Kommentar
kontertext: Männlichkeit unter Druck
Mit der #MeToo-Bewegung ist die Spannung zwischen den Geschlechtern gewachsen. Auf der einen Seite steigt die feministische Ungeduld gegenüber Männern, die noch immer nicht begriffen haben, was Sexismus ist und dass Männlichkeit, die sich auf Stärke und Überlegenheit beruft, «toxisch» ist – so jüngst die Kolumnistin Margarete Stokowski im Spiegel. Sie nimmt damit Bezug auf die Empörung von Männern, die sich durch die Rasierklingenwerbung von Gillette herabgesetzt oder auch missverstanden fühlen. Gillette ruft in seinem Clip explizit in Bezug auf die #MeToo-Bewegung zu einer sanfteren, positiveren Männlichkeit auf.
Was Stokowski in ihrem Beitrag zu Recht festhält: dass Männlichkeit von vielen Seiten unter Druck geraten ist. So sehr, dass sie eigentlich Signum ist für alles, was der Gerechtigkeit der Welt im Wege steht: Bereitschaft für Action, Kraft, Stärke, Energie, Selbstbewusstsein, Durchsetzungsvermögen. Damit ist der Bogen eigentlich schon überspannt und es erstaunt nicht mehr, dass die Losung, die die Werbung, die Psychologie und die feministische Kritik für Männer ausgibt, auf einen Nenner zu bringen ist: Sich den Bart schön glatt rasieren und am besten auf Männlichkeit verzichten. Dies sei kein Problem, denn man könne sie ja in Weiblichkeit überführen, so der Schluss von Stokowskis Glosse. Boys will be girls.
Zensur
Spätestens hier stolpere ich als feministisch in den 80er- und 90er Jahren sozialisierte Kulturwissenschaftlerin über etwas, was uns damals ziemlich verdächtig war, nämlich über die (weibliche) Lust an Zensur. Sie artikulierte sich in den 90er Jahren nicht nur gegenüber sexistischer Werbung, sondern vor allem gegenüber der Pornographie. Die PorNO-Kampagne von Andrea Dworkin und Alice Schwarzer war etwas, was die feministische Geschlechtertheorie stark beschäftigte – sie hat zu überaus lohnenden Auseinandersetzungen über die sexuelle Differenz im Allgemeinen und über Pornographie als Phantasie und Realität im Speziellen geführt. Das Lohnendste, was ich davon mitgenommen habe, war die Erkenntnis, dass erotische, sexuelle und pornographische Phantasien auch Raum schaffen für die Komplexität von Liebesbeziehungen und Geschlechterrollen, weil die Ambivalenz der körperlichen Gefühle und die Instabilität der Geschlechtsidentität vielleicht nirgendwo grösser ist als im Niemandsland der sexuellen Anziehung.
Wenn man dieses Niemandsland anerkennt als etwas, was sich nicht besetzen lässt, weil es Männlichkeit und Weiblichkeit ständig neu zueinander in Beziehung setzt, dann schafft dies Offenheit. Solche Offenheit, die mich in meinen eigenen Forschungen zu pornographischer Literatur von Frauen auch theoretisch begleitet hat, scheint mir heute zu fehlen und lässt mich fragen, ob die Positionen der 90er Jahre noch zu halten sind. Exemplarisch stellte sich mir diese Frage schon in der Debatte um den Song «079» von Lo & Leduc, in welchem hartnäckig nach der Telefonnummer einer Frau gesucht wird, die den Mann so heftig begeistert hat, dass er darob den Kopf verliert. Die Schützenhilfe, die Tamara Fumicello für ihre Warnung vor diesem Song von männlicher Seite erhielt, zielte zurecht auf die hässliche Seite der medialen Kampagne gegen sie als Frau und Politikerin. Interessant ist dabei aber bis heute, dass das eigentliche Problem von Fumicellos Kritik in Polemik und Satire erstickt wurde – weil alle Polemik versucht, Gedanken nicht auszuführen, sondern abzukürzen.
