Kommentar
kontertext: Mit Wut, Trauer und Leidenschaft
Red. Dieser Beitrag erschien zuerst im Online-Magazin «Republik».
Nein, auch der ausgefuchste Filmfan muss diesen Film nicht unbedingt mögen. Und ja, seine selbstmitleidige Attitüde kann gelegentlich auch nerven. Aber als politisch einigermassen empfindsamer Mensch ist man trotzdem gut beraten, ihn sich anzuschauen.
Der Hauptgrund: In jeder Minute von Christian Labharts «Passion» machen wir uns auch einen eigenen Film. Ein solches Doppelerlebnis ist eigentlich das Beste, was im Kino passieren kann. Rezeption wird gleichzeitig zur Produktion. Wie bin ich selber politisiert worden? Was waren die prägenden Erlebnisse, Begegnungen, Inspirationen, Konflikte? An welchen Idealen und Sehnsüchten halte ich fest, welche habe ich über Bord geworfen? Und: Wie bewege ich mich weiterhin in einer Welt, die sich nicht unbedingt nach meinen Vorstellungen entwickelt?
Weiss der Himmel: wichtige Fragen.
Die Auswahlkommission der Solothurner Filmtage hat «Passion» abgelehnt. War ihr der Film zu radikal? Zu pathetisch? Zu naiv? Fand sie ihn handwerklich nicht auf der Höhe? Zu wehleidig? Zu besserwisserisch? Wir wissen es nicht. (Siehe Kasten am Schluss: «Die Kontroverse: Der Dokfilmer Christian Labhart, Solothurn und Nyon»)
Mut zum Pathos
Man kann durchaus einige Fragezeichen setzen hinter diesen Film. Aber man muss ihm auch zugestehen: Da nimmt sich einer etwas Grosses vor. Christian Labhart, geboren 1953, liefert eine Art politische Lebensbilanz, von der Initiation 1968 bei den Zürcher Globuskrawallen über Vietnam-Empörung, Anti-AKW-Demos, Einstieg in den Lehrerberuf, Ausstieg ins Landleben auf einem kollektiv geführten Bauernhof, tief sitzende Ängste nach Tschernobyl bis hin zur Familiengründung, zwei Kindern, dem Eigenheim im Grünen – und plötzlich der Frage: «Bin ich ein Spiesser geworden?»
«Passion» wirkt wie der Versuch eines Gegenbeweises, Widersprüche inklusive. Labhart sammelt auf vier Kontinenten Bilder des Leidens an einer ungerechten Welt, die zunehmend in Entfremdung, Ausbeutung und Waren-fetischismus versinkt. Der Filmautor, so scheint es, will sich seine Verletzlichkeit bewahren und kämpft mit dem Mut zum Pathos gegen die Hornhautbildung auf seiner politischen Seele. So gelingen ihm eindrückliche Tableaus vor allem dann, wenn sie ohne jeden Kommentar ganz für sich selber sprechen. Das vielleicht traurigste Bild kommt gleich in den ersten Minuten: ein quäkender Roboter als Vorturner in einem asiatischen Seniorenheim. Es läuft einem kalt den Rücken runter.
Klassengesellschaft in Dubai: migrantische Fensterputzer draussen, junge Frauen im Fitnesscenter drinnen. (Bild: Look Now!)
In einem Hochhaus in Dubai starren migrantische Fensterputzer aus Bangladesch staunend auf die jungen Frauen im Fitnessstudio. Klassengesellschaft pur, mit gegenseitigem Voyeureffekt. Die Welt berauscht sich am Dauerspektakel. Ein mehrstöckiges Kreuzfahrtschiff zwängt sich, alles überragend, durch die Lagunenstadt Venedig. In Bulgarien filmt Labhart zerfallende Monumente realsozialistischer Herrlichkeit. Drinnen dröhnt die verzerrte Stimme des Redenschwingers, draussen hoppelt ein Pferd mit zusammengebunden Vorderläufen vorbei. Entlarvende Spiegelbilder zerbrochener Hoffnungen.
Mensch und Masse
Menschen kommen in diesem Film fast nur als Herdenwesen vor, gepfercht in U-Bahnen, getrieben in Einkaufszentren, Spielhöllen, beim Massensaufen in Bierzelten. Bös gegengeschnitten zu den Rinderherden in argentinischen Schlachthöfen. Nirgends ein Individuum in Sicht. Das kann man als ätzende Zeitdiagnose lesen – aber auch als Mangel und Unterkomplexität empfinden.
