Kommentar

kontertext: Online-Zeitungen – die grosse Versuchung

Rudolf Walther © zvg

Rudolf Walther /  Der Wechsel auf online hat Folgen: weniger Journalisten, weniger Qualität, weniger Lesezeit.

Die Stimmung in der Zeitungsbranche ist etwa so schlecht wie die Meldungen über ihre finanzielle Lage. Der Einbruch der Einnahmen aus Anzeigen dauert an, und die Zahl der Abo-Kündigungen («Abo-kalypse») steigt. Die Antworten darauf sind überall ähnlich: Kürzung des Zeitungsumfangs, inhaltliche Ausdünnung von der Banalisierung bis zur strikten Boulevardisierung («Basler Zeitung», «Tages-Anzeiger», «Frankfurter Rundschau»), Verkleinerung der Redaktionen, Kürzung der Etats für Pauschalisten und «freie» Journalisten, Kooperationsverhältnisse mit anderen Zeitungen, d.h. kostensparendes Nachdrucken. Bevor die Zeitungen ganz eingehen, schwinden Vielfalt und Originalität, kurz: die Qualität.
Je weniger diese gleichsam homöopathisch dosierten Sanierungsmassnahmen wirksam werden, desto mehr werden radikalere Lösungen empfohlen. Der Abschied von der von vornherein hybriden Gratiskultur im Online-Sektor (die unterstellt, Qualitätsjournalismus sei kostenlos) ist längst überfällig. Die Chancen und Risiken von Bezahlschranken (Pay Walls) sind allerdings fast unberechenbar, und die Ergebnisse, soweit sie ehrlich dokumentiert und nicht nur mit wenig aussagekräftigen Klickzahlen frisiert werden, bleiben gelinde gesagt durchzogen bis enttäuschend.
Als letzte Station vor dem Aus empfehlen Berater und Sanierer die Amputation, d.h. den ganzen oder teilweisen Verzicht auf Printausgaben. Am Beispiel des vollzogenen Verzichts auf die Printausgabe beim «Guardian» und beim «Independent» und der für 2022 ins Auge gefassten Einstellung der Printausgabe bei der «tageszeitung» (taz) werden die tatsächlichen bzw. zu erwartenden Folgen sichtbar.
Beispiel «Guardian» und «Independent»

Der 1821 gegründete «Manchester Guardian» erscheint seit dem Umzug nach London als «Guardian» und wurde jahrzehntelang vom Scott-Trust (benannt nach dem schwerreichen langjährigen Chefredakteur P.C. Scott) über Wasser gehalten. Trotz des Erfolgs herausragender Reportagen, etwa über die Folter im Irak, die Geschäftspraktiken von «Cambridge Analytica» oder die Snowden-Papiere, blieb das Blatt immer defizitär – am Schluss mit über 50 Millionen Pfund pro Jahr. Mit der neuen Chefredakteurin Katharina Viner wagte die das angesehene Blatt tragende Stiftung 2017 einen radikalen Kurswechsel – die Ergänzung der Printausgabe mit einer teuren Investition in die digitale Ausgabe. Dafür wurden etwa 100 IT-Fachleute eingestellt. Die digitale Ausgabe ist frei zugänglich, und die Auflage der Print-Ausgabe liegt heute bei rund 140’000 Exemplaren (2005 waren es noch 400’000 Exemplare). Der digitale «Guardian» hat heute mit seinen England-, Australien- und USA-Ausgaben täglich 160 Millionen «Leser», wenn man die Mitglieder der ziemlich unübersichtlichen «Klick-Community» 1:1 in Leser umrechnet. Diese Community spendet freiwillig für die Nutzung, sofern die Nutzer nicht zu den 200’000 Premium-App-Abonnenten mit rund 7 Pfund pro Monat gehören.
2018 erwirtschaftete der «Guardian» erstmals nach Jahrzehnten 800’000 Pfund Gewinn, nachdem unter dem Vorgänger von Katharina Viner noch 80 Millionen Pfund für eine eigene Druckerei versenkt worden waren. Der Erfolg der Strategie Viners, die von sich sagt, «ich bin ein Allesfresser, wenn es um Informationen und Nachrichten geht», wurde bezahlt mit einer Banalisierung und Boulevardisierung der Print- und der Digitalausgabe.
Eine empirisch einwandfreie Studie zur Umstellung des «Independent» von der Print- auf eine digitale Ausgabe ergab, dass Printleser die Zeitung etwa fünfmal länger lesen als Nutzer der Netzausgabe – nämlich 37 statt 7 Minuten. Neben diesen Aufmerksamkeits- bzw. Wahrnehmungsverlusten fallen auch die Kollateralschäden bei der Umstellung ins Gewicht. Beim «Guardian» entfielen durch die Teilumstellung die Stellen von 330 Angestellten und von 120 Redaktionsmitgliedern. Beim «Independent» wurde die Redaktion von 200 Mitgliedern auf 110 fast halbiert. Zwiespältig ist die finanziell erfolgreiche Umstellung des «Independent», weil sie auf dem Wachstum des digitalen Anzeigengeschäfts beruht sowie Lohnsenkungen für die Restbelegschaft. Mit publizistischer Qualitätssicherung hat beides – das Anzeigengeschäft und die Lohnkürzungen – nichts zu tun.