Nie nämlich hat ein Mann zu erklären versucht, warum der Song «079» in seiner Absurdität auch gut ist, auch im Sinne eines Rollenverständnisses, das zum Märchen, aber auch zu Blues, Rock und Pop gehört. Niemand fragte mehr so genau danach, inwiefern der Song eine männliche Begehrensstruktur artikuliert, die auch eine weibliche sein könnte. Wie viele Songs der Popgeschichte müsste man eliminieren, wenn man haarscharf unterscheiden wollte zwischen Stalking und leisen Gewaltphantasien? Wie singt Katie Melua? «If you’re a piece of wood, I’d nail you to the floor». Ganz zu schweigen von all den Liebesgeschichten, die es nicht gäbe ohne eine bestimmte männliche Hartnäckigkeit.
Interessant ist auch: keine Frau versuchte zu erörtern, dass eine Politikerin, die öffentlich einen Popsong in einen direkten Zusammenhang mit realen männlichen Gewaltverbrechen stellt, eigentlich eine Grenze überschreitet, nämlich die Grenze zwischen Phantasie und Realität – eine Grenze, die auch bekannt ist als Verbot oder Zensur. Dass die Debatte um «079» von Lo & Leduc unter anderem darin gipfelte, dass die beiden Sänger als männliche Urheber nicht mehr ihren eigenen Song verteidigten, sondern sich schützend vor Tamara Fumicello stellten, verrät doch auch die Wirksamkeit dieser angedeuteten Zensur.
Aber geht damit nicht auch etwas verloren – für beide Geschlechter? Und was?
«Serotonin»
Es kann sein, dass dieses «Etwas» bei Michel Houellebecq, der auch in seinem neuen Roman Serotonin selbstverständlich an der ganzen #MeToo-Debatte vorbeischreibt, wieder auftaucht. Man könnte es die Wucht nennen, die aus der sexuellen Differenz kommt und die letztlich mit Liebe zu tun hat.
Diese Wucht trifft den Romanhelden auf einem öden spanischen Parkplatz beim Reifendruckmessen(!) wie eine Epiphanie oder eben als jene Serotoninausschüttung, die er später im Roman nur noch durch seine Antidepressiva erleben wird. Ohne Wenn und Aber erklärt hier eine am Bankrott laufende Männlichkeit, die alles Hässliche, was man über sie sagen kann, selber sagt: Es sind die Frauen mit ihrem Versprechen auf Glück, Liebe und Sex, die den Sinn seiner männlichen Existenz ausmachen. Nicht der Job, nicht die Politik, nicht Machtpositionen, nicht billige Urlaubsreisen, nicht das europäische Landwirtschaftsbudget, nicht der eingeschränkte Freihandel von Früchten retten diese ruinierte Männlichkeit, sondern die Frauen. Natürlich nicht alle Frauen. Ganz gewiss nicht seine emotional kalte japanische Gefährtin, die ihrem Mobilgerät ebenso verfallen ist wie ihrer Selbstinszenierung als Hobby-Pornoqueen.
Entscheidend ist somit in allen Phantasien und Äusserungen von Houellebecqs Antiheld, auch in jenen, die man als sexistisch oder nationalistisch taxieren kann, das absolut nicht ironisch gemeinte Eingeständnis eines männlichen Defizites in Bezug auf die Fähigkeit glücklich zu sein: «Männer verstehen im Allgemeinen nicht zu leben, sie sind nicht wirklich vertraut mit dem Leben» (S.165).
Somit ist Houellebecqs Sittengemälde von Frankreich (oder Europa) eigentlich ein sehr unsicheres Terrain oder ein Dokument tiefer männlicher Verunsicherung – und es scheint nur konsequent, dass sich diese Verunsicherung auch in einer sehr kontroversen Literaturkritik wiederspiegelt.
Häme und Hymnen
In der Schweiz wurde sie angeführt vom Abgesang auf den Roman durch den Republik-Autor Robin Detje; eine unzimperliche Kritik, die zum Schluss kommt, dass mit Houellebecq der Trumpismus in der Literatur angekommen sei. Dem Artikel folgte sofort ein giftiges oder süffisantes «Hau den Sack» («oder wie heisst der Mann?») in Kommentaren der sozialen Medien. Was mich hier zum einen irritierte, war einerseits die allgemeine Bereitschaft, Autor und Buch zu verwechseln. Die beliebte Metonymie (Vertauschung von Autor und Werk) ist sicher zum einen der neuen Gattung der «Autofiktion» geschuldet, mit welcher die Literaturkritik bereitwillig die Grenze zwischen Literatur und «politischer Gesinnung» verwischt – eine Grenze, mit welcher Houellebecq spielt, weil er damit spielen darf. Das ist die Voraussetzung der Freiheit der Literatur. Insofern ist nicht klar, ob Houellebecq nicht doch den Roman geschrieben hat, den sich sein Rezensent wünscht:
«Florent-Claude Labrouste könnte eine tolle Romanfigur abgeben: Don Quichotte mit erschlaffender Lanze im Sturm auf die Windmühlenmuschis. Ein klägliches Monster, ein trauriger Wüterich mit einer Rüstung aus allem möglichen ideologischen Schrott, den man am rechten Strassenrand findet. Ein Zeichen seiner Zeit, ein Verwandter der incels, dieser erniedrigten, beleidigten und gewaltbereiten Männerrechtler, und ihres Propheten Jordan Peterson.»
