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Nicht geklebt und genäht, sondern gesprayt: Neuer Laufschuh von On. © bernerzeitung.ch

On diktiert dem «Tagi» einen ganzen Artikel

Marco Diener /  Zeitungsartikel stammen von Journalisten. Könnte man meinen. Beim «Tages-Anzeiger» ist es nicht immer so.

«Dieser Schuh soll die ganze Branche revolutionieren.» Unter diesem Titel berichteten der Zürcher «Tages-Anzeiger» und seine Schwesterblätter (Bezahlschranke) über einen neuen Laufschuh der Schweizer Marke On. Der Schuh ist nicht geklebt und genäht, sondern gesprayt.

Leser und Leserinnen, die nun einen fundierten Artikel erwarteten, wurden enttäuscht. Sportredaktor Christian Brüngger schrieb den Artikel nicht selber. Vielmehr liess er ihn sich diktieren – und zwar vom Innovations- und Forschungsdirektor von On, Nils Altrogge.

Der «Tages-Anzeiger» beziehungsweise Brüngger akzeptierten sogar ein Verbot. So steht einleitend: «On gewährte dieser Redaktion einen exklusiven Einblick mit der Auflage, vor der Publikation nicht darüber zu sprechen.» Und weil das wohl der Redaktion selber ziemlich unjournalistisch vorkam, folgte der entschuldigende Satz: «Entsprechend konnten keine Expertenstimmen eingeholt werden.»

Wie lange hält der Schuh?

On-Direktor Nils Altrogge ist natürlich voll des Lobes: «Der CO₂-Ausstoss ist 75 Prozent geringer als bei der Herstellung eines herkömmlichen Obermaterials. Überhaupt ist der Materialverschleiss pro Schuh sehr viel geringer.»

Warum er nur vom Obermaterial spricht, sagt Altrogge nicht. Inwiefern der «Materialverschleiss sehr viel geringer» sein soll, auch nicht. Und der «Tages-Anzeiger» fragt nicht nach.

Warum produziert On nicht in Europa oder Amerika?

Altrogge gibt sich auch umweltbewusst: «Nachhaltigkeit heisst auch: Dort produzieren, wo die Laufschuhe getragen werden. Zurzeit prägt Asien die Produktion. Wir können unsere neuen Maschinen theoretisch überall auf der Welt laufen lassen, auch in der Schweiz.»

Warum On nicht schon längst dort produziert, wo die Schuhe getragen werden, lässt Altrogge ebenfalls offen. Dabei böten die Margen von On durchaus Spielraum für die Herstellung ausserhalb Asiens.

Was ist revolutionär?

Altrogge weiss offenbar noch nicht einmal, ob eine Massenproduktion möglich ist. Er sagt: «Eine Frage, die wir beantwortet haben wollen, lautet: Wie können wir Millionen Schuhe auf diese Weise herstellen?»

Wieso der «Tages-Anzeiger» trotz dieser wichtigen Unklarheit schon jetzt von einer Revolution spricht, bleibt ein Rätsel.

Warum keine Massschuhe?

Altrogge spricht auch über Massschuhe: «Natürlich liessen sich Schuhe mit diesem Verfahren auch personalisieren, also exakt auf individuelle Bedürfnisse anpassen. Da wollen wir aber nicht zwingend hin.»

Warum das neue Verfahren nicht für Massschuhe genutzt werden soll, bleibt unbeantwortet. Dabei könnte ja gerade das ein Vorteil des neuen Verfahrens sein.

Wer hat wirklich getestet?

Altrogge berichtet auch von den Reaktionen von Topathleten: «Vor zwei Jahren stellten wir ihnen die ersten Prototypen vor. Viele haben sie skeptisch beäugt, waren also zurückhaltend. Anders verhielt sich beispielsweise Chris Thompson, ein britischer Langstreckenläufer. Er war begeistert, testete enorm viel und half mit, das Projekt voranzubringen.»

Doch dann widerspricht sich Altrogge gleich selber: «Weil die Schuhe über einen langen Zeitraum von Topathleten und -athletinnen getestet wurden, wissen wir: Sie halten so gut wie herkömmlich hergestellte Laufschuhe.»

Was jetzt? Testete nur Thompson? Oder testeten auch andere?

Warum lief Thompson in Schuhen von Nike?

Der «Tages-Anzeiger» hätte auch Fragen zu Chris Thompson stellen können. Thompson gewann zwar eine Europameisterschafts-Silbermedaille über 10’000 Meter. Aber das ist 14 Jahre her. Der absolute Langstrecken-Star war er also nie. Seine Marathon-Bestzeit lief er 2021 an den britischen Trials in 2:10:52 Stunden. Das brachte ihn damals auf Rang 272 der Jahres-Weltbestenliste. Interessanterweise lief Thompson das Rennen nicht in Schuhen seines Ausrüsters On, sondern in schwarz angemalten Schuhen von Nike.

Hatte On damals keine konkurrenzfähigen Schuhe im Angebot? Auch das hätte der «Tages-Anzeiger» den On-Direktor fragen können, statt einfach das Diktat abzutippen.

Ein bisschen Werbung?

Aber offenbar ging es darum, der Firma On unmittelbar vor den Olympischen Spielen in Paris noch ein bisschen Aufmerksamkeit zu verschaffen. Immerhin lässt sich On die Olympischen Spiele als Ausrüster von Swiss Olympic viel Geld kosten.

Auch die Uhrenmarke Omega bekam vor den Olympischen Spielen in Paris vom «Tages-Anzeiger» und seinen Schwesterblättern (Bezahlschranke) eine schöne Werbeplattform.

Die Fragen der Leser

Doch zurück zu On. Im Gegensatz zu «Tagi»-Sportredaktor Christian Brüngger stellten die Leser in ihren Kommentaren durchaus interessante und kritische Fragen. Zum Beispiel Danièle Fayet: «Wie viel mehr Weichmacher steckt in diesen Plastikschuhen als in den konventionellen Kunststoffsneakern? Wie viel davon werden zusammen mit dem Schweiss von der Haut aufgenommen? Kurz: Welches gesundheitliche Risiko bergen diese Schuhe eventuell?»

Kurt H. findet: «Eine wirklich technische Innovation wäre mit recyceltem und/oder nachwachsendem Rohstoff! Das wäre revolutionär!»

Auch die New York Times

Am gleichen Tag wie im «Tagi» erschien übrigens auch in den «New York Times» ein langes Loblied auf den neuen Schuh. Immerhin stand da aber auch, dass der Schuh ein bisschen schwer geraten sei.


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