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Die Handys der New Yorker Teenager anlässlich eines Treffens des Luddite Clubs. © Lynn Ma

Smartphone-Verzicht: Tamedia fabriziert eine Bewegung

Pascal Sigg /  Tamedia verwurstet einen Artikel der Süddeutschen für die Schweizer Leserschaft – und gaukelt Relevanz vor.

«Smartphone? Nein, danke!» titelte die Sonntagszeitung am vergangenen Sonntag. In der Online-Version ist von einem «überraschenden Jugendtrend» die Rede. Der Artikel handelt davon, dass möglicherweise eine Bewegung von Menschen am Entstehen sei, die bewusst auf ein Smartphone verzichten.

Deutsche werden zu Schweizern

Bloss: Der Artikel ist für die Schweizer Leserschaft der Sonntagszeitung fast nutzlos. Er zeigt keinerlei Beweise für auch nur einen einzigen Menschen, der hierzulande auf ein Smartphone verzichtet. Es handelt sich vielmehr um einen Text der Süddeutschen Zeitung, der oberflächlich «entdeutscht» wurde. Dass sich die Autorin nicht auf Beispiele aus der Schweiz beruft, wird verschleiert.

Dies zeigt ein Vergleich mit dem Original. Die Süddeutsche Zeitung druckte nämlich am 16. September 2023 einen Text mit dem Titel «Offline». Darin erzählt die Autorin von den beiden jungen Männern Lukas Muth und Benno Flügel, die beide bewusst auf ein Smartphone verzichten würden.

Der Sonntagszeitung-Artikel derselben Autorin ist bis auf wenige Ausnahmen identisch mit der früheren, deutschen Version. Neu haben beide Männer keine deutsch lautenden Nachnamen mehr. Sie heissen bloss noch «Lukas» und «Benno». Auch ein Verweis auf eine Studie zur Smartphone-Nutzung wurde ausgetauscht. Im Original ist von der Postbank-Jugend-Digitalstudie die Rede. Im «eingeschweizerten» Text erwähnt dieselbe Autorin plötzlich die James-Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.

Eine kleine Bewegung auf der Welt, in den USA, in New York, in einem Park

Der postulierte Trend zur bewussten Smartphone-Verweigerung – unabhängig von den Einzelfällen Lukas und Benno – ist ohnehin nur schlecht belegt. Gemäss Text existiere eine «kleine Bewegung an Teenagern in den USA, die insbesondere in New York in den vergangenen Jahren entstanden ist». Woher die Sonntagszeitung diesen entscheidenden Hintergrund für die Trend-These kennt, erfahren wir aber nicht. Eine Quelle, die präzisieren könnte, fehlt im Artikel.

Sie hätte den Trend allermindestens stark relativiert. Vor bald einem Jahr erschien ein aufsehenerregender Artikel über den sogenannten Luddite Club in der New York Times. Es sind Teenager, die sich regelmässig draussen treffen, lesen, diskutieren. Die Gründerin sagt darin, sie hätten Mühe, neue Mitglieder zu rekrutieren, aber das sei ihnen egal. Damals zählte der Club gemäss Angaben der Gründerin 25 Mitglieder und hiess auch Teenies willkommen, die nur für die Dauer des wöchentlichen Treffens aufs Smartphone verzichten. Im Artikel heisst es auch, die Zukunft des Clubs sei ungewiss, weil die Mitglieder von den High Schools an Unis im ganzen Land wechseln. Ob es den Club ein Jahr später noch gibt? Ob er gewachsen ist? Darüber erfährt die Leserschaft der Süddeutschen und der Tamedia-Titel nichts.

Beliebiges wird relevant

Sicher leben auch in der Schweiz Menschen, die bewusst aufs Smartphone zu verzichten versuchen. Bloss: Der Artikel weiss nichts davon. Trotzdem beamte die Tamedia-Redaktion den Text auf tausende Schweizer Smartphones und Tablets. Am Sonntag erschien er auf den Online-Portalen von sieben Zeitungsmarken: Tages-Anzeiger, Langenthaler Tagblatt, Landbote, Bund, Berner Zeitung, Berner Oberländer, Basler Zeitung.

Die TX-Group, zu welcher die Tamedia mit den entsprechenden Medienmarken gehört, unterhält eine Kooperation mit der Süddeutschen Zeitung. Sie übernimmt regelmässig fürs deutsche Medium verfasste Artikel und publiziert sie in der Schweiz. Dies ist nicht neu (Infosperber berichtete über die Auslandberichterstattung).

Doch indem für ein deutsches Publikum recherchierte Texte oberflächlich eingeschweizert werden, veräppelt Tamedia ihre zahlende Schweizer Leserschaft. Denn sie suggeriert eine Eigenleistung, die nicht existiert. Zudem lässt sie Beliebiges für ihre Schweizer Leserschaft relevant erscheinen – und verzerrt so die Realität.