Zum Glück baut der Film gleichzeitig auf einen starken Widerpart, der immer wieder in den Ablauf hineingeschnitten wird: die konzertante Aufführung der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach in einer ehemaligen Brüsseler Fabrikhalle. Es ist der Trost der Kunst. Und er wirkt. Er schafft Raum für Trauer, aber auch zum Atemholen, zum Ordnen und Bündeln der Wut über all das Zerstörerische. Chor und Orchester (Collegium Vocale Gent unter der Leitung von Philippe Herreweghe) sind ein sinnliches Manifest gegen die Vereinzelung und für das Grossartige, das Menschen im Kollektiv erschaffen können.
Der Trost der Kunst: Das Collegium Vocale Gent interpretiert die Matthäus-Passion. (Bild: Look Now!)
Ambivalente Gefühle können die Kommentare des Filmautors aus dem Off auslösen. Sie changieren zwischen entwaffnender Ehrlichkeit, grandioser Selbstüberhöhung und platter Revolutionsromantik. Als «Züri brännt» und für ein AJZ kämpft, ist der Autor natürlich dabei, aber er bekennt auch, dass «der Liebeskummer in jenen Wochen stärker in mir brennt als all die Barrikaden». Über den jugendlichen Schüler, der sein Rebellen-Gen entdeckt, sagt der heute 66-Jährige: «Vor meinen Füssen lag die Welt, die mich aufforderte, sie zu verändern.» Ohne inhaltliche Konkretion wird das zur Phrase. Noch heute, bekennt der Autor, faszinieren ihn Rebellion und brennende Barrikaden, ob an einem G-20-Gipfel oder im Arabischen Frühling. Man würde gerne mehr erfahren über die inhaltlichen Motive.
Pubertät und Politik
Persönliche Politisierung ist ein vielschichtiger Prozess. Erziehung und Elternhaus, ob bejaht oder abgelehnt, können eine wichtige Rolle spielen; das Austarieren und Gewichten von Werten wie Freiheit und Gerechtigkeit; Vorbilder aus Geschichte und Gegenwart; Erfahrungen mit Diskriminierung und Ausgrenzung – und vieles mehr. Wohl eher selten ist es ein singuläres Erlebnis, das uns zum politischen Denken und Handeln motiviert.
Diese Komplexität bleibt in «Passion» ausgespart. Da stolpert ein 15-Jähriger direkt aus der Tanzschule in die Globuskrawalle und ist einfach fasziniert von dieser Energie. Diesen leicht pubertären Touch wird der Film nicht ganz los.
Es scheint, als scheue Christian Labhart den Schritt zu einem wirklich persönlichen Film. Vertiefende gesellschaftliche Aussagen delegiert er an bekannte Autorinnen und Autoren und Globalisierungskritiker wie Arundhati Roy, Slavoj Žižek, Dorothee Sölle oder Philipp Blom. Einer der berührendsten Texte ist der Brief der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof aus der vierjährigen Isolationshaft. Poesie der Verzweiflung (von Mona Petri einfühlsam gesprochen), die filmisch mit rätselhaften Bildern von Strudeln und schmierigem Brackwasser unterlegt wird:
Das Gefühl, man pisste sich die Seele aus dem Leib, als wenn man das Wasser nicht halten kann;
das Gefühl, es sei einem die Haut abgezogen worden;
das Gefühl, es würde einem das Rückenmark ins Gehirn gepresst;
der Gebrauch von Zischlauten ist absolut unerträglich.
Anfang und Schluss von «Passion» bildet Brechts berühmtes Gedicht «An die Nachgeborenen». Es passt – und dürfte ziemlich exakt die Gefühls- und Gedankenlage des Filmautors wiedergeben. Das Gedicht endet mit den Zeilen:
Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.
Ihr aber, wenn es soweit sein wird
Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.
Während des Faschismus entstanden, ist es ein überzeitlicher Text, und es wirkt keineswegs anmassend, ihn auf unsere Gegenwart anzuwenden, ohne sie damit gleich als faschistisch zu denunzieren.
