Sperberauge
Unstatistik: «Der Gardasee ist halb leer»
upg. Neben dem Stern meldete auch das RedaktionsNetzwerk Deutschland: «Der Gardasee, das grösste Wasserreservoir Italiens, ist bei nur noch 35 Prozent seiner Speicherkapazität angelangt.» Ähnlich berichtete auch das Handelsblatt: «Der Gardasee führt so wenig Wasser wie seit 70 Jahren nicht mehr. Laut neuesten Satellitenaufnahmen erreicht er nur um die 40 Prozent seines Fassungsvermögens.» (2. Mai 2023). «Merkur.de» zeigte sogar Satellitenbilder, die den dramatischen Rückgang des Wassers demonstrieren sollten – und die österreichische Kronen Zeitung warnte: «Dramatisches Video zeigt austrocknenden Gardasee.»
Die Pendlerzeitung «20Minuten» berichtete am 14. April: «Nach Angaben der Comunità del Garda liegt der Wasserstand aktuell bei 46 Zentimetern – im vergangenen Jahr im gleichen Zeitraum lag er bei 99 Zentimetern. Somit hat er sich halbiert.» Immerhin titelte die Zeitung tatsachenkonform: «Diese Insel kannst du zurzeit zu Fuss erreichen.»
Verschiedene Medien haben versucht, die Ursachen zu finden: zu wenig Regen, kaum Schneereserven, ein ungewöhnlich trockener und warmer Winter – und dann die Klimakrise. All dies ist richtig, aber wie sollen diese Faktoren den Gardasee innerhalb kürzester Zeit zur Hälfte entleeren?
Trotz aller Aufregung in der Medienwelt Deutschlands und Österreichs berichteten die Gäste am Gardasee vor Ort von einem wunderschönen Urlaub. Auch auf den Satellitenbildern kann man beim besten Willen keinen Unterschied im Wasserstand zwischen diesem und dem vergangenen Jahr erkennen.
Fazit des Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung RWI, das diese Unstatistik publik machte: «Es ist die Zahlenblindheit mancher Medien.» Es kommt immer noch vor, dass Medien absolute Zahlen mit Prozenten verwechseln.
Und hier die Aufklärung des RWI:
«Woher kommen also die Absenkungen über 38 Prozent, 40 Prozent oder die Halbierung des Wasserstands? Merkur.de meldete beispielsweise am 21. April, dass sich der Wasserstand des Gardasees halbiert habe – von 99 Zentimetern Mitte März 2022 auf 46 Zentimeter Mitte März 2023.
Der Wasserstand wird an einem Pegel in Peschiera gemessen und misst die Höhe des Wasserspiegels über dem Pegelnullpunkt. Diese Höhe ist aber nicht die Wassertiefe des Sees, sondern ein willkürlicher Wert an der Messlatte, der in der Regel leicht unter dem niedrigsten Wasserstand über viele Jahre hinweg angesetzt wird.
Der Gardasee ist an der tiefsten Stelle 346 Meter tief und hat eine Durchschnittstiefe von etwa 135 Metern. Zudem wird er künstlich reguliert. Das Ablassen von Wasser wird gestoppt, sobald der Nullpunkt erreicht wird.
Wie kann man den Sachverhalt richtig und ohne Aufmerksamkeits-Hype darstellen? Etwa so: Im Vergleich zum Vorjahr war Mitte März 2023 der Wasserstand des Gardasees 53 Zentimeter niedriger. Also 53 Zentimeter von etwa 135 Metern – nicht die Hälfte des Fassungsvermögens des Sees oder gar mehr. Hinzu kommt, dass der Pegelstand stark über das Jahr hinweg schwankt. Zudem lag er am 22. Mai 2023 auch schon wieder bei 80 Zentimetern – mit steigender Tendenz. Der Pegelstand schwankt überdies stark von Jahr zu Jahr. Am 15. Mai 2007 lag er beispielsweise ebenfalls bei 46 Zentimetern, wie in der derzeit alarmierenden Meldung. Zehn Jahre später, am 15. Mai 2017, lag er dann bei 107 Zentimetern. Jede Veränderung muss man gegen die natürlichen Schwankungen abwägen.
Die Geschichten über den halb leeren Gardasee folgen einem weit verbreiteten Fehler in der Kommunikation. Eine absolute Veränderung (der Wasserstand im Gardasee ist 53 Zentimeter niedriger) wird unnötigerweise in Prozent kommuniziert (ca. 50 Prozent weniger) und damit wird es leicht, die Referenzklasse zu verwechseln, auf die sich die Prozentangabe bezieht. Und diese ist eben nicht das Fassungsvermögen des Gardasees, sondern der Pegelnullpunkt an der Messlatte. Mit «53 Zentimeter weniger» hätte man wohl auch nicht die grosse Aufmerksamkeit und Aufregung erzeugen können, die die Nachricht vom halb leeren Gardasee erzeugte.
Zahlenblind zu sein, kann also gut für das Geschäft sein, solange die Leser es auch sind.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Prima, Artikel. Der wieder mal zeigt, wie uns Medien informieren. Reißerisch und oft ungenau. Gleichwohl bleibt bei diesem Thema die Gefahr, den Eindruck zu vermitteln, es sei ja alles nicht so schlimm. Das Thema Wasserknappheit ist aber schon sehr schlimm! Man werfe einen Blick nach Kalifornien, Afghanistan, Türkei, Mexiko und sogar Bayern. Wer das nicht glaubt, sollte sich eine grade gesendete Dokumentation auf 3sat anschauen.