Kommentar
kontertext: WTF! «Cancel Culture» oder Diskurskritik
Seline Fülscher, eine junge Künstlerin und Kunstvermittlerin, die in Zürich lebt und u. a. an der dortigen Kunsthalle arbeitet, fertigt seit einigen Jahren im Siebdruckverfahren T-Shirts an. Neben «Mon Dieu Bourdieu» ist «What the Foucault» einer ihrer T-Shirt Sätze.
Als Besitzerin eines solchen Shirts, wage ich dieses seit vier Wochen nicht mehr öffentlich zu tragen. Die Aufschrift ist nach dem im Netz gerne als Akronym verwendeten Wutzeichen WTF («What the f*ck») gebildet. Damit ist sie wie ein Spiess geworden. Seit vier Wochen, weil damals die Beschuldigungen aufgetaucht sind, dass Michel Foucault (1926 – 1984) Ende der 70er Jahre in Tunesien Minderjährige sexuell missbraucht habe. Wenigstens kam es deswegen noch zu keinem «shit storm», wie die selbst induzierte Erregung im Netzjargon gerne genannt wird.
Die Beschuldigungen wurden, nachdem «Die ZEIT» sie vom «Le Figaro» übernommen hatte, in anderen Leitmedien zwar bedächtig relativiert. Insbesondere haben das Gespräch der NZZ mit Pascal Bruckner sowie Jürgen Ritte im Deutschlandfunk den gewaltigen Vorwurf der Päderastie zurechtgerückt und auch die zweifelhafte Glaubwürdigkeit der Quellen beleuchtet. Zu Recht. Denn für die intellektuelle Linke und eine ganze Wissenschaftstradition, zu der auch ich mich zähle, steht viel auf dem Spiel. Wie kommt es aber, dass etablierte Leitmedien nach der Aussage von zwei Zeugen unbeweisbare Verdächtigungen präsentieren können – als ob sie Social Media-Kanäle wären? Und was hat dies allenfalls mit den Mechanismen der «Cancel Culture» zu tun? Die Verunsicherung über solch vorschnelle mediale Urteile wächst. Vermutlich nicht nur bei mir. Lässt sich aus der eigenen Verunsicherung auch Erkenntnis gewinnen?
Gibt es «Cancel Culture»?
Der Begriff «Cancel Culture» ist zumindest verwirrlich und wurde deshalb seinerseits auch schon gecancelt. Wer kann «absagen» und was soll daran kulturell sein?
Bereits im letzten Sommer hat der Kontext dazu eine interessante Gesprächsrunde organisiert. Unterschieden wurde da etwa zwischen Meinungsfreiheit, Zensur und Meinungskorrektur. Auch die Schere im eigenen Kopf von JournalistInnen, die einschüchternde Heftigkeit der Begriffe und die unterschiedlichen politischen Vektoren der «Cancel Culture» kamen zur Sprache. Sehr wichtig in jenem Gespräch waren die zwei Faktoren, welche den hypostasierten Begriff hervorgebracht haben: Zum einen die Verschiebung der Gewichte zwischen Social Media und Printmedien und zum andern die Verschiebung der Machtverhältnisse in Bezug auf die Geschlechter und die «nicht-weissen» Minderheiten oder «People of color».
Der eine Faktor beeinflusst wohl den andern. In den Social Media können die Stimmen von Minderheiten heute jene traditioneller Machtinstanzen übertönen, auch wenn sie institutionell keine Macht haben. Wie auch im Hörsaal die Stimmen der StudentInnen einen Professor oder eine Professorin übertönen können. Anwürfe und Redeverbote in den Social Media stellen zwar keine institutionelle Zensur dar, aber sie zeitigen viel Wirkung und oft auch jene Konsequenzen, die sie einfordern: dass jemand gemieden wird. Sie verfügen also durchaus über jene Macht, die Michel Foucault – im Gegensatz zu repressiver Macht – eine «produktive» nennt.