Wie akkurat sich selbst ein Kafka in die Kritik an der Akkumulationswut und Besitzangst unserer Zeit einfügt, zeigt die surreal reale Sequenz im Film über die technisierte Warenzirkulation, die mit der luzid hinterhältigen Parabel «Der Bau» kommentiert wird. Kapitalismus-Satire der Extraklasse. Man kommt aus dem Kino und nimmt sich gleich vor, wieder mehr Kafka zu lesen.
Christian Labhart will sein ganzes Leben und die ganze Welt in seinen Film packen. Das verführt ihn da und dort auch zu abgenutzten Schlenkern. Berliner Mauerfall, 9/11, Finanzkrise, Fukushima sind wichtige zeitgeschichtliche Daten, aber sie tragen keine neuen Bilder und wenig Erhellendes zur persönlichen Politbiografie des Autors bei. So bleibt der Film öfters beim Aufzählen von äusserlichen Verfallssymptomen stehen.
Zerfallendes Monument des osteuropäischen Sozialismus. (Bild: Look Now!)
Nicht untypisch für die damalige Zeit äussert sich Labhart auch etwas zweideutig zur Gewaltfrage. Einerseits distanziert er sich von bewaffneten Kampfformen, erlebt aber den RAF-Mord an Arbeitgeberpräsident Schleyer von 1977 mit «klammheimlicher Freude» – und unterschlägt dabei gleichzeitig, dass das berühmt-berüchtigte Skandalwort mit langer Wirkungsgeschichte aus einer anonymen, mit «Mescalero» unterzeichneten Kolumne in einer Göttinger Studentenzeitschrift stammt und in Wirklichkeit dem RAF-Mord an Generalbundesanwalt Buback gegolten hat.
Alles (fast) verziehen, als im Abspann Patti Smith «Because the Night» erklingt, diese Hymne an die andere Passion, die Liebe. Ich bleibe dabei: Hingehen, anschauen und dann generationenübergreifend diskutieren. Das ist beste Prophylaxe gegen ein voll automatisiertes, fremdgesteuertes Hors-sol-Leben, wie es uns im Film erschreckend real entgegentritt.
Die Kontroverse: Dokfilmer Christian Labhart, Solothurn und Nyon
Christian Labhart hat in den letzten zwanzig Jahren ein Dutzend Dokumentarfilme gedreht, davon sechs Langfilme, die im Kino zu sehen waren. Ein grosser Erfolg bei Publikum und Presse ist ihm mit «Giovanni Segantini – Magie des Lichts» (2015) gelungen. Frühere Filme befassten sich mit verschiedenen Ausprägungen der Anthroposophie («Zwischen Himmel und Erde», 2010) oder mit pädagogischen Kunstprojekten («Zum Abschied Mozart», 2006; «What Moves You», 2013).
Labhart ist also kein Unbekannter. Trotzdem wurde «Passion» dieses Jahr in Solothurn abgelehnt. 33 Schweizer Filmschaffende haben sich mit ihm solidarisiert und eine Wiedererwägung des Entscheids gefordert. Darauf ging Solothurn nicht ein und lieferte auch keine Begründung. Nachvollziehbar: Bei über 600 eingereichten Filmen pro Jahr kann die Auswahl nicht diskutiert werden.
Grundsätzliches Auswahlkriterium ist die Vielfalt – der Themen, der Landesteile, der Geschlechter, der Altersgruppen, der Genres. Mit «Tscharniblues II» war in Solothurn ein thematisch ähnlich gelagerter Film über den Umgang mit den 68er-Utopien im Programm, heiterer, verspielter, zugänglicher – aber auch etwas harmloser. Gerade deshalb wäre eine Parallelprogrammierung der so unterschiedlichen Filme durchaus sinnvoll gewesen.
Ironie der Geschichte: «Passion» wurde als einziger Schweizer Beitrag an den internationalen Wettbewerb des Dokumentarfilmfestivals Visions du réel in Nyon eingeladen. 3000 Filme werden dort jedes Jahr eingereicht, 15 schaffen es in den Wettbewerb.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Alfred Schlienger, Theater- und Filmkritiker, u.a. für die «Republik»; ehem. Prof. für Literatur, Philosophie und Medien an der Pädagogischen Hochschule; Mitbegründer der Bürgerplattform Rettet-Basel!; lebt in Basel.
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann (Redaktion, Koordination), Silvia Henke, Mathias Knauer, Guy Krneta, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Matthias Zehnder.