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Die Egalität, die angeblich ihrem natürlichen historischen Ende entgegengeht © Dirk Olbertz/flickr/cc

#spätegalitär – Abschied von etwas, das nie da war

Sabine Haupt /  Mit Wörtern Fakten schaffen: Das zeigt auf irritierende Weise die Neuschöpfung des Wortes «spätegalitär» durch die NZZ.

Red. Sabine Haupt ist Autorin, Publizistin sowie Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Fribourg. 2015 wurde ihr Erzählband «Blaue Stunden – Kleine Quadratur der Liebe» veröffentlicht, 2018 erscheint ein Roman. Homepage: sabinehaupt.ch.

Dass Sprache weder mimetisch noch neutral ist, ist allgemein bekannt. Sie liefert kein Abbild der Wirklichkeit, allen­falls modelliert sie diese. Es ist sinnvoll, sich diese Binsenweisheit des kommunikativen Handels auch im sprachlichen Alltag immer wieder vor Augen zu halten. Vor allem, wenn vermeintlich Selbstverständliches nur en passant erwähnt wird. Wir sollten so genau wie möglich lesen, hellhörig sein, Sprache ernst nehmen. Denn die interpretierende, ja ideologiekritische Funktion des Verstehens ist unabdingbar bei Äusserungen, die ihre subjektiv-parteiischen Haltungen und Prämissen ganz bewusst, oft mit entsprechendem rhetorischem Aufwand, verschleiern und mit vermeintlichen Fakten «tunen».

Die kognitive Linguistik bezeichnet dieses Phänomen der sprachlichen Manipulation als «Politisches Framing»: Metaphern und Anspielungen auf andere Kontexte – im nationalistischen Diskurs beispielsweise auf das Bild der Familie – transportieren implizite Bedeutungen, provozie­ren Emotionen und prägen Einstellungen. Was das genau heisst, zeigt ein aktuelles Beispiel: Am 21. Juli war in der NZZ folgender Kommentar von Feuilletonchef René Scheu zu lesen: «Am Beispiel der Ehe für alle lässt sich die politische Dynamik spätegalitärer Gesellschaften sehr schön studieren.» Ein auf den ersten Blick harmloser Satz, der in der Online-Fassung des Artikels mit einem weiteren Beitrag desselben Autors verlinkt ist, in dem – im Anschluss an die umstrittene Opfertheorie des französischen Komparatisten und Kulturanthropologen René Girard – die narzisstische Wehleidigkeit unter «Bewohner[n] der egalitärsten Gesellschaften der Moderne» beklagt wird.

Manipulative Kommunikation

Nun ist das Attribut «spätegalitär» zunächst einmal ein simpler Neologismus [eine sprachliche Neuprägung]. Der Duden kennt das Wort nicht, die Google-Suchanfrage ergibt keinen einzigen Beleg, nicht einmal den zitierten NZZ-Artikel. Was genau ist gemeint? Inwiefern wäre unsere Gesellschaft als «spätegalitär» zu bezeichnen?

«Spät-»: Diese Vorsilbe hat es in sich. Analog zu anderen bekannten lexikalischen Todesanzeigen wie «postmodern», «postfeministisch», «postdemokratisch» oder «posthuman» wird hier die Spätzeit eines sozialen Phänomens oder einer gesellschaftlichen Strömung eingeläutet und verkündet. Das der Vorsilbe Folgende – also die Moderne, der Feminismus, die Demokratie oder der Mensch – wird für obsolet erklärt. In dem zitierten NZZ-Artikel funktioniert die Abschaffung des Egalitären genauso wie es der kalifornische Linguist George Lakoff für diese Form der manipulativen Kommunikation als grundlegende Strategie beschreibt, nämlich ganz en passant, das heisst ohne explizite gedankliche und argumentative Auseinandersetzung, so als sei das Ende der gesellschaftlichen Egalität eine triviale Selbstverständlichkeit und nur noch eine Frage der Zeit.

Es gibt semantisch harmlose Verwendungen der Vorsilbe «spät-» – etwa in Wörtern wie «Spätnachrichten» oder «Spätschicht». Doch die impliziten Verwendungen mit ihren versteckten, unterschwelligen Botschaften sind mindestens genauso häufig. Aus der historischen Retrospektive mögen Epochenbezeichnungen wie «Spätantike» oder «Spätgotik» als unproblematisch erscheinen, heikler als solche retrospektiven Epochenbezeichnungen sind allerdings prospektive, oft von politischem Wunschdenken geprägte Begriffe wie «spätmodern» oder «spätkapitalistisch». Denn hier klassifiziert nicht etwa die Geschichtswissenschaftlerin aus gebührender historischer Distanz, sondern der sich als Prophet bzw. Futu­rologe gerierende Philosoph.