Philippe Zweifel, Co-Ressortleiter Leben in der Tages-Anzeiger-Mantelredaktion von Tamedia bei der TX-Group schreibt auf Infosperber-Anfrage: «Über konkrete redaktionsinterne Produktionsabläufe können wir leider keine Auskunft geben.» Gemäss der Kooperation mit der Süddeutschen Zeitung könne Tamedia Texte übernehmen und bearbeiten ohne sie als Texte der Süddeutschen zu kennzeichnen. Zu den weggelassenen Nachnamen der beiden Protagonisten (17 und 32 Jahre), welche die Süddeutsche für ihre Leserschaft in Deutschland, nennt, heisst es: «Dass wir bei jugendlichen Protagonisten nur die Vornamen nennen, ist im Leben-Ressort gang und gäbe, je nach Thema natürlich. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes.»

Tamedia: Inhaltliche Medienkonzentration massiv gestiegen

Die Medienqualitätsforschung erkennt derartige Tricksereien nicht systematisch. Immerhin: Das Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft der Uni Zürich verteilt für Artikel aus sogenannten Redaktionskooperationen nur die Hälfte der möglichen Punktzahl in der Kategorie «Eigenleistung». Im Rahmen der Forschung zum Jahrbuch «Qualität der Medien» werden lokale Medienmarken allerdings gar nicht untersucht. Derartige Übernahmen von Übernahmen werden also nicht systematisch erfasst.

Forschende der Uni Zürich haben fürs Jahrbuch aber gesondert die inhaltliche Medienkonzentration untersucht und allgemein einen starken Anstieg mehrfach publizierter Beiträge ausgemacht. Im Fall der Tamedia, der Tochtergesellschaft der TX-Group, hat sich diese sogar massiv erhöht. Gemäss Jahrbuch 2023 (Seite 163) wurden im Jahr 2017 noch 16,2 Prozent der Beiträge mehrfach publiziert. Fünf Jahre später, im Jahr 2022, lag deren Anteil jedoch bereits bei über 50 Prozent. Wie hoch der Anteil von Artikeln aus der Redaktion der Süddeutschen war, ist nicht bekannt.

Übrigens: Die deutsche Wochenzeitung taz publizierte einen tiefgründigen, persönlichen Text über (gescheiterte) Smartphone-Verweigerung und auch die NZZ berichtete von den New Yorker Teenagern – beide just an dem Tag, als die Süddeutsche ihren Artikel zum Thema veröffentlichte.


Mehr über die New Yorker Teenager:

Radiobeitrag der Brooklyn Public Library vom Mai 2023. Darin berichten sie über die Reaktionen auf den Times-Artikel, ihr eigenes Scheitern und falsche Vorwürfe.

Ein Videobeitrag über die Teenager des New Yorker Luddite Clubs (16. Dezember 2022)

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor benutzt ein Smartphone und liest auf Papier.
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

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Pascal Sigg

Pascal Sigg ist Redaktor beim Infosperber und freier Reporter.

4 Meinungen

  • am 18.11.2023 um 11:44 Uhr
    Permalink

    Das ist ein Stuem in einem Wasserglas.
    Niemand verzichtet aufs Smartphone.
    Die Übernahme von Zeitungsartikeln ist ein anderesThema.

    • am 18.11.2023 um 23:13 Uhr
      Permalink

      Also ich kenne im direkten Umfeld 6 Personen, die auf den Klotz verzichten und auch ich bin wohl bald soweit. Es lohnt sich.

    • am 19.11.2023 um 08:57 Uhr
      Permalink

      Mit Freude den Text von Pascal Sigg zur Kenntnis genommen. Merci.
      Kenne neben mir selbst noch einige andere Leute, welche mit Gewinn auf ein Smartphone verzichten.

  • am 19.11.2023 um 22:58 Uhr
    Permalink

    Mit Einfachhandy lebt es sich gut und vor allem billig. Meine Mobile-Kosten belaufen sich auf ungefähr 2 Franken im Jahr, ein Handy für 60 CHF hält ewig, dafür kann ich SMS mit Logincodes empfangen und in Notfällen telefonieren. Für das Internet gibt es den Laptop. Ich will niemand zu dieser Lebensweise bekehren, aber ich bin schon froh, dass man auch ohne das Scannen von QR-Codes durchs Leben kommt und dass es noch nicht wie in China strafbar ist, sein Smartphone nicht bei sich zu haben.. Zur flächendeckenden Beobachtung der Aufenthaltsorte und Beschäftigungen der Bevölkerung via Smartphonedaten, wie sie während der Pandemie ausprobiert wurde, kann ich nichts beitragen, aber mich persönlich stört das nicht. Über soziale Isolation oder Mangel an Unterhaltung kann ich nicht klagen. Allenfalls wird einem das Verhalten anderer Leute manchmal etwas fremd.

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