Dass sich der Schriftsteller Adolf Muschg in einem Sendegefäss der intellektuellen Elite bei SRF, in der Sternstunde Philosophie, genau zu diesem Mechanismus der «Cancel Culture», mit einem sehr unpassenden Vergleich geäussert hat, musste Reaktionen hervorrufen. Hier zählt nun jedes Wort. Es ist, als ob wieder eine Falle zuschnappte. Ob Muschg das geplant hat? Dass «Cancel Culture» eine Form von Faschismus sei, kam erstaunlich heftig in einem sonst sehr nachdenklichen Gespräch. Muschg hat die Äusserung durch eine nachträgliche Kontextualisierung präzisiert, das Reizwort hat er bedauert, aber nicht zurückgenommen. Das erstaunt nicht: Denn die Spekulation, dass es «ein Auschwitz» auch in der Schweiz geben könnte, gehört zu seinem Werk. Das Buch von 1997, dessen Titel heute kein Lektorat mehr durchgehen liesse (es erschien bei Suhrkamp, in einem Verlag, der kaum im Verdacht von Antisemitismus steht) war eine radikale Schweizkritik im Konjunktiv, damals eine Provokation mächtiger Männer wie Bundesrat Delamuraz. Die Leitmedien haben ihre Aufgabe der Einordnung des «Ereignisses» Muschg wahrgenommen. In den AZ Medien etwa hat Hansruedi Kugler Muschgs problematischen Vergleich zweimal sorgfältig, das heisst auch mit Bezug zu Muschgs Werk kommentiert – und sich damit abgegrenzt von den gereizten Reaktionen auf Social Media. Haben nun Social Media mehr Gewicht als die Printmedien? Lässt sich dies bemessen? Zunächst kann man dies nur bei sich selbst abschätzen. Wenn KollegInnen und namhafte intellektuelle Personen auf Twitter und Facebook Maulkörbe für Muschg-VersteherInnen verteilen und den Schriftsteller anweisen, sich in Grund und Boden zu schämen (was zumindest im Märchen immer den Tod bedeutet), dann irritiert das auf jeden Fall auch. Die Klarstellung, welches Tabu ein Reizwort verletzt, ist wichtig. Der Gebrauch von Auschwitz als Metonymie für das Abstempeln von Personen, wie Muschg es verstanden haben will, kann aber kaum als Antisemitismus ausgelegt werden. Er ist, wie Kugler und auch Florian Keller in der WOZ vom 29.4. sagen, einfach historisch falsch.
Für den Moment wäre es wohl besser, «Cancel Culture» als Begriff an die Mode abzutreten. Cancel Couture. Und dafür den alten Begriff der Diskurskritik zu aktivieren, den Michel Foucault zur Verfügung gestellt hat.
Was macht Diskurskritik – anders?
Michel Foucault galt und gilt noch immer als intellektueller Massstab, weit über Frankreich hinaus. Sein Werk kreist um die Frage, warum wir denken, was wir denken, also um die Bedingungen der Möglichkeit aller Diskurse. Ob als Diskursanalyse, Epistemologie oder Archäologie: Foucault faszinierte uns in meiner Studienzeit mit seinem Sinn für Radikalität. Welche Frage auch immer wir hatten – an die Gesellschaft, an das moderne Subjekt, das Recht, das Wissen und vor allem an die «Mikrophysik» der Macht: mit Foucault konnte sie anders, grundsätzlicher gestellt werden.
Auch wenn «Cancel Culture» als Diskursphänomen schwierig zu fassen ist, liesse sie sich doch mit Foucaults Analysen in ihrer Wirkung als «soziale Kontrolle» beschreiben. Soziale Kontrolle wird auch in modernen Gesellschaften weder vom Staat noch von der Justiz ausgeübt. Sie wirkt durch Regeln und Normalisierungsdiskurse, die er in «Überwachen und Strafen» als «Mikrophysik der Macht» beschreibt. Diese Macht ist nicht begründet in Gesetzen, sie wird von Normen transportiert, welche die modernen Subjekte als Selbstdisziplinierung annehmen. Adolf Muschg hat eine solche Norm (nämlich, dass Auschwitz sich nicht vergleichen lässt mit anderen Formen von Gewalt) verletzt. Weil er sich damit nicht strafbar macht, wird er umso mehr angegriffen vom Normalisierungsdiskurs der Social Media, der auch auf die Printmedien übergeht. Wie in einem «Panoptikum», das bei Foucault als architektonisches Beispiel der Überwachung gilt.
Foucaults Diskurskritik hätte wohl das Asoziale der sogenannten «Social Media» bald benannt. Sie spalten und radikalisieren, weil der Diskurs in ihnen kaum selbstreflexiv, sondern in erster Linie erregt ist. Skandal! Schockiert! Entsetzt!
Diskurskritik heisst in erster Linie: fragen, wer, warum, wie in welcher Form beteiligt ist und die Verpflichtung annimmt, sich als wissendes Subjekt einzumischen. Insofern bezieht sie immer die eigene Position mit ein, egal, welchen Geschlechts und Rangs. Weil Diskurskritik nie Moral, sondern im Gegenteil die Erschütterung von Moral und Selbstgerechtigkeit im Sinn hat, kann man sich wohl fragen, wer im Wahljahr 2021 in Frankreich ein Interesse an einer Erschütterung Foucaults und dem Denken der Postmoderne hat. Wie zeitgemäss, wie legitim ist Foucaults Angriff auf die Rationalisierung und Normierung der Gesellschaft heute? Kann sein Werk, trotz der Idealisierung der «Knabenliebe» und seiner Vorstellung vom «Gebrauch der Lüste», weiterhin angemessen rezipiert werden? Foucaults Übernahme der Frage «Wen kümmert’s wer spricht?» als «ethisches Grundprinzip» heutigen Schreibens, sein Anstoss, Diskurse nach ihrer Funktion und nicht nach ihrem Urheber zu bemessen, gilt wohl, wenn überhaupt, nur in der Literatur.
Epilog: «Wen kümmert’s wer spricht?»
Kann Literatur als das stillste aller Medien, die Übertretung von Normen weiter praktizieren? Zumindest kann sie dies zum Thema machen, wie Julie Zeh in ihrem neuen Roman «Über Menschen», mit dem sie soziale Parallelwelten durchquert, indem sie eine Hipster-Berlinerin aus dem linksliberalen Hauptstadt-Milieu auf einen «Dorf-Nazi» in Brandenburg treffen lässt. Und ihr Ringen um die «richtige» innere Haltung über 400 Seiten begleitet, ebenso ihre Erfahrung von Menschlichkeit, die mit den Urteilen ihrer politisch korrekten Berliner Freunde nicht mehr übereinstimmen kann. «Irgendwie hat Deutschland die AfD beim Universum bestellt und bekommen.» Solche Sätze sind politisch wohl nicht möglich. Hier haben sie (noch) ihren Platz.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Silvia Henke ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und Publizistin. Sie unterrichtet an der Hochschule Luzern Design & Kunst u.a. Kunst und Politik und visuelle Kultur. Forschungsschwerpunkte sind Kunst und Religion, künstlerisches Denken, transkulturelle Kunstpädagogik. Sie interessiert sich grundsätzlich für die Widersprüche der Gegenwart, wie sie auch in der Medienlandschaft auftauchen, und veröffentlicht regelmässig Texte und Kolumnen in Magazinen und Anthologien.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann (Redaktion, Koordination), Silvia Henke, Mathias Knauer, Guy Krneta, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Martina Süess, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Christoph Wegmann, Matthias Zehnder.
McCarthy lässt grüssen. Allerdings haben diese Leute die Macht nicht, die in den 50ern in den USA dem FBI zukam.
Man sollte ihnen deshalb ruhig entgegentreten und ihnen mitteilen, dass andere Leute nicht gewillt sind, sich ihrer Meinungsdiktatur zu beugen. Man sollte sie kalt abblitzen lassen.
Leider macht das bisher kaum einer. Die selbsternannte Inquisition bezieht ihre Macht aus dem Schrecken, den sie verbreitet. Und der ist umso grösser, je mehr Leute Angst vor solchen Leuten zeigen.
Dabei sind sie nur armselige Untertanen, die ihren vermeintlichen Herrschern im vorauseilenden Gehorsam Geltung verschaffen wollen. Viel Ego, wenig Substanz.
Bemitleidenswert.
‹Cancel culture› ist ein Kampfbegriff der Rechten gegen die Woke-Culture, welche sich durch eine ausgeprägte Sensibilität gegenüber Benachteiligungen aufgrund von Herkunft, Rasse, Religion oder sexueller Identität oder Orientierung auszeichnet und sich vor allem auch bemüht, eine nicht-diskriminierende Sprache zu verwenden. Es ist also das pure Gegenteil der Nazi-Ideologie, die auf dem Hass gegen genau diese Minderheiten fusste. Ausschwitz wurde dann der Plan in die Tat umgesetzt, alle diese Minderheiten plus einige, im Vergleich dazu eher wenige, Andersdenkende zu ermorden. Es geht nicht um ein Wort und es geht auch nicht um ein Symbol, es geht um einen in dieser Art wirklich einzigartigen Massenmord, verübt an Unschuldigen aus einer rassistischen Ideologie heraus. Dass eine antirassistische Bewegung in so etwas gipfeln könnte, nur weil ein paar Mal alte, weisse Faschos niedergeschrien wurden, ist völlig absurd und unentschuldbar. Daran dann auch noch festzuhalten, ist die typische Unbelehrbarkeit eines alten, weissen Mannes.
Karl Siegenthaler hat das Wesentliche gesagt. Ich hake mit zwei Beispielen nochmals nach.
Der Tagesanzeiger, wenn er Muschgs Ausrutscher zum Anlass nimmt, um eine der vielen «Debatten» über Korrektheit etc. zu befeuern, verharmlost damit selber Auschwitz. Indem Leute wie Nora Zukker und Loris Fabrizio Mainardi auf dem Thema herumreiten, nur damit der Tagi ausschliesslich SVP-Anhänger in den Kommentarspalten freischalten kann, beteiligen sie sich an der Verharmlosung. Mainardi würde sich als Unternehmensjurist wohl verbitten, wenn ich ihn mit Roland Freisler vergleichen würde, weil er die Unterschiede zwischen Zensur («Gedankenpolizei») und Kritik bzw. Moral einebnet. Vielleicht würde er mich sogar wegen Ehrverletzung anzeigen. Ist er deswegen Teil einer rechten Cancel Culture?
Dann doppelt Politgeograph Michael Hermann nach, indem er den Begriff der linken Shame Speech einführt. Selbstverständlich wird in Hermanns Stammtischphilosophie nicht gefragt, ob nicht das Sponsoring von Lehrstühlen an der Universität oder sein eigenes Canceln von Menschen, die nicht wählen dürfen, auf den politischen Landkarten Teil der rechten Cancel Culture ist. Die seltsame Bemerkung am Ende der Kolumne, man könne Kritiker ja auf den Sozialen Medien stummschalten, zeigt, dass er das Beweisziel nicht erreicht, dass die Zensur von links kommt. Tatsächlich hat Michael Hermann mit seinem Beitrag nur bewiesen, dass er selber mit seinem begrifflichen Durcheinander eine «Moralkeule» gegen links fährt.
«Cancel-Culture» erscheint mir immer mehr zur verharmlosung von Zensur benutzt zu werden. Schliesslich ist das wort «Kultur» darin enthalten, als ob Zensur eine kollektiv «akzeptierte» beeinflussung wäre.
Fakt: Mit aufgeweckten Leuten (ob Mann Frau, Kind) ist schwer zu streiten. Ist einem das wegen fehlenden Erklärungen, (Informationen) oder Argumenten zu mühsam, informiert man sie halt nicht.
Die Ursache jedoch, ist die Separierung, und die Verweigerung von Informationsaustausch der Interessensguppen. Ja es macht richtig Spass den Politikern beim «um den heissen Brei herumzureden» man könnte sich ja die Finger daran verbrennen,und sich damit die Karrierechancen verderben. Allerdings nimmt das inzwischen lächerliche Ausmasse an,und zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten. Ob dies also in irgendeiner Form eine produktive oder fortschrittliche Entwicklung hin zu einer «Kultur» sein kann, wage ich stark zu bezweifeln.
Das, was an der ‹linken› Identitätspolitik irritiert, ist, dass sie zu einem Zeitpunkt, zu dem in westeurop. Gessellschaften die Mehrheit längst die Toleranz entwickelt hat, sowohl die multiethnische Zusammensetzung wie das Recht jedes einzelnen, seine sexuelle Orientierung frei zu wählen, akzeptiert hat, mit einem höchst aggressiv artikulierten Anspruch genötigt wird, ihr mehrheitlich privat gelebtes Selbstverständnis durch vorgegebene Sprachregelungen im öffentlichen Raum selbst zu attackieren, da es ja repressiv sei.
Zum Beispiel durch Gendersprache. Es reicht offenbar nicht mehr, jedem von der binären Geschlechtlichkeit abweichende Lebensentwürfe zuzugestehen; vielmehr soll das Leben in natürlicher und sozial gelebter Zweigeschlechtlichkeit mit seinem Begehren nach dem anderen Geschlecht «de-normalisiert» und als opportunistische Übernahme einer repressiven Norm markiert werden. Das Gendersternchen stellt einen permanenten Vorbehalt gegen das Selbstverständnis dessen dar, was die Gendertheorie als «cis-Normativität» bezeichnet – und als opportune Übernahme einer Norm ablehnt, deren Negagion durch die Gendersprache zur neuen Norm werden soll, durchzusetzen durch erzieherischen Zwang.
Auch soll durch Begriffe wie PoC die nicht migrierte Bevölkerungsmehrheit de-normalisiert und sprachlich abgewertet werden. Das aber ist keine Emanzipation, sondern eine Verkehrung des Ursprungszustand, die zu weit geht. Hier wird Selbstdiskriminierung der Mehrheit zum Erziehungsprogramm.