Kommentar
kontertext: Blütezeit der Desinformation
Im Licht einer Strassenlaterne sucht ein Mann eifrig nach seinem verlorenen Schlüssel. Ein Polizist, dessen Aufmerksamkeit er erweckt, hilft ihm dabei – aber auch mit vereinten Kräften finden sie nichts. «Schliesslich will der Polizist wissen, ob der Mann sicher ist, den Schlüssel gerade hier verloren zu haben, und jener antwortet: ‹Nein, nicht hier, sondern dort hinten – aber dort ist es viel zu dunkel.›»
Was wir als Witz auch von Dällebach Kari kennen, diente dem österreichisch-amerikanischen Kommunikationsforscher Paul Watzlawick als sprechendes Beispiel. Anfang der 1980er Jahre hat der meisterliche Analytiker der selbsttäuschenden und fehlgeleiteten Kommunikations- und Problemlösungsstrategien beschrieben, wie Menschen zu negativer Selbstbeschwörung neigen (einer Form der «self-fulfilling prophecy») oder ergebnislose Taktiken wählen, die ein Problem nicht anpacken, sondern ganz im Gegenteil verewigen («more of the same»). Das Beispiel mit dem Schlüssel gehört zum letztgenannten Genre, weil die Investition in die vermeintliche ‹Lösung› buchstäblich am falschen Ort stattfindet. Das Neurotische daran ist, so Watzlawick, dass die einmal gewählte Strategie keiner neuerlichen Prüfung unterzogen und der ausbleibende Erfolg gerade dadurch erklärt wird, dass bisher noch zu wenig Energie in dieselbe gesteckt worden sei.
So bleibt im Dunkeln, worum es eigentlich geht, während der Scheinwerfer und die Wahrnehmung auf einen anderen Schauplatz gelenkt wird, obschon klar ist, dass das nirgendwohin führen kann, sprich: nicht zur Beseitigung des Problems beiträgt. In medialen Zusammenhängen kann man die Fehlleitung von Aufmerksamkeit in diesen Wochen allerorten beobachten:
Als die deutsche Kapitänin Carola Rackete nach über zwei Wochen des ergebnislosen politischen Seilziehens ohne Erlaubnis 40 Flüchtlinge in Lampedusa an Land brachte, enthüllte die italienische Tageszeitung «Libero» «ein Detail, das vielen entgangen ist», nämlich dass sie in der Öffentlichkeit keinen BH getragen habe. Nachdem in Österreich ein Autolenker zwei Kinder totfuhr, die sich in einem Fahrradanhänger befunden hatten, schrieb der «Kurier» darüber, dass zwei Mädchen auf einer Landstrasse «verunglückten», und debattierte die Gefährlichkeit von Radanhängern für Kinder (Kurier 5.8.2019, hinter Paywall). Ein Klassiker für dieses Muster ist natürlich auch das Thema globale Erwärmung, wie Edgar Schuler Anfang Juli im «Tages-Anzeiger» illustrierte, als er sich Gedanken dazu machte, weshalb SVP-Exponent Roger Köppel nicht als «Klimaleugner» bezeichnet werden könne, da dieser, ganz d’accord mit der Wissenschaft, davon ausgehe, dass sich das Klima «seit Jahrmillionen» verändere.
Natürlich bleibt solche Berichterstattung nicht unwidersprochen, der Schaden aber ist immer schon angerichtet. Anstatt das Komplettversagen der europäischen Flüchtlingspolitik und die Kriminalisierung von Seenotrettung anzusprechen, geht es um Busenfreiheit. Ein «freenippelday» wurde als Antwort auf die sexistische Darstellung Racketes ausgerufen, was wiederum die Urheber von frauenfeindlichen Ansichten in ihren Überzeugungen befeuert haben mag, wovon kein einziger Flüchtling gerettet wird. Im Auto-Fahrradanhänger-Fall wurde die zynische Verdrehung zwischen Aggressor und Opfer journalistisch genau aufgezeigt («Die Presse», 13.8.2019), was aber die Strassen für die schwächeren Verkehrsteilnehmer noch nicht sicherer macht. Und durch die krampfhaft künstlich am Leben erhaltene Pseudo-Debatte darüber, wer Klima(wandel)leugner als Etikett verdient habe, ist noch kein einziges Gramm CO2 in der Schweiz eingespart worden.
«Die Lösung des Problems merkt man am Verschwinden dieses Problems», pflegte Watzlawick den Philosophen Ludwig Wittgenstein zu zitieren. Und wir stellen in Bezug auf die hier genannten (und viele weitere mögliche) Beispiele fest: Es sind immer noch alle Schwierigkeiten da! Die Arbeit aber, die für die Richtigstellung und den Widerspruch, für Gegenreaktionen und besonnene Analysen aufgewendet wird, absorbiert gigantische Mengen an geistiger Energie und bindet die Schaffenskraft von vielen Menschen, die andernorts – nämlich bei der Lösung der Probleme – dringend gebraucht würden.
