein Computerspiel, wenn es regnet.» © Tamedia

Wenn der «SonntagsZeitungs»-Chef Lehrerlis spielt

Jürgmeier /  «Schlechte Noten für ein Schulprojekt»: Nach der «NZZ am Sonntag» gebärdet sich auch die «SonntagsZeitung» als Bildungsexpertin.

Wenn es um Schule geht, dürfen alle mitreden. Weil ja alle einmal zur Schule gegangen sind. Auch der Chefredaktor der SonntagsZeitung. Alle? Nein, die noch aktiven SchülerInnen haben nichts zur aktuellen Bildungspolitik zu sagen. «Gegen den gesunden Menschenverstand – und gegen die Erfahrung», setzt Arthur Rutishauser am 5. Juni 2016 als Titel über sein sonntägliches Editorial. Damit kritisiert er – das sei klargestellt – nicht etwa, dass jene, für die Schule in erster Linie gedacht ist, nicht eingeladen werden, wenn die Lehrpläne 21 bis 96 entwickelt werden, nein, wenn die SonntagsZeitung mit ihrem Chef Lehrerlis spielt und «schlechte Noten für ein Schulprojekt» verteilt, dann ist, diesmal, das «selbstorganisierte Lernen» gemeint.

Selbstorganisiertes Lernen – das ist iPad, Sonnencrème und Warhammer

Weil er selbst einmal Schüler war, weiss Rutishauser – weil er «sich noch erinnern kann, wie er sich selber in diesem Alter verhielt» – was passiert, «wenn man einem Jugendlichen ein iPad in die Hand drückt und ihn selbständig lernen lässt. Er geht in die Badi, wenn es schön ist, oder er macht ein Computerspiel, wenn es regnet». Dank gesundem Menschenverstand und eigener Erfahrung weiss dieser Schüler später als Chefredaktor: Selbstorganisiertes Lernen – das ist iPad, Sonnencrème und Warhammer. Womit das traditionelle Feindbild SchülerIn reinstalliert wäre: Der Mensch, vor allem als Kind & Jugendlicher, lernt nicht aus Neugier, eigenem Interesse und in Freiheit, sondern muss mit Absenzenkontrollen, Bussen sowie den vereinten Kräften des pädagogischen Personals an den Bildungstrog getrieben und da festgebunden werden. Sonst ist nix mit den verzweifelt gesuchten Fachkräften, und die Sonntagszeitungen finden in ein paar Jahren keine Editorial-SchreiberInnen mehr. Weil die … Sie wissen schon.

Nachdem die NZZ am Sonntag im März die schulische Integration für gescheitert erklärt hat – siehe «Schule & Gesellschaft scheitern an der Integration», Infosperber – gibt jetzt die SonntagsZeitung einem anderem Bildungsreform-Projekt ungenügende Noten: Dem selbstorganisierten Lernen SOL. Wollen sie alle zurück zur guten alten Pauker- & Trichter-Schule? «Endlich wagen die Lehrer den Aufstand», jubelt Rutishauser gleich in seinem ersten Satz. «Die Lehrer» – das sind zehn Lehrpersonen aus Niederhasli, die gemäss SonntagsZeitung gekündigt haben, als (oder bevor) «das neue System», SOL, eingeführt wurde. Drei von ihnen haben für die SonntagsZeitung posiert. Und warum sind «die Lehrer» nicht längst aufgestanden – gegen eine Schule, die mehr selektioniert als bildet, die viel Lebenszeit von Kindern, Jugendlichen und Lehrpersonen für äussere Gebärden des Lernens verschwendet?

«Am lebendigen Wesen ausprobiert»

Warum empört sich Arthur Rutishauser darüber, dass Bildungsreformen «am lebendigen Wesen ausprobiert» werden? Wieso beklagt Mary Maissen (eine der zehn LehrerInnen, welche die Schule in Niederhasli verlassen haben): «Mir tun die Schüler leid, sie werden als Versuchskaninchen benutzt.» Unabhängig von der Einschätzung selbstorganisierten Lernens: Wurden & werden Frontalunterricht, Normalverteilung, Strafen aller Art nur an toten Objekten praktiziert? (Wo steht übrigens, es dürfe bei selbstorganisiertem Lernen keine frontalen Unterrichtssequenzen geben?) Wurden didaktische Methoden bisher zuerst an Ratten & Affen getestet? Als Experiment erscheint offensichtlich nur das Neue, das, was den ehemaligen SchülerInnen, inzwischen JournalistInnen oder LehrerInnen, fremd ist.