Welche Sprengkraft das Präfix «spät-» in der Tagespolitik annehmen kann, wissen wir spätestens seit Guido Westerwelles verräterischer Attacke gegen den Sozialstaat, der – so der damalige Parteivorsitzende der deutschen FDP – Sozialempfänger zu «spätrömischer Dekadenz» verführe. Ausgerechnet Harz IV-Empfänger als Nachfahren jener Caesaren zu apostrophieren, die mit ihrer Verschwendungssucht für den Untergang des Römischen Reiches verantwortlich waren: Auf diese kreative Volte demagogischer Verdrehungskunst muss man erst einmal kommen!

Weniger anekdotisch als jene neoliberale Fehlleistung aus dem Jahr 2010 ist der klassische geschichtsphilosophische Topos des sogenann­ten «Spätkapitalismus». Die von Werner Sombart 1902 analog zu gängigen architektur- und kunstgeschichtlichen Epocheneinteilungen geprägte Gliederung des Kapitalismus in drei Phasen bezeichnet – im gängigen marxistischen Verständnis – die kritische Endphase des Kapitalismus, in der dieser seine selbstzerstörerischen Kräfte zur vollen Entfaltung bringe.

Was gängige Begriffe wie «spätkapitalistisch» oder «spätmodern» aber ganz grundsätzlich von einem Neologismus wie «spätegalitär» unterscheidet, ist dies: Während zumindest hinsichtlich der Grundannahme, unsere Gesellschaft sei momentan (noch…) kapitalistisch oder (noch…) modern, ein breiter Konsens besteht, lässt sich das von ihrem vorgeblich «egalitären» Charakter wohl kaum behaupten. Die Bezeichnung «spätegalitär» operiert also gleich mit zwei gedanklichen Unterstellungen: 1. mit der Annahme, die Epoche der Egalität komme an ihr Ende, was nun allerdings 2. voraussetzt, dass es eine solche Egalität überhaupt je gegeben habe. Und damit kommen wir zum eigentlichen Kern dieser begrifflichen Falschmünzerei. Die Vorsilbe «spät-» fungiert hier als rhetorischer Existenzbeweis: Etwas, das bald zu Ende geht, muss ja wohl einmal exis­tiert haben. Logisch! Das versteht jedes Schulkind.

Mit Neologis­men Fakten schaffen

Doch wir alle haben uns an solche und ähnliche Erschleichungen in öffentlichen Diskursen längst gewöhnt. Sie gehören zur politischen Polemik wie das Feuer zur Lunte. Dass Politiker versuchen, mit Neologismen Fakten zu schaffen, ist nichts Neues. Jeder Medienkonsument kennt das Getöse über «Gleichmacherei», «Sozialneid» und ähnliche Angriffe auf Grundprinzipien des Sozialstaats. Neu ist, dass ein vormals seriöses Feuilleton sich unter dem eifrig geschwenkten Banner einer sogenannten «liberalen Streitkultur» an solch fragwürdigen Rhetorik-Kunststückchen inzwischen beteiligt, mancherorts sogar an vorderster Front. Da werden subjektive Befindlichkeiten zu Fakten umgemünzt, Idiosynkrasien zu Theorien, «égalité» verkommt zu «Gleichmacherei». Denn wo in unserer Gesellschaft wäre sie de facto denn aufzufinden, jene von den Aposteln der individuellen Freiheit immer wieder als dekadenter Popanz beschworene «Egalität», die angeblich ihrem natürlichen historischen Ende entgegengeht?

Die Gegenrechnung ist schnell gemacht, die Ergebnisse altbekannt: Sie reichen von den skandalösen Einkommensunterschieden zwischen Angestellten und Managern börsennotierter Konzerne, Lohn- und sonstigen Diskriminierungen von Frauen, Benachteiligung sozial schwacher Familien in existenziellen Bereichen wie Wohnung, Bildung und Gesundheit, über Steuerflucht und Steuervermeidung, bis hin zu Details des Kulturbetriebs, wenn z.B. das Lucerne-Festival seinen klassischen Orchestern normale bis üppige Gagen bezahlt, während es die MusikerInnen des angeschlossenen Weltmusik-Festivals «In den Strassen» für lau [gratis] auftreten lässt… Man polemisiert gegen Mindestlohn, Vermögensabgabe, Frauenquote und «politische Korrektheit», weil solche (spätegalitären) Eingriffe in vermeintlich «freie» Märkte deren «natürliches» Gleichgewicht zerstören, während sozialwissenschaftliche Studien klar belegen, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich seit Beginn der neoliberalen Wirtschaftspolitik zu Beginn der 1980er-Jahre dramatisch vergrössert hat.