Die «taz» vor der Entscheidung

Im Umfeld der Veranstaltungen zum 40-jährigen Bestehen der «taz» wurde bekannt, dass für 2022 über die Einstellung der Printausgabe nachgedacht wird. Die Zeitung wird von der seit 1992 bestehenden Genossenschaft mit heute knapp 20’000 Mitgliedern getragen. Die Anteile von 500 bis 100’000 Euro gewähren ein vom Zeichnungsbetrag unabhängiges, egalitäres Stimmrecht. Diese Konstruktion macht das Blatt doppelt unabhängig – von den Geldgebern und vom schwankenden und schwindenden Anzeigenmarkt. Dies erklärt auch, warum die Zeitung heute so etwas wie ein Solitär bildet in der Branche.
Der langjährige Geschäftsführer Karl-Heinz Ruch verabschiedete sich in den Ruhestand mit der Prognose: «Das Zeitalter der gedruckten Zeitung ist zu Ende, der Journalismus lebt weiter im Netz». Es fragt sich natürlich, welche Art von Journalismus auf welchem Niveau weiterlebt. Auch die «taz», die wie der «Guardian» keine Bezahlschranke kennt, setzt auf freiwillige Spenden von Nutzern der Online-Ausgabe. Dadurch soll nach nicht überprüfbaren Angaben monatlich eine fünfstellige Summe zusammenkommen. Es gibt keine akuten Gründe, die Print-Ausgabe einzustellen. Nach vielen Krisen schreibt die taz mit einer Auflage von 50’000 Exemplaren, davon 27’000 Abonnenten, seit 2008 schwarze Zahlen.
Damit ist die taz die mit Abstand kleinste der wenigen überregionalen Zeitungen in der BRD. Um den Status eines landesweit wahrgenommenen Blattes zu erhalten und zu stärken, könnte der Ausbau der digitalen Ausgabe auf Kosten der Print-Ausgabe, die 2022 eingestellt würde, ein rationales Kalkül sein. Über die Frage, wie realistisch dieses ist, lässt sich jedoch nur spekulieren. Ein Hauch von Druck, auf die Printausgabe zu verzichten, kommt von zwei anderen Seiten – von den Vertriebskosten und vom Durchschnittsalter der Abonnenten.
Die hohen und tendenziell steigenden Vertriebskosten und die Unwägbarkeiten der Vertriebssysteme, deren Träger unrentable Regionen lieber heute als morgen «vergessen» lassen würden, sowie der unabsehbaren Kosten und Zumutungen der Postzustellung könnten die Geschäftsführung in Zukunft zu einem radikalen Schnitt zwingen. Dasselbe gilt für die Abonnenten der Printausgabe. Deren Durchschnittsalter liegt bei 57 Jahren, während die Besucher der Website im Durchschnitt nur 35 Jahre alt sind. Die Frage, ob man die Zeitung lieber im Netz, auf dem Smartphone oder Tablet oder auf Papier lese, ist keine nach Lesegewohnheiten, sondern nach dem Alter. Und sie könnte zum Sargnagel für die Printausgabe der «taz» werden.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Rudolf Walther: Historiker, freier Journalist für deutsche und Schweizer Zeitungen und Zeitschriften, wohnhaft in Bad Soden a.T. in der Nähe von Frankfurt.

    Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann (Redaktion, Koordination), Silvia Henke, Mathias Knauer, Guy Krneta, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Martina Süess, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Christoph Wegmann, Matthias Zehnder.

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Eine Meinung zu

  • am 23.01.2020 um 17:13 Uhr
    Permalink

    Wenn Walther online schreibt, dass der Wechsel auf online weniger Qualität nach sich zieht, und im Text behauptet, die «taz» sei «die mit Abstand kleinste der wenigen überregionalen Zeitungen in der BRD», dann bestätigt er unfreiwillig seine Eingangsthese. Wobei online nicht das Problem sein dürfte, sondern schlechte Recherche: Die kleinste überregionale Tageszeitung in Deutschland ist die «junge Welt»,

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