All das aber findet sich für Houellebecqs Antihelden im Roman härter ausformuliert als es eine feministische Kritik wagen würde – dachte ich mir. Dann wurde ich vom Rezensenten der ZEIT darauf gestossen, dass es nochmals komplizierter ist. Dass nämlich ein «journalistisch marktförmiger Feminismus», um nicht spiessig zu wirken, den Sexismus eines Houellebecq feiere und damit auch ein Geschlechtermodell des 18. Jahrhunderts begrüsse. Was ist nun damit wieder gemeint?
Tatsächlich gab es sehr positive Rezensionen von Frauen zu Serotonin. Eine wirklich gute stammt von Anne-Sophie Scholl in der az, die weniger pathetisch als Mara Delius in der WELT im Roman einen «aufregenden Interpretationsspielraum» entdeckt. Damit verweist sie auf die Offenheit, die sich aus dem Denken der Differenz ergibt, weil es ermöglicht, die Widersprüche konformistischer Geschlechterrollen zu durchqueren und damit alle die schwierigen Gefühle, die zu Männern wie zu Frauen gehören (Rassismus, Sexismus, Romantik, Konservativismus, Sehnsucht), für eine Weile wenigstens als Literatur zu geniessen. Marktförmiger Feminismus? Darüber müsste man sich wohl zwingend weiter verständigen. Sicher jedenfalls ist er nicht dort am Werk, wo Frauen auf die Offenheit, die sich aus der Verunsicherung von Männlichkeit ergibt, neugierig reagieren.
Vereindeutigung statt Neugier
Diese Neugier wäre so etwas wie der Gewinn der Stunde aus all den verunsichernden Effekten der #MeToo-Bewegung. Traurig am Zusammenschluss von politischer und literarischer Kritik ist jedoch die Verkürzung und die Vereindeutigung. Wenn mit politischer Korrektheit und Kritik am anderen Geschlecht zuviel Druck ausgeübt wird, sinkt nämlich sowohl die literarische Neugier wie die positive Spannung zwischen den Geschlechtern. Das müsste auch die weibliche Kritik berücksichtigen.
So war zum Beispiel das Gegenteil von Neugier am Werk, als die «grande dame» der deutschen Literarturkritik, Sigrid Löffler, in einer Sammelrezension vor Weihnachten gleich sechs Bücher von Männern abwatschte, weil sich die Männer darin zu sehr mit sich selber beschäftigen: «Während uns Frauen derzeit literarisch die Welt erklären, beschäftigen sich die schreibenden Männer nur noch mit sich selbst. Besonders beliebt: die Verklärung der eigenen Jugend zum Drama. Egal, wie mickrig und banal sie in Wahrheit gewesen sein mag.»
Klar: Ein ähnlich hämischer Abgesang von männlicher Kritik auf Bücher von Frauen wäre derzeit nicht möglich. Männliche Ausschlussmechanismen funktionieren leiser. Dennoch: Was ist mit einer solchen Aburteilung, die gleich sechs unterschiedliche literarische Auseinandersetzungen mit der eigenen (männlichen) Jugend für banal erklärt, gewonnen? Ist nicht das «marktförmiger Feminismus»? In den sozialen Netzwerken jedenfalls fand er sofort Applaus.