Der Tendenz des Neoliberalismus, politische Entscheidungen zu entdemokratisieren und in die Chefetagen der Konzerne zu verlegen, kommt dabei die technisch und medial gestützte Selbstausbeutung der Lohnabhängigen entgegen, die sich mit zum Teil unfassbar naiver Begeisterung digitalen Kontroll- und Standardisierungsmechanismen unterwerfen. Die Betreiber dieser neuen Form des digitalen Mitmachkapitalismus sträuben sich bezeichnenderweise keineswegs gegen «egalitäre» Tendenzen, ganz im Gegenteil: Man duzt sich und arbeitet an einer möglichst homogenen Unternehmenskultur, in der technische und ästhetische Normen entwickelt werden, die geeignet erscheinen, den globalen Mainstream zu bestimmen. Mode, Sprache, Medien, Küche: Wohin man auch schaut, geht es um die möglichst globale Durchsetzung möglichst einfacher Standards, kurz: um Uniformisierung und damit um die Entwertung komplexer, schwer zu regulierender Individualität. Angesichts dieser zunehmenden Standardisierung erweist sich die Klage über die vermeintlich egalitären Exzesse des Sozialstaates nun vollends als ideologisches Ablenkungsmanöver.

Gleichmacherei und soziale Ungleichheit

Denn wer genau hinhört, erkennt das spätkapitalistische (!) Paradox einer zunehmenden kulturellen und psychischen Entindividualisierung, sprich: Gleichmacherei, bei wachsender sozialer Ungleichheit. Geht es um eine Rechtfertigung des Sozialabbaus, wird emsig das neoliberale Bild des «freien» Selfmade-Menschen poliert. Geht es aber darum, bestimmte wirtschaftliche und informationstechnische Standards durchzusetzen, ist von Freiheit und Individualität, Offenheit und Vieldeutigkeit plötzlich keine Rede mehr. Moderne Konsumenten müssen sich binären Denk- und Kommunikationsmodellen («like»/«unlike») anpassen, technische, ästhetische, körperliche und soziale Standards akzeptieren, auf die sie keinen Einfluss mehr haben. Alltägliche Abläufe, bei denen wir unsere seit den 60er- und 70er-Jahren erkämpfte, komplexe und variationsreiche Individualität zugunsten einheitlicher technischer Normen aufgeben, nehmen seit Jahren zu. Statt wie noch im bürgerlichen Liberalismus des 19. Jahrhunderts das einzigartige Individuum mit seiner unhintergehbaren Einmaligkeit zu zelebrieren und ihm dabei ein Maximum an «Selbstverwirklichung» einzuräumen, entwickelt sich seit der Jahrtausendwende eine mit rasanter Geschwindigkeit fort­schreitende – meist durch digitale Programme unterstützte – Standardisierung unserer gesamten Lebenswirklichkeit.

Doch eine Kritik an solchen Spielarten marktkonformer «Gleichheit», an der wachsenden Uniformisierung unserer Lebenswelt durch Algorithmen und Robotik, ist mit dem Schlagwort «spätegalitär» freilich nicht gemeint. Denn es sind dieselben Kreise, die sich einerseits gegen egalitäre Sozialstrukturen wenden, andererseits aber bedenkenlos kulturelle, wirtschaftliche und technische Standards propagieren und durchsetzen.

Wer glaubt, eine «Dynamik spätegalitärer Gesellschaften» diagnostizieren zu können, arbeitet einer Aushöhlung des utopischen Gehalts der Gleichheit zu, die ja nicht nur eine im engeren Sinne politische, sondern auch eine persönliche und zwischenmenschliche Bedeutung hat. Denn Gleichheit und Gerechtigkeit sind nicht nur, wie der klassische Utilitarismus glaubte, rational durchdachte, womöglich vertraglich festgelegte gesellschaftliche Spielregeln. Sie entsprechen darüber hinaus – wie die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum gezeigt hat – einer emotionalen und moralischen Haltung und sind damit letztlich auch eine Frage der Persönlichkeit. Wenn die ideologischen Frames, die raffinierte Journalisten der Wirklichkeit über­stülpen, allzu eng werden, sollte die altmodische «schöne Seele» (psychē kalē / ψυχὴ καλή), über die sich bereits Goethe lustig machte, vielleicht doch ab und zu protesti­rend ihre Stimme erheben. Fundamentale ethische Kategorien lassen sich nicht mit saloppen Bemerkungen und nonchalanten Verdikten wie «spätegalitär» abservi­ren. Gleichheit ist kein aus der Mode geratenes Design.

Dieser Text erschien erstmals auf «Geschichte der Gegenwart». Eine längere Fassung des Artikels befindet sich auf der Homepage der Verfasserin «Blog Lit & Co».


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2 Meinungen

  • am 11.10.2017 um 12:44 Uhr
    Permalink

    Ja, und keine Neuschöpfung ist das Wort «Arbeitnehmer». Der Kapitalbesitzer gibt Lohn und bekommt dafür das Ergebnis der Arbeitskraft. Der «Arbeitnehmer» ist also Arbeitgeber und Lohnnehmer nicht Arbeitnehmer.

  • am 11.10.2017 um 17:43 Uhr
    Permalink

    @Jud: genau, und die Vertreter der Lohnnehmenden haben sich begrifflich ueber den Tisch ziehen lassen. Zuerst mit der Unterscheidung von Arbeiterin und Angestellte.

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