Da wird, unausgesprochen, unterstellt, das Alte habe sich «am lebendigen Wesen» bewährt und könne, mit gutem Gewissen, weiter erprobt werden. Lernen Kinder & Jugendliche tatsächlich nachhaltig, wenn Lehrer sich auf ihre «eigentliche Aufgabe, nämlich … Lehren» (Rutishauser) konzentrieren? Waren & sind SchülerInnen nicht immer «Versuchskaninchen» von Bildung, den Stärken, Schwächen und Launen ihrer Lehrpersonen «ausgeliefert»? Würde beim selbstorganisierten (oder selbstbestimmten) Lernen nicht sogar weniger «am lebendigen Wesen ausprobiert», weil SchülerInnen beteiligt, vom Objekt der Belehrung zum Subjekt des Lernens würden?

Sozialromantisches Phantom der Selbstverantwortung statt Fordern & Führen

Was SonntagsZeitungs-Chef Arthur Rutishauser, seine Kollegin Nadja Pastega und ihre KronzeugInnen aus Niederhasli kritisieren, ist mehr Zerrbild als Realität. «Die Lehrer geben als ‹Coach› nur noch ab und zu kurze Inputlektionen von rund 30 Minuten, den Rest des Stoffes sollen sich die Schüler in altersdurchmischten Grossgruppen mit dem iPad selber beibringen.» Schreibt die SonntagsZeitung. Sponsert Apple jetzt die Schweizer Volksschule, wenigstens in Niederhasli? Kein SOL ohne iPad? Trottet die SonntagsZeitung neuerdings im Bildungsmarsch der SVP mit? Die diffamiert in ihrem «SVP Lehrplan 2010» das «sozialromantische Phantom der Selbstverantwortung des Schülers» im Lehrplan 21. «Der Lehrer wird umfunktioniert vom für die Bildungsvermittlung verantwortlichen Pädagogen zum ‹Lernbegleiter›, zum ‹Coach›. Jeder Schüler soll in selbstgewähltem individuellem Lerntempo durch seine Schulzeit dümpeln dürfen; die ‹Lernbegleiter› haben die Aufgabe, die Schüler ‹zu motivieren und zu fördern›. Von ‹Fordern› und von ‹Führen› ist nicht mehr die Rede.»

Dass der SVP das «Führen» näher liegt als SchülerInnen, die lernende Subjekte werden, ist nicht wirklich erstaunlich. Aber dass die SonntagsZeitung – «Natürlich ist nichts dagegen einzuwenden, wenn die Kids auch einmal selber denken müssen», anerkennt der Chefredaktor – ernsthafte Versuche, die Schule, endlich, vom Kopf auf die Füsse zu stellen, im gleichen Stil entwertet, das ist einigermassen beklemmend. Ein einziger Schüler, Kevin, genügt ihr als Beleg für den undifferenzierten Rundumschlag: «In den SOL-Stunden ist oft keine Lehrperson da, und wenn man eine Frage hat, kann es zwei bis drei Tage dauern, bis man einen Termin bekommt.» Deshalb, notiert Nadja Pastega, «kämpfe er sich lieber mit seinem Vater durch den Stoff».

Wenn es in der Sekundarschulgemeinde Niederhasli/Niederglatt/Hofstetten tatsächlich & generell so zugehen sollte – was aufgrund der selektiven Auswahl von Zitat-LieferantInnen bezweifelt werden muss – wird da selbstorganisiertes Lernen als Sparprogramm missbraucht, nicht als Bildungsreform praktiziert. Und warum haben die gelernten Tagi-JournalistInnen nicht mit den Lehrpersonen geredet, die geblieben und jetzt an der SOL-Praxis in Niederhasli beteiligt sind? Nicht mit jenen LehrerInnen, die seit Jahren in unterschiedlichsten Formen selbstorganisiert unterrichten? Warum haben sie nicht die Bücher gelesen, die SchülerInnen aufgrund ihrer vielfältigen Erfahrungen mit individualisiertem, von ihnen (mit)gestaltetem Lernen geschrieben haben, teilweise noch ohne Computer? (Zum Beispiel: Wie wir Schule machen oder Revolution im Klassenzimmer)

