Kommentar
«Tagesschau» bringt Philipp Müller ins Schwimmen
Der Familienartikel in der Bundesverfassung, über den wir am 3. März abstimmen, verpflichtet Bund und Kantone, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu fördern und für ein angemessenes Kinder-Betreuungsangebot zu sorgen.
Die FDP-Frauen wollen diesen Artikel, aber die FDP-Kantonalpräsidenten lehnten ihn am Freitag ab. An der Delegiertenversammlung vom Samstag stand die Parole der Partei nicht mehr zu Debatte. Dafür die Revision des Raumplanungsgesetzes – ebenfalls ein Thema des Urnenganges. Das war die Ausgangslage für die «Tagesschau».
Meistens zum Gähnen langweilig
In der Regel berichtet SRF pflichtschuldigst routiniert und belanglos über derartige Parteianlässe, ein paar Quotes pro und kontra werden ins Bild gesetzt und ein Kameraschwenk zeigt uns hochgehaltene Stimmkarten. Zum Gähnen langweilig.
«Tagesschau»-Korrespondent Adrian Arnold nimmt sich diesmal etwas anderes vor. Er berichtet über das, was gar nicht Thema der Versammlung ist: Eine tief gespaltene Partei in Sachen Familienartikel. Wir sehen schwer enttäuschte Frauengesichter, wir hören ihre bitteren Sätze über den Entscheid der Parteioberen vom Vortag.
Parteichef Müller im Widerspruch
Dann widmet sich Arnold Parteichef Philipp Müller.
Noch in der Sommersession stimmte die grosse Mehrheit der FDP-National- und Ständeräte dem Familienartikel im Parlament zu. Auch FDP-Präsident Müller. Jetzt sagt er, die Finanzierung der Kinderbetreuung sei nicht Aufgabe des Bundes. Er und die Mehrheit der kantonalen FDP-Präsidenten galoppieren der SVP hinterher.
Müller: (wörtlich) «Das ist im Falle der Kinderbetreuung beispielsweise … ist das in den Gemeinden und in den Kantonen. Und man schreibt nicht etwas in die Verfassung, was andere, Kantone und Gemeinden, dann ausführen und finanzieren müssen»
Arnold: «Aber Sie haben doch für den Artikel gestimmt?»
Müller: «Das ist so. Aber ich habe als Parteipräsident die Mehrheit zu vertreten.»
Arnold: «Wie werden Sie die Frauen in der Partei besänftigen?»
Müller: «Ich glaube nicht, dass man die Frauen besänftigen muss. Die haben ihre legitimen Interessen. Sie vertreten sie auch gut. Und mit dem können wir durchaus leben.»
Mann der starken Worte ganz schwach
Müller, sonst immer mit starken Worten zur Stelle, wenn es gegen politische Gegner geht, ist hier erstens ziemlich paternalistisch und zweitens argumentativ ganz schwach.
Rückblende: Vor seiner Wahl zum FDP-Parteichef trat Müller am 17. März 2012 an der Generalversammlung der Frauen auf. Auf die Frage, ob er glaube, als Präsident deren Anliegen erfüllen zu können, sagte er in die Kamera: «Ja, das muss ich einfach erfüllen. Wir wären ja blöd, wenn wir dieses Wählersegment der Frauen, das uns verloren gegangen ist, nicht zurückgewinnen wollten. Das ist absolut essenziell.»
Dann wurde Müller am 21. April 2012 Nachfolger von Fulvio Pelli als Chef der «FDP.Die Liberalen» – auch mit Hilfe der Parteifrauen, und er erklärte sogleich: «Ich gehe davon aus, dass wir vermehrt als Partei wahrgenommen werden, die eben so ist, wie sie ist.»
Wie wird die Partei nun wahrgenommen? Zerstritten? Mit einem Frauenversteher in den Seilen, der ihre Anliegen doch so ernst nehmen wollte, und sie jetzt zur Seite schiebt?
Lob für die «Tagesschau»
Ein Lob für die «Tageschau» und ihren Korrespondenten, weil sie:
• sich die Traktandenliste nicht vom Anlass diktieren liess, sondern journalistisch unabhängig agierte und einen eigenen Story-Ansatz suchte;
• nicht bloss die Versammlung abfilmte, sondern in Bild und Wort einen Widerspruch entlarvte zwischen der früheren und der jetzigen Position. Sie zeigte damit, wenn man so will, ihr journalistisches Gedächtnis;
• einen vollmundigen Parteichef ins Schwimmen brachte;
• sich zu ihrem eigenständigen Ansatz bekannte und ihn als ersten Beitrag in der Hauptausgabe vom Samstag um 19.30 Uhr brachte.
Genauso stellen wir uns «Tagesschau»-Beiträge jenseits der Routine vor: eigenständig Zusammenhänge aufdeckend und journalistisch kompetent. Chapeau!
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine