Kommentar

kontertext: So ganz konkret standpunktlos gefühlt

Felix Schneider © zvg

Felix Schneider /  Die Papiertiger von heute entstehen, wenn Journalisten und Journalistinnen trotz Zeitmangel und Stress Eindruck schinden wollen.

Als Kürmann, die Hauptfigur in Max Frischs Theaterstück «Biografie: Ein Spiel», gefragt wird, warum er auf seine Frau geschossen habe, erklärt er, seine Frau sei im Begriff gewesen, einen ihm wohlbekannten und ihm widerlichen Satz zu sagen. Da «schoss ich sozusagen auf diesen Satz, um ihn nicht wieder zu hören».

Das ist eine herrliche Vorstellung: ein Revolver, mit dem man unliebsame und immer wieder gehörte Sätze in der Luft abknallen könnte! Würde man besser zielen als Kürmann, kämen auch keine Menschen zu Schaden. Man vergnügte sich schon vor dem Einsatz der Waffe mit der Erstellung von Abschusslisten gängiger Phrasen, fein säuberlich nach Sachgebieten geordnet. Hier ein paar Beispiele aus meiner Abschussliste «Journalismus».
Soooo…
Ganz oben auf meiner Liste steht dieses betonte, bedeutungsschwangere und gedankensparende «so» in Sätzen wie: Das gibt es so nur einmal auf der Welt. Oder: Das hat es so noch nie gegeben.
Da sich weder im individuellen noch im kollektiven Leben je irgendetwas «so», d.h. genau so, bis ins Detail, wiederholt, ist der Satz immer richtig. Ob französische Revolution oder die erste Begegnung eines Musikers mit seinem Instrument – das Leben ist einmalig. Das bequeme «so» erspart die zeitraubende Beantwortung der Frage: Was genau halte ich für einmalig? Und es erspart vor allem den Modus der Vermutung: Ich vermute, dass etwas einmalig ist – das wäre zwar als Aussage haltbar, widerspricht aber den journalistischen Marktgesetzen, denn wer vermutet, wirkt schwach, wer behauptet, wirkt stark.
Gefühlt
Stark, männlich und informiert wirken auch Zahlenangaben. Wenn man aber keine hat, entweder weil es keine gibt oder weil man keine Zeit für die Recherche hat, so setzt man «gefühlt» davor: Gefühlt fünftausend Demonstrierende, gefühlt zwei Stunden, gefühlt acht Kilometer. Damit ist nichts Objektivierbares gesagt, aber es klingt protzig, und jeder fühlt sich wohl, weil es niemand genau nehmen muss.
Ganz konkret vor Ort
Das scheint ein Grundprinzip des angepassten Journalismus zu sein: abstrakt ist schlecht, konkret ist gut. Wird dieses Prinzip konsequent verfolgt, so gibt es keine Gesellschaft mehr, sondern nur noch Ansammlungen von Individuen. Journalismus vermittelt dann implizit die Botschaft, dass wir in der besten aller Gesellschaftsformationen leben, Gesellschaftsveränderung erübrigt sich. Es darf durchaus böse Unternehmer geben, aber keinen Kapitalismus mit eigenen Gesetzen. Ausbeutung ist dann ein Exzess von Managern, aber sicher kein notwendiges Produkt ökonomischer Organisation. Und zum Schluss muss immer an die Moral des Einzelnen appelliert werden. Wenn jede und jeder… Wenn jeder Konsument und jede Konsumentin…
Ich hatte neulich versucht, einem Konsumentenmagazin den Gedanken nahe zu bringen, dass die grossen Modelabels auf gesättigten Märkten dem Zwang zum Wachstum ausgesetzt sind – ganz unabhängig von irgendwelchen Unternehmens«philosophien». Da bin ich gescheitert. Viel zu abstrakt. Sei konkret! Alles andere gilt als unprofessionell. Und so vergehen kaum 10 Radiominuten, ohne dass ein Gesprächspartner gefragt wird: Und was bedeutet das jetzt ganz konkret?
Aus der Sicht von…
Die Berichterstattung über Konfliktfälle muss natürlich die verschiedenen Meinungen zu der strittigen Sache, die behandelt wird, korrekt und vollständig wiedergeben. Wenn es aber um wesentliche Dinge geht, müsste der Journalist oder die Journalistin doch auch zu erkennen geben, was er oder sie für richtig oder falsch und für wirklich oder fake hält. Die Leistung, sich zu positionieren, wird indes immer weniger erbracht. Immer häufiger haben wir es mit reinem Perspektivenjournalismus zu tun. «Aus der Sicht von» Erdogan ist der türkische Krieg in Syrien legitime und legale Terrorismusbekämpfung. «Aus der Sicht von» Juristen handelt es sich um eine illegale Völkerrechtsverletzung. Die einen sagen so, die anderen so – und nun, bild dir deine Meinung, du armer Konsument!
Kritik?
Womit wir bei der grossen Frage wären, ob ein Journalist oder eine Journalistin, wenn er oder sie kritisch sein will, auch einen Standpunkt braucht. Nehmen wir ein Beispiel, und zwar das Beispiel eines guten Journalisten. Am 23.03.2018 unterhält sich Christoph Heinemann im Deutschlandfunk mit dem CDU-Bundestagsabgeordneten Philipp Amthor über Asylpolitik. Gegen Ende des Gesprächs sagt Heinemann: «Herr Amthor, wir halten fest: Personen ohne Papiere werden weiterhin einreisen können. Keine Änderung beim einklagbaren subjektiven Rechtsanspruch. Die AfD kann sich freuen, es wird sich nichts ändern.»
Der Journalist Heinemann stellt das Asylrecht zur Disposition. Ich glaube nicht, dass er das aus Überzeugung tut, sondern nur, um seinem Gesprächspartner zu widersprechen. Er will «kritisch» sein und möglichst viel aus dem Interviewten «rausholen». Das heisst in der Praxis: Einen Linken mit rechten Argumenten konfrontieren, einen Rechten mit linken. Und das kann tatsächlich ergiebig sein. Nur: Gibt es Kritik ohne eigenen Standpunkt?
Ich fürchte manchmal in dunklen Stunden, ich werde es noch erleben, dass ausgewogen und standpunktlos über Antisemitismus diskutiert wird. Ein Antisemit und ein Jude würden dann miteinander streiten. Oder der Journalist fragt dann einen Juden gleich selbst: Aus der Sicht von Antisemiten sind Juden gefährlich. In den Protokollen der Weisen von Zion ist beschrieben, wie jüdische Führer die Welt verändern wollen. Was tun sie als Juden ganz konkret gegen diese Tendenzen?

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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Felix Schneider, geboren 1948 in Basel. Studium Deutsch, Französisch, Geschichte. Von Beruf Lehrer im Zweiten Bildungsweg und Journalist, zuletzt Redaktor bei SRF 2 Kultur. Hat die längste Zeit in Frankfurt am Main gelebt, ist ein halber «Schwob».

    Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann, Silvia Henke, Anna Joss, Mathias Knauer, Guy Krneta, Johanna Lier, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Heini Vogler, Rudolf Walther.

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