Unter die Räder gerät man halt
Erstes Beispiel: Pressecommuniqué der Stadtpolizei Winterthur vom 5. September 2012:
«Am Dienstagnachmittag, um 13.15 Uhr, verlor eine Velofahrerin bei einem Verkehrsunfall ihr Leben. Ein Chauffeur fuhr mit seinem Lastwagen durch die Landvogt Waser-Strasse und beabsichtigte nach rechts abzubiegen. Die Velofahrerin fuhr in gleicher Richtung. Bei der Einmündung in die Seenerstrasse kam es zur Kollision zwischen den Fahrzeugen, wobei die Velofahrerin unter den Lastwagen geriet.»
Eine Übung für angehende JournalistInnen könnte lauten: Machen Sie aus obiger Polizeimeldung einen Zeitungstext!
Wer die Übung gut lösen will, wird die Wörter «überfährt» und «tötet» verwenden: Das ist es, was der Handelnde in diesem Text, der Lastwagenfahrer, getan hat. Aber wie lösten die Profis die Übung? Der Winterthurer «Landbote» übernahm, obwohl der Redaktor die Meldung mit seinem eigenen Kürzel zeichnete, das Communiqué fast wörtlich (ergänzte immerhin das fehlende Komma). «Blick», NZZ und «Tages-Anzeiger» übernahmen die Formulierung «geriet unter den Lastwagen»; nur der «Blick» schrieb wenigstens im Titel, was Sache war: «Velofahrerin von Lastwagen getötet».
Zweites Beispiel: NZZ vom 29. August 2012:
Bei einer Auffahrkollision zwischen einem Lieferwagen und einem Velo ist der Zweiradlenker schwer verletzt worden. – Aus noch unbekannten Gründen übersah ein 21-jähriger Lieferwagenlenker um 6 Uhr 45 einen 40-jährigen Velofahrer und fuhr auf diesen auf. Der Zweiradfahrer, der keinen Helm trug, stürzte und erlitt dabei schwere Verletzungen.»
Weshalb Polizeimeldungen so gern die passive Verbform («ist verletzt worden») verwenden, ist klar: Man will eine Vorverurteilung der Beteiligten vermeiden. Das Passiv kommt ohne Täter aus. Das ist sprachlich nie elegant, kann aber von Vorteil sein, wenn man nicht weiss, was genau geschah – etwa, wer in einer Massenschlägerei wen verletzte.
Wenn aber ein Lieferwagen ein Velo rammt, weiss man, wer wen verletzte – und eine aktive Formulierung wäre keine Vorverurteilung, denn man behauptet ja noch keine Schuld in juristischem Sinne, indem man Klartext schreibt. Der Text leistet hier dafür eine unzulässige Vor-Entlastung: Weder Polizei noch die Redaktorin können wissen, ob der Lieferwagenfahrer den Velofahrer tatsächlich übersehen hat oder ob es nur eine Schutzbehauptung war.
Drittes Beispiel: «Thuner Tagblatt» vom 14. September 2012:
«Eine jugendliche Velofahrerin ist am Freitagmorgen bei einer Kollision mit einem Auto schwer verletzt worden. (…) Bei der Kreuzung Kammershaus kam es aus noch zu klärenden Gründen zur Kollision. Die jugendliche Velofahrerin wurde beim Unfall schwer verletzt. Es kam zu Verkehrsbehinderungen.»
Schlechtes Deutsch? Natürlich. Aber es widerspiegelt, wie unsere Gesellschaft mit Verkehrsgefahren umgeht: wie mit Naturereignissen. Der Strassenverkehr fordert seine «Opfer» wie weiland die Götter. Über einen Raubüberfall würde niemand schreiben: «Bei einer Kollision dreier Männer geriet das Bargeld eines 34-Jährigen in die Taschen zweier Unbekannter» – aber Velofahrerinnen «geraten» unter Lastwagen und sterben dort, «es kommt zu» Kollisionen wie zu Verkehrsbehinderungen. Von extremen RaserInnen grenzen sich alle ab, «Balkanraser» sind für Medienkampagnen gut, aber die alltäglichen Tötungen und Körperverletzungen im Strassenverkehr nennt man nicht beim Namen. Dass der Strassenverkehr in der Schweiz durchschnittlich ein Todes«opfer» pro Tag fordert (weltweit: eines alle 24 Sekunden), daran hat man sich gewöhnt. Das passt dazu, dass die Tatbestände «fahrlässige Tötung» / «fahrlässige Körperverletzung» erst mit dem Aufkommen der Massenmotorisierung Bedeutung erlangten: Ausserhalb des Strassenverkehrs tötet man nicht aus Versehen.
