Kommentar

kontertext: Der Schiffbrüchige am Strand

Beat Sterchi © Alexander Egger

Beat Sterchi /  Seit Jahren verbringt der Autor lange Sommer in einem Bergdorf in der Region Valencia. Die spanische Welt auf Zeitungspapier.

Es empfiehlt sich bekanntlich aufzupassen, dass man nicht zu viel Zeitung und nicht die falschen Bücher liest. Diese Gefahren bestehen auch hier in Spanien. Aber heisst es nicht auch, wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um? Dazu kommt aber auch noch das Bedürfnis, den trügerisch idyllischen Alltag des Dorfes zu sprengen und aus der Abgeschiedenheit heraus auch mit der Ganzheit dieses grossen, weiten Landes in Berührung zu bleiben.

Wenn ich ins nahe Städtchen fahre, um die Zeitungen El País und La Vanguardia zu kaufen, schaue ich über die grenzenlosen Hügelketten der Nachbarprovinz Teruel hinweg und denke, dort weit hinten, dort ist sie die richtige Welt, und freue mich allen Kriegen und Katastrophen zum Trotz, wieder etwas mit ihr zu tun zu haben. Wäre ja noch schöner, wenn die Zivilisation, der ich mich zugehörig fühle, einfach weiter so den Bach hinunter ginge, ohne dass ich lesend dabei wäre.

Ich kenne hier Leute, die lesen nie eine Zeitung, und ich kenne Leute, die El País, das nach der Sportzeitung Marca auflagenstärkste Blatt des Landes, mit keinem Finger berühren würden, weil sie es für unerträglich links halten. Ich halte El País und La Vanguardia für zwei jener Qualitätszeitungen, denen nicht nur ich nachtrauern werde, wenn sie einmal nicht mehr in Papierform erscheinen. Dazu kommt, dass El País auch für ganz Lateinamerika eine massgebende Referenz darstellt.

Auch deshalb: Kaum hat man wieder öfter zu diesen Blättern gegriffen, wird einem bewusst, dass Spanien auf Grund seiner Lage und seiner Geschichte auch über die eigenen Landesgrenzen hinaus gross und weit ist. Afrika ist plötzlich ganz nah und Lateinamerika bekommt das Gewicht und die Bedeutung, die es verdient. Brasilien, Argentinien, Chile, Peru, Kolumbien, Venezuela, Nicaragua, Mexiko. Es passiert so viel auf diesem geschundenen, in diesen Tagen wieder sehr aufgewühlten Kontinent.

Natürlich gibt es auch Regionalzeitungen, sogar Lokalzeitungen unterschiedlicher Qualität. Die wichtigste der Provinz Castellón, El Mediterraneo, liegt hier in der Taverne des Dorfes täglich auf. Neulich war ich dabei, wie ein Nachbar sie sich unter den Arm klemmte und mitnahm. Die liest jetzt niemand mehr, ist sowieso immer das Gleiche, sagte er, und dann noch fast entschuldigend: Ich nehme sie wegen der Kreuzworträtsel.

Bei mir ist das anders. Die Lust, die selbstzerstörerischen politische Intrigen bis in die dunkelsten Abgründe hinein zu verfolgen, auch die Lust, sich zu laben an all den Fehlentscheiden mit den voraussehbaren fatalen Folgen, diese Lust ist vielleicht ungerechtfertigt, vielleicht sogar krankhaft, aber sie ist da. Wenn auch mit sich häufenden Einbrüchen.

Noch ist beim Lesen das Vergnügen gross und der Erkenntnisgewinn unbestritten, melden sich doch nicht wenige der interessantesten Autorinnen und Autoren der spanischsprachigen Welt in El País regelmässig mit ausgezeichneten Kolumnen und Kommentaren zu Wort.

Die vielen schwindelerregend schlechten Nachrichten sind ja eigentlich auch nur zu ertragen, wenn sie von klugen Köpfen in nachvollziehbare Zusammenhänge gesetzt werden. Und ja, auch in Spanien gibt es Leute, über deren Klarsicht man staunen muss. Nur weil die Politik ihre Augen verschliesst, heisst das nicht, dass niemand die wahren Probleme des Landes wahrnehmen würde. Und es gibt sehr wohl Stimmen, die einem helfen, dem alarmistischen Getöse mit Gelassenheit zu begegnen.

