Kommentar
kontertext: Abwesende Täter und oberste Richter
«Schwer verletzt hat sich eine Autofahrerin, die am vergangenen Freitagabend mit einer Leitplanke kollidierte. Die Unfallursache ist ungeklärt…» Ein Selbstunfall?
«Ein Velofahrer hat sich schwer verletzt, als er vom Hinterrad eines Lastwagens erfasst wurde. Er verstarb auf dem Weg ins Spital.»
Wie bitte? Hat sich der Velofahrer unter den Lastwagen geworfen?
Ein irritierender sprachlicher Wandel ist zu beobachten. Im neuen Sprachgebrauch hat sich jeder, der verletzt wurde, selbst verletzt. Praktisch alle Unfallmeldungen, die in einer Zeitung zu lesen oder im Radio zu hören sind, berichten von Opfern, die sich verletzt haben.
Nun ist die Formulierung sprachlich nicht falsch, aber manchmal irreführend. Einer, der stolpert und dabei die Treppe hinunterfällt, kann sich dabei verletzen, aber einer, der angefahren wird, wird verletzt – von einem andern oder dessen Fahrzeug, wie auch immer. Eine, die in einem Zug sitzt, der entgleist, wird dabei verletzt – sie hat sich nicht selber verletzt.
Kleine Verschiebungen verändern den Sinn
Ich sinniere: Wo entstand diese neue Sprachregelung? Hat sie ihren Ursprung in den Unfallmeldungen der Polizei? Ist sie Ausdruck eines unsicheren Sprachgebrauchs, der sich neutral und nicht vorverurteilend geben will? Was machen Journalisten mit solchen Meldungen? Übernehmen sie sie mechanisch und unreflektiert? Oder verbirgt sich tatsächlich dahinter eine Absicht? Einer, der in einen Unfall verwickelt ist, ist selber schuld? Hier reden wir jedenfalls nicht von Täter und Opfer. Verkehrsunfälle sind individuelles Alltagsschicksal.
Oder ist es einfach Trägheit, wenn Journalisten solche Meldungen wortgetreu wiedergeben, ohne zu reflektieren?
Aber vielleicht ist das zu weit gesucht. Vielleicht liegt es einfach am Zeitgeist. Wo kämen wir denn hin, wenn wir ständig hinterfragen wollten, wer für das Unglück anderer verantwortlich ist.
Unfallmeldungen sind kein Feld der politischen Berichterstattung. Sie berichten über menschliches Unglück, und das interessiert bekanntlich die Leser. Und trotzdem können derartige Meldungen unsere Wahrnehmung verändern, sie könnten sogar manipulativ sein allein durch Zufügen eines Pronomens.
Wer sitzt da «oben»?
Etwas anders verhält es sich mit gängigen Modewörtern, sie sind meistens originell und süffig und scheinbar unpolitisch, auch wenn sie durchaus manipulativ sein können. Wenn in einer Medienberichterstattung oder in einem Interview eine Fachperson zu einem bestimmten Thema befragt wird, dann wird sie oft überhöht, indem man sie zum Beispiel als «der oberste Lehrer» oder «der oberste Bauer» bezeichnet. Beide sind jedoch lediglich Präsidenten eines schweizerischen Berufsverbandes und können unmöglich im Namen eines ganzen Standes reden. Auf welche Wirklichkeit sich eine solche Konstruktion der «obersten» Stelle abstützt, bleibt offen. Das gilt auch, wenn vom «obersten Polizisten des Landes» die Rede ist oder vom «obersten Richter». Mit der ganzen Übung soll die Ausstrahlung und Kompetenz einer Person künstlich gesteigert werden. Es sind vor allem Männer, die zu «obersten» hochstilisiert werden. Ich habe ein solches Attribut für Frauen noch nie gehört oder gelesen. Aber das ist vielleicht ein Nebengeleise. Zentral ist die Betonung der Hierarchie; es wird suggeriert, dass die Gesellschaft hierarchisch geordnet ist und es immer ein «oben» und «unten» geben muss.
Es geht um Haltungen
Alles halb so schlimm, könnte man jetzt entgegnen, das sind doch Lappalien. Und vielleicht steckt gar keine manipulative Absicht dahinter. Das ist durchaus möglich, aber solche kleinen Verschiebungen zeigen subtile Veränderungen in der Gesellschaft an. Mit dem Sprachgebrauch sind immer auch Haltungen verbunden. Dessen sollten sich Medienschaffende wieder vermehrt bewusst werden und Lerserinnen oder Zuschauer müssten ihre Aufmerksamkeit dafür schärfen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Die Journalistin und Autorin Linda Stibler war über 40 Jahre in verschiedenen Medien tätig, unter anderem in der damaligen National-Zeitung, in der Basler AZ und bei Radio DRS (heute SRF).
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann, Silvia Henke, Anna Joss, Mathias Knauer, Guy Krneta, Johanna Lier, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Heini Vogler, Rudolf Walther.
Das liegt nicht zuletzt daran, dass immer weniger Journalisten oder solche, die sich so nennen, die deutsche Sprache wirklich beherrschen. Beispiele gibt es täglich Hunderte auf den Online-Portalen der Medien, vom BLICK bis zur NZZ. Von horrenden Orthografiefehlern bis zu falschen Satzkonstrukten ist da alles vorhanden. Und Kommas sind offensichtlich dazu da, nach Belieben gesetzt zu werden.
Die Journalisten sind dabei in guter Gesellschaft mit den Primarlehrern, die den Schülern deutsche Rechtschreibung und korrekte Anwendung der deutschen Sprache beibringen sollten, aber diese selber nicht wirklich beherrschen. (Ich habe eine Zeitlang die «Lehrerzeitung» korrigiert, was ich da zu lesen bekam, war zum Teil haarsträubend.)
Vielen Dank für den Artikel, der ausschreibt, was mich stets auch umtreibt. Wie bei guten Artikeln üblich, setzt der Schlusssatz einen Höhepunkt des Textes – diesmal allerdings unfreiwillig. Hätte Frau Stibler ihrem Tippfehler noch ein zusätzliches «n» spendiert, hätte sie eindrücklich zusammengefasst, was der Kern des Textes ist: Wir sind alle «Lernserinnen», die täglich die Richtung unseres Denkens neu gelehrt bekommen.