Mir ist er nicht geheuer: Es ist ein Applaus für den groben Schlagabtausch und für ein zensurierendes Denken, mit welchem man nicht nur Hunderte grosse Romane der männlichen Literatur, sondern auch Annie Ernauxs Jugenddrama Erinnerungen eines Mädchens beiseitelegen müsste. Wem sollte dies nützen? Irgendwann werden wir nämlich nur noch aus der strikt subjektiven Literatur etwas erfahren über den Unterschied zwischen den Geschlechtern, der in den diskursiven Oberflächen derzeit bereinigt wird.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Silvia Henke ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und Publizistin. Sie unterrichtet an der Hochschule Luzern Design & Kunst u.a. Kunst und Politik und visuelle Kultur. Forschungsschwerpunkte sind Kunst & Religion, künstlerisches Denken, transkulturelle Kunstpädagogik. Sie interessiert sich grundsätzlich für die Widersprüche der Gegenwart, wie sie auch in der Medienlandschaft auftauchen, und veröffentlicht regelmässig Texte und Kolumnen in Magazinen und Anthologien.
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann (Redaktion, Koordination), Silvia Henke, Mathias Knauer, Guy Krneta, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Matthias Zehnder.
Gut fundierte Übersicht über das Thema «Krise der Männlichkeit», die momentan zum Modethema eskaliert: Die Bedrohung der Männerwelt ist noch viel gravierender, wenn man sämtlich Irrungen und Wirrungen der Geschlechterbeziehung ad acta legt und diese neuesten wissenschaftlichen Einsichten und dem «Markt» unterstellt:
– Jeder Mann und jede Frau wird bisher von einer Frau geboren und wohl auch erzogen.
– Gezeugt werden sie bisher von Männern durch Beziehungen zur Frau, ob aus Liebe, freiwillig, gewaltsam ist nicht bekannt, aber es ist beinahe 8 Milliarden mal geschehen. Oft sicher ohne «Mitsprache» der Frau?
– Künftig würden wenige hundert Männer genügen, die ihre Spermien für Samenbanken zur Verfügung stellen. Marktpreise würden gelten.
– Emanzipiert Frauen mit Kinderwunsch könnten dann wählen: Mann? Frau?, Spitzensportler?, Künstler? Wissenschaftler? etc.
– Männer ohne besondere Eigenschaften brauchen wir nicht mehr, genau so wenig wie die männlichen Küken bei der Hühnerzucht oder bei den Stieren. (Das tun Menschen, nicht Hühner und nicht Kühe!)
Ich bin nicht sicher, ob Frauen sich eine solche Entwicklung wünschen, Männer wohl eher nicht?
Jetzt habe ich Houellebecq wohl an Sarkasmus noch übertroffen?
Ich frage mich, weshalb Frau Fumicello den Song 079 so negativ interpretiert. Ich wäre NIE auf die Idee gekommen, das als Stalking zu verstehen! Ich habe den Eindruck, dass es heutzutage Frauen gibt, die ihre einzige Befriedigung darin finden, die Männlichkeit zu kritisieren und als schlecht oder böse darzustellen. Nur Menschen, die unzufrieden mit sich selbst sind haben das Bedürfnis andere schlecht oder klein zu machen. Ich bin ganz klar gegen sexuelle Gewalt oder Ausbeutung. Doch die heutigen Auswirkungen der #MeToo Bewegung haben den Bogen schon längstens überspannt und schaden enorm den «wahren» Problemen. Die ganze #MeToo Bewegung wird ins Lächerliche gezogen und kann nicht mehr ernst genommen werden.
Lieder wurden schon immer auch dazu genutzt, um Geschichten zu erzählen und Phantasien oder Wünsche zu offenbaren. Meiner Meinung nach, zeugt das von krankhafter Konfliktgier, so ein Liedtext wie 079 als böse Realität zu verteufeln…
Ich würde mich glücklich schätzen, wenn ein Mann sich so hartnäckig für mich einsetzen würde. Welche Frau möchte denn nicht gerne «erobert» werden ?
Guten Tag, interessante Hinweise, besten Dank. Ich denke¸ Houellebecqs Wüstlinge sind eigentlich arme Teufel, weil sie sich ganz einfach mit der überspannten Vermarktung der Sexualität in der heutigen Zeit nicht mehr zu recht finden. Der Song 079 ist derart lächerlich, dass man sich als Politikerin wohl kaum darüber aufregen sollte, ist eben die einem überspannten Männerhirn entsprungene Phantasie (da hat Manni Matter selig bessere Texte gemacht). Lenken solche Geschichten nicht von wichtigeren Geschäften in der Politik ab? Mächtige Frauen machen bisher keine bessere Politik als Männer- und das wäre mal zu ändern.
"Männlichkeit unter Druck"
Druck macht Männlichkeit nur männlicher.