Viertes Beispiel: «Basler Zeitung» vom 19. September 2012:
«Vor dem Friedhof am Hörnli wurde am Montag um 10.40 Uhr eine 83-jährige Fussgängerin von einem Auto erfasst und schwer verletzt. Die Frau wollte die Hörnliallee auf dem Fussgängerstreifen überqueren, als ein Autolenker von der Grenzacherstrasse kam. Die Frau erlitt schwerste Verletzungen.»
Fünftes Beispiel: NZZ vom 8. September 2012:
«In Dietlikon ist am Donnerstag ein 8-jähriger Velofahrer von einem Auto angefahren und schwer verletzt worden. Er war mit seinem Velo auf dem Weidenweg gefahren, als von rechts eine 38-jährige Autolenkerin nahte. Ihr Wagen erfasste das Kind, das zu Boden geworfen wurde. Der Knabe, ohne Helm unterwegs, wurde mit schweren Kopfverletzungen ins Spital gebracht.»
«Kommen» respektive «sich nahen» sind in diesen beiden Meldungen die einzigen aktiven Handlungen des Autofahrers respektive der Autofahrerin. Man will ihnen um Himmelswillen keine Schuld unterstellen – aber der Bub ist ein klein wenig selber schuld, trug er doch keinen Helm.
Die verquaste Sprache von Verkehrsunfallmeldungen hat System. Immerhin eine Ausnahme fanden wir. In Thalwil war ein Lieferwagen in eine Frau gefahren und hatte sie getötet. Der «Tages-Anzeiger» berichtete ausführlicher als üblich in einem Vierspalter. Der Text selber war im üblichen Verkehrsunfallmeldungsstil verfasst:
«Durch die Wucht des Zusammenstosses wurde die Rentnerin, die sich beim Fahrzeugheck aufhielt, zwischen ihrem Auto und dem Lieferwagen eingeklemmt. Sie wurde dabei so schwer verletzt, dass sie noch auf der Unfallstelle verstarb.» (Tages-Anzeiger vom 10. September 2012)
Doch darüber stand der Titel: «Lieferwagen fährt in parkiertes Auto und tötet eine Rentnerin». Man kann es also auch deutlich sagen! Wie kam es zu dem Titel? Den hat nicht der Redaktor, sondern ein Produzent oder eine Produzentin gesetzt. ProduzentInnen sind darauf getrimmt, mit wenigen Worten die Aufmerksamkeit der LeserInnen zu erlangen. Der formale Zwang hat hier wenigstens im Titel für Klartext gesorgt.
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Dieser Text erschien erstmals in kürzerer Form in der WOZ vom 27. September 2012
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor ist Mitglied des Clubs der Autofreien sowie von Umverkehr.
Die Formulierung «wurde von einem Auto/Lastwagen erfasst» regt meine Fantasie an, seit ich lesen kann. Nicht der Autofahrer überfährt das Opfer oder fährt es an, sondern das Auto ergreift und packt es und hält es fest.
Zum Glück bin ich noch nie Zeuge eines derartigen Vorfalls geworden, noch hat je ein solches Fahrzeug nach mir selber gegriffen. Dennoch versuche ich wenn möglich immer gebühren Abstand, auch zu parkierten Autos, zu halten.
Auch Täter sind immer nur «mutmassliche» obwohl sie manchmal mit blutendem Messer in der Hand und den Toten vor den Füssen ergriffen wurden … eben, es könnte jemand Klagen. Der Satz dazu : Es gilt die Unschuld Vermutung.
Auch die Nationalität eines Rasers darf nicht genannt werden, dies ist sonst „Rassismus“.
Andere gute Beispiele sind dann bei der SVP Politik zu finden. Kaum beschreiben die ein Problem mit „saftigen Sätze und nennen die Dinge beim Namen“ … sofort wird auf der Gegenseite heftig protestiert … „ schlechte Sprachkultur “, „ Populismus “, „ Volksaufhetzung „ … kommt dann laut aus dem Blätterwald gebrüllt …
Fazit : Meldungen wie im Artikel erwähnt werden weiterhin Praxis bleiben, und die reisserischen Titeln mit den grossen Buchstaben und (ebensolche Wirkung !), immer noch exklusiv in Blick’s Hand !
Mit dieser Art von Umschreibungen und Euphemismen werden aus aktiven handelnden Subjekten unbekannte Gewalten. Besonders deutlich sehen wir dies auch in allen Kommentaren und Berichten zur sogenanntne Finanz- oder Eurokrise. Es werden nie mögliche Verantworliche für das Desaster benannt, sondern die Schilderungen gleichen den Schilderungen von Naturgewalten – wofür ja niemand was kann. Besonders «schön» fand ich den Begfriff Finanzzunami ! Dem (mündigen?) Bürger wird so tagtäglich Hilflosigkeit suggeriert, auf dass dieser ja nicht aufbegehre und konkrte Fragen nach den Verursachern stelle.