Von der blossen Gebärde zum Subjekt des Lernens

SOL heisst weder, die SchülerInnen «einem iPad überlassen» (Jean-Daniel Amuat, ehemaliger Lehrer Niederhasli), noch «alles an die Schüler» zu delegieren und sich, als Lehrperson, «vor der Verantwortung» zu drücken. Es ist doch gerade das traditionelle Verantwortlichmachen der Lehrperson für Motivation & Lernen der SchülerInnen – «Die Aufgabe des Lehrers besteht darin, dafür zu sorgen, dass die Schüler etwas lernen» (Amuat) – das aus ursprünglich lernbegierigen Kindern teilnahmslose KonsumentInnen macht. Wird diese Verschiebung zurückgenommen – weil reales Lernen ein Prozess ist, der nur im Innern aktiver SchülerInnen ablaufen kann – bedeutet das nicht, dass sich nun, umgekehrt, die Lehrpersonen an die Sonne legen oder gar ihre Löhne eingespart werden können. Wenn das Lernen zum ausgehandelten Dritten zwischen Lernenden & Lehrenden wird, wenn SchülerInnen zu sagen beginnen, was sie von ihnen wollen, haben LehrerInnen mindestens so viel, wenn nicht sogar mehr zu tun als bisher – einfach anderes und anders strukturiert. Damit SchülerInnen wie Kevin nicht zwei bis drei Tage warten müssen, bis sie ihre Fragen mit einer Lehrperson besprechen können.

Selbstorganisiertes Lernen taugt nicht als Sparmassnahme, SOL verlangt von den Lehrpersonen höchste Präsenz, vielfältiges Engagement und hohe Flexibilität. Damit sie den Lernenden bei der Formulierung & Erreichung präziser (Lern-)Ziele sowie bei der Entwicklung geeigneter Lernstrategien helfen können. Damit sie die SchülerInnen mit den nötigen und von diesen eingeforderten schriftlichen Materialien beziehungsweise mündlichen Inputs in Plenen oder Kleingruppen, mit individuellen Beratungen und Feedbacks in unterschiedlichsten medialen Formen unterstützen können. Ganz schön viel Arbeit für LehrerInnen. Aber auch SchülerInnen sind so, als RegisseurInnen & Subjekte ihres Lernens, weit stärker gefordert als in einer Schule, welche Lehrpersonen zu StalkerInnen degradiert.

Übrigens: Es ist zu vermuten, dass das von der SonntagsZeitung als «Weckruf für die Politik» und pauschal gegen das selbstorganisierte Lernen instrumentalisierte Exempel von Niederhasli – und zehn LehrerInnen, die «aufs Mal den Bettel hinwerfen» (Rutishauser), sind natürlich ein beunruhigendes Signal – eher ein Beispiel für unbewältigte Konflikte unter den Mitarbeitenden, inklusive Leitung, ist beziehungsweise dafür, dass seitens Schulleitung & Bildungsdirektion nicht die Rahmenbedingungen (Ressourcen & Vorbereitung) dafür geschaffen wurden, dass die Einführung des selbstorganisierten Lernens erfolgreich ist. Das kann tatsächlich allseits zu Überforderung führen. Nicht einmal Schulreformen können einfach verordnet werden. Damit (selbstorganisiertes oder auch selbstbestimmtes) Lernen gelingt, müssen Bildungsorte mit genügend Raum, Zeit sowie Ressourcen versehen und gemeinsam mit den jeweils direkt Betroffenen konzipiert werden. Damit es (endlich) ihre Schule wird.