Allerdings wird es immer schwieriger, überhaupt an die Zeitungen ranzukommen. Es gibt gigantische Supermärkte, in welchen es alles zu kaufen gibt, nur nicht die Presse. Ist man in einer grossen Stadt unterwegs, stellt man fest, dass die traditionellen Kioske langsam verschwinden. Damit ich mich meinem Lesevergnügen hingeben konnte, musste ich neulich mitten in Madrid mehrere Häuserblöcke umrunden, bis ich endlich einen Verkaufsstand fand.

Leider gibt es aber auch in El País immer wieder Meinungsbeiträge berühmter Zeitgenossen, bei denen man sich fragt, warum sie gedruckt werden. Beispielsweise scheint der Name des Nobelpreisträgers Vargas Llosa so verkaufsfördernd zu sein, dass dieser grosszügig über mehrere Spalten hinweg Plattitüden über den Krieg in der Ukraine ausbreiten darf, auch eher schamlos einfach wiederholt, was schon oft gesagt und geschrieben worden ist.

Bei so grossen Namen scheinen Redaktionen und Lesende zu vergessen, dass sie das alles auch schon selbst gedacht haben. Vermutlich geht das bei Vargas Llosa auch durch, weil er seine Banalitäten in sehr gediegenen, ausgewogenen Sätzen aneinanderreiht.

Wobei angemerkt werden muss, dass ich von Vargas Lllosa sehr gute Bücher gelesen habe, auch zahlreiche, klar formulierte und sehr erhellende Artikel. Wenn er sich aber heute für Leute wie Bolsonaro ausspricht oder aus irgend einem Grund meint, Kissinger als alten, erfahrenen Weisen bezeichnen zu müssen, dann dürfte bei Leserinnen und Lesern, die weder Pinochet, noch Nixon und Vietnam vergessen haben, die Toleranzsicherung durchbrennen, und das oben erwähnte gute Gefühl, sich lesend in kluge Gesellschaft begeben zu können, stellt sich dabei nicht ein.

Den Hut zieht man aber sehr gerne vor Leuten wie Manuel Vicent. Der valenzianische Romanautor schreibt seit Jahrzehnten jeden Sonntag hinten auf El País einen oft unvergesslichen, immer aber lesenswerten Text. Es sind witzige, zunehmend desillusionierte Stellungnahmen zur Politik, aber auch kleine Oden an das Leben am Mittelmeer, an die kleinen Dinge des Alltags, die auch in schwierigen Zeiten das Salz des Lebens bilden.

Noch nie las ich bei Manuel Vicent auch nur die winzigste Bezugnahme auf die sogenannten sozialen Medien, wohl aber auf die ganz grosse, das heisst auf die klassische Literatur, die möglicherweise noch dann zitiert werden wird, wenn niemand mehr weiss, was beispielsweise Twitter für ein vermeintlich unverzichtbares Spielzeugmedium einmal gewesen war.

Tatsächlich wirkt es befremdend, mit welcher Selbstverständlichkeit auch die respektablen Zeitungen voraussetzen, man sei daran interessiert, wie etwas in den sozialen Netzwerken aufgenommen worden sei. Dabei kann dies für einen Aussenseiter wie mich nichts anderes bedeuten, als dass ein Haufen von Überschriftenleserinnen und ein ebenso grosser Haufen von funktionalen Halbanalphabeten irgendwo einen Klick hinterlassen konnten, ohne dass sie diese «Meinungsäusserung» auch nur eine halbe Minute Überlegungsarbeit gekostet hat.

Gut, zugegeben: man kann sich irren.

Möglicherweise gibt es aber einen Zusammenhang zwischen diesen Netzwerken und dem weitverbreiteten Übel, über gesellschaftliche Entwicklungen in der Wir-Form zu schreiben.

Heisst es nicht, diese Plattformen würden Blasen bilden? Längst müsste dem Wort «wir» auch so etwas wie ein Sternchen verpasst werden. Allerdings eines das ausschliesst. Wie oft habe ich schon gestaunt, was «wir» alles tun oder nicht tun, ohne mich im geringsten einbezogen zu fühlen. Wie lässt sich diese Selbstbezogenheit in diesem «wir» so vieler Autorinnen und Autoren erklären, wenn nicht damit, dass sie aufgehört haben, sich ernsthaft für die Anderen oder das Andere zu interessieren und die Schublade, in der sie stecken, für die Welt halten?