Aus rechtspopulistischer Sicht kann man es als grossen Erfolg deuten, wenn sich der mediale Einflussbereich auf fehlgeleitete Aufmerksamkeits- und Empörungsschleifen beschränkt. Der Verdacht liegt nahe, dass diese Ablenkungsmanöver nicht nur angeregt werden, um Zeit zu schinden und Handeln zu verhindern, sondern auch mit dem Ziel, diejenigen, welche die Probleme benennen, aus dem medialen Diskurs zu verdrängen: «Die Analyse rechtspopulistischer Kommunikation zeigt, wie begrenzt die tatsächlichen politischen Angebote sind, sie bieten keine Lösungen für Rentenunsicherheit, Wohnungsknappheit, Umwelt-, Gesundheits- und Care-Krise. Rechtspopulistische Wortführer leben von der Feindbildbedienung, ihr Ziel ist es, mit ‹verbalem Posing› (Andreas Kemper) an die Macht zu kommen.» (Die Soziologin und Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach im Gepräch)
Während dieses Sommers erreichten die «Feindbildbedienung» und das rechtspopulistische Agenda-Setting einen neuen Höhepunkt und bescherte der Desinformation eine prächtige Blütephase ihres unseligen Daseins. Fast scheint es, als ginge es nicht einmal mehr darum, falsche Dinge («Fake News») zu verbreiten oder andere dessen zu bezichtigen. Teilweise machte man sich nicht mal mehr die Mühe, die Stories, die seit langem fleissig am Köcheln gehalten wurden, gemäss irgendeinem Rezept zu verfeinern. Was an Greifbarem herumlag, wurde in den Sud geschmissen. So hält Edgar Schuler im oben genannten Artikel den Begriff «Klimaleugner» für «einen Kampfbegriff aus der untersten Schublade», in dem, «man hat es schon fast vergessen», der «Holocaustleugner» nachklinge. Dieselbe Masche der wahllosen Vermengung von irgendwelchen Story-Zutaten kann man aktuell in Bezug auf die Umweltaktivistin Greta Thunberg beobachten. Einmal wurde versucht, sie als PR-Agentin zu enttarnen (infosperber berichtete). Kurz darauf kaprizierten sich gewisse Medien darauf, Greta Thunberg Ähnlichkeiten mit Donald Trump nachzuweisen: «in manchem ist sie gar Trump ähnlich» («Tages-Anzeiger» bzw. «Süddeutsche Zeitung», 15.8.2019). Diese Behauptung ist so absurd, dass sie eigentlich nicht eine Sekunde unserer kostbaren Lebenszeit verdient hätte, wenn sie nicht auf die totale Kapitulation einer journalistischen Haltung in Zeiten von «Fake News» deuten würde: Auf dem Altar der Aufmerksamkeit wird auch noch das letzte Fünkchen Differenzierungsfähigkeit geopfert.
In Watzlawicks Version der Geschichte mit dem verlorenen Schlüssel ist der Mann unter der Laterne ein Betrunkener. Das tut hier aber nichts zur Sache. Zumal ja diejenigen, welche meine und die Wahrnehmung vieler in das von ihnen selbst konstruierte Rampenlicht zerren wollen, topfnüchtern sind und dies mit Kalkül tun.Für sie mag es kein Trost sein, dass das entsprechende Buch Watzlawicks «Anleitung zum Unglücklichsein» heisst.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Ariane Tanner ist Historikerin und Texterin aus Zürich. Aktuell wandert sie zwischen Forschung, Unterricht und Kunst. Interessensbindungen: Keine.
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann (Redaktion, Koordination), Silvia Henke, Mathias Knauer, Guy Krneta, Robert Ruoff, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Matthias Zehnder.
Mit ihrer Meinung zu Desinformation und Ablenkung bin ich grundsätzlich einig.
Jedoch fällt auf, dass der Begriff «Rechtspopulistisch» sehr häufig fällt. Genauso gibt es einen sehr oberflächlichen Linkspopulismus. Und vermutlich sind beide Pole meist nur dazu da um Menschen mit Pauschalen wie rechts oder links zu spalten und abzulenken. Statt über konkrete Ursachen und Lösungen zu diskutieren.
Während Rechts- wie Linkspopulisten vermutlich unter ihrem oberflächlichen Deckmantel eigentlich sehr aehnliche Ziele verfolgen: Wirtschaft und Wachstum. Europäer haben wenig Nachwuchs. Und der Turbokapitalismus braucht mehr Konsumenten und günstige Arbeitskräfte um noch mehr zu wachsen.
Dies geschieht auf Kosten der Ansässigen, wie auch Flüchtlingen. Waehrend Krieg, Wirtschatfliche Zwangsjacken «politisch korrekt» und voll i.O. sind und kein einziger Politiker über tiefergreifende Ursachen diskutiert.
Vielleicht sind daher auch sie selbst, in eine Falle, Ablenkung.. Desinformation, getappt. Ohne Vorwurf.
Unkontrolliert offene Grenzen ohne Ursachen-Behebung kann nicht die Lösung sein. Und Fremdenhass oder Menschenfeindlichkeit, noch weniger.
Zusammenfinden. Uns nicht blenden lassen. Und gemeinsam die heuchlerisch, menschenfeindlichen Hintergründe und Absichten verstehen.
Trotz Kritik and Lobbyismus und Empathie für Umwelt stehe ich einer gehypten Greta kritisch gegenüber. Vorallem, falls als «Lösung» den Ärmsten, einmal mehr, eine CO2 Steuer auferlegt wird.
http://www.du-bern.ch