PS. Aufgrund des obigen Textes haben wir folgende Stellungnahme des Leiters der Sekundarschulgemeinde Niederhasli/Niederglatt/Hofstetten Gregory Turkawka erhalten, die nahelegt, dass die Darstellung in der SonntagsZeitung nicht die ganze Realität widerspiegelt und deshalb zu Vermutungen führt, die der Situation vor Ort teilweise nicht gerecht werden:

«Die genannten zehn Lehrpersonen haben Niederhasli in den Jahren 2010, 2011 und 2012 verlassen, lange bevor wir uns überhaupt mit selbstorganisierten Lernformen oder neuen Organisationsformen konkret auseinandergesetzt haben. Unsere aktuelle Schulorganisation wurde während dreier Jahre intensiv mit dem – immer noch aktuell bei uns arbeitenden – Team erarbeitet (wir haben praktisch keine Fluktuation seit vier Jahren an der Seehalde). Für die Schulentwicklung investierte die Schulpflege rund 300’000 Franken in Weiterbildung und nochmals etwa den gleichen Betrag in räumliche Anpassungen. Wir haben und hatten die Ressourcen für eine sorgfältige Vorbereitung und für die qualitätssichernde weitere Entwicklung. Und: Verordnet wurde hier übrigens gar nichts. Das Team hat unsere Organisationsform massgeblich selber entwickelt. Die mittels Stellwerk messbaren fachlichen Leistungen unserer SchülerInnen sind heute insgesamt weit über den Ergebnissen vom Frühjahr Jahr 2011, als die drei im Bild dargestellten Lehrpersonen bei uns unterrichtet haben und ihre Lernenden getestet wurden. Hier ist ein direkter Vergleich möglich.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Jürgmeier war u.a. während vielen Jahren Lehrer/Leiter Allgemeinbildung an einer Berufsfachschule.

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4 Meinungen

  • am 10.06.2016 um 20:39 Uhr
    Permalink

    Sehr guter Artikel, Jürgmeier. Danke und Kompliment.

  • am 12.06.2016 um 15:01 Uhr
    Permalink

    Herzliche Gratulation. Dies ist ein ausgezeichneter Artikel – alles gesagt, was es zu sagen gibt. Hanna Muralt Müller, Delegierte für das SSAB-Netzwerk

  • am 13.06.2016 um 14:10 Uhr
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    Jürgmeier ist auch nicht mehr auf dem neuesten Stand. Die Sekundarschulgemeinde Niederhasli/Niederglatt/Hofstetten heisst jetzt «eDuzis». (e für education und Duzis auf Wunsch der Schüler, weil sich in der Schule Lehrer und Schüler duzen).
    Die LP21-Versuchsschule für «selbstorganisiertes Lernen» SOL (im Volksmund: Schule ohne Lehrer) «Eichi» hat sich im Sammelfach «Lebensraum gestalten» einen neuen Namen gegeben. Weil das aber unter die Kompetenz der Gemeindeversammlung gehört, sagt sie Schulleitung es sei nur ein «Logo». Das «Logo» hat die Gemeindekasse bzw. den Steuerzahler Fr. 100’000 gekostet.

  • am 13.06.2016 um 17:20 Uhr
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    Eigengoal des Schulleiters
    Wenn der Schulleiter Turkawka die aktuellen Stellwerktest-Resultate mit den schlechteren von 2011 vergleicht, so kritisiert er sich selbst! Turkawka war nämlich damals selber Klassenlehrer seines ersten Klassenzugs seit er die Quereinsteigerausbildung abgeschlossen hatte; von den weiteren drei Klassenlehrern gehören zwei zu seinen treuesten Anhängern (ebenfalls mit ihrem ersten Klassenzug) und der letzte war der zitierte Jean-Daniel Amuat.
    Das ist der einzige Leistungsausweis, den wir von Herrn Turkawka als Klassenlehrer einer A-Klasse haben, denn danach wechselte er ja in die Schulleitung und muss heute keine Stellwerktests als Lehrer mehr verantworten. Als Jahrgangsteamsleiterin des besagten Jahrgangs von 2.Klässlern kenne ich die Stellwerk-Resultate genau. Fakt ist, dass z.B. im Fach Französisch, welches Amuat und ich (Weigelt) bei den A-Klassen zu verantworten hatten, die Schüler 2011 um 17% besser waren als 2015!
    Wir drei genannten Lehrpersonen haben übrigens gemeinsam 82 Jahre Lehr-Erfahrung mit Teenagern, was vermutlich die jüngere Hälfte des jetzigen Lehrkörpers zusammen nur knapp toppen kann; zusammengezählt haben wir bisher ungefähr 6500 Teenager unterrichtet – wir sind also nicht ganz unerfahren. 🙂
    Suzanne Weigelt, ehemalige Jahrgangsteamleiterin an der Seehalde

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