Nicht unerwähnt bleiben darf hier der gerade in diesen Tagen überraschend verstorbene Javier Marias. Dieser erfolgreiche Schriftsteller und Kolumnist, wurde einst von dem Zeremonienmeister eines gewissen literarischen Quartetts auch auf Deutsch in den siebten Bücherhimmel befördert. Javier Marias war der spanische Voltaire der Stunde. 25 Jahren lang lieferte er im Magazin von El País einen jener Meinungsbeiträge, die man sich in ihrer Dezidiertheit weder in einer WoZ noch in einer NZZ vorstellen könnte.

Zwar schrieb er manchmal auch etwas selbstgefällig, wenn nicht sogar narzisstisch, aber immer brillant, fadengrad direkt, mutig gegenüber jeder Partei, absolut ohne Rücksicht auf Verluste, glasklar und politisch so inkorrekt, dass man beim Lesen jubelt und vor Neid erblasst.

Dieser in der Politik übliche, konfrontative Stil ist in der regierungskritischen Presse rechts der Mitte allerdings gang und gäbe, wenn auch weniger intelligent fundiert als bei Marias.

Jemand hat mal gesagt, die bürgerliche Zeitungslektüre am Morgen ersetze das Gebet. Das trifft hier in Spanien definitiv nicht zu. Bei den oppositionellen Blättern nicht, weil sie vorwiegend die Schimpftirade pflegen und zwar mit einem Ausmass an Spott und Häme und sogar Hass, dass man seinen Augen nicht traut. Weil aber auch die Hiobsbotschaften aus dem Inland, wie mir scheinen will, nie ein Ende nehmen, können weder El País noch La Vanguardia viel Erbauendes bieten.

Lange ist es her, dass man stolz darauf war nicht vom Wetter zu reden. Heute geht es nicht mehr anders: Spanien brannte und brennt in diesem Sommer wie noch nie. Spanien trocknet aus. Und zwar in einem besorgniserregenden Tempo. Und während der Meeresspiegel steigt, versalzt sich das Grundwasser.

Dazu kommt, dass das Land zerstritten, von Arbeitslosigkeit und einer besonders hohen Inflationsrate geplagt ist. Hier öffnet sich die soziale Schere noch schneller als andernorts.

So fühle ich mich nach dem Lesen der Zeitung immer öfter weder gewappnet für den Tag noch vorbereitet für die Zukunft. Weil ich mich so oft eher runtergezogen als gestärkt fühle, kommt es vor, dass ich mich dabei ertappe, wie ich vieles einfach nicht mehr lesen kann und auch nicht will, und wie ich mich vielen Themen verweigere. Sollen die mexikanischen Drogenkartelle doch bitte ohne mich weitermorden! Was soll ich in Afghanistan? Schon nur beim Namen Daniel Ortega oder beim Namen dieses einen Amerikaners befällt mich so viel Fremdscham, dass ich denen keine Sekunde Aufmerksamkeit mehr gönne. Und nein, ich will nicht wissen, wie viele Vollidioten sich jedes Jahr bei den Stiertreiben in den Dörfern und Städten der Region oder bei irgendwelchen bekloppten, aber angesagten absurden Mutproben ums Leben bringen. Was geht es mich an, dass Schönheitsoperationen immer populärer werden, aber häufig auch schief gehen? Sollen die Leute bitte ohne mein Mitwissen mit der verpfuschten Nase rumlaufen.

Während es mir tatsächlich gelingt, zunehmend gewisse Artikel wegzublättern, schaffe ich dies bei den Presse-Bildern einfach nicht. Den vielen, fotografisch glänzenden Bildern von Krieg und Elend, von Not und Tod, kann man einfach nicht ausweichen.

Wenn ich diese Bilder nicht richtig zur Kenntnis nehme, komme ich mir vor wie die Frau auf einem bestimmten Bild, das mich seit Jahren verfolgt. Es ist das Bild einer weissen Frau, die sich an einem südspanischen Strand auf einem Liegestuhl von der Sonne bräunen lässt und dabei den schwarzen Mann ignoriert, der wenige Meter neben ihr als Schiffbrüchiger, zerlumpt und zu Tod erschöpft aus der Brandung an Land kriecht.

Deshalb kaufe ich morgen doch wieder El País und La Vanguardia, den unzähligen dem Tod der Queen gewidmeten Artikeln zum Trotz.

Wer möchte schon sein wie jene Frau auf ihrem Liegestuhl?


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Beat Sterchi ist freier Autor. Vor «Capricho» (Diogenes 2021) veröffentlichte er die Reisereportage «Going to Pristina» (essais agités 2018) und den Lyrikband «Aber gibt es keins» (Der gesunde Menschenversand, 2018).
www.beatsterchi.ch

Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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