Journalisten jagen einen 26-Sekunden-Film
Fünfzig Jahre sind es her: Am 22. November 1963 sind die USA im Schock. Präsident John F. Kennedy ist in Dallas gegen 12. 30 Uhr im offenen Auto erschossen worden. Als Täter wird später Lee Harvey Oswald gefasst. Richard B. Stolley, Büroleiter des «Life»-Magazins in Los Angeles, fliegt im Auftrag seiner Chefs sofort nach Dallas, Texas.
Jetzt blättert Stolley im Telefonbuch nach dem Namen «Zap-proo–dur» oder ähnlich. Eine Kollegin gibt ihm um 6 Uhr abends telefonisch einen Tipp. Der Mann dieses Namens habe das Attentat von der Dealey Plaza aus gefilmt, habe ein Polizist einem Kollegen erzählt. Da findet Stolley unter Z, was er sucht: Zapruder, Abraham. Er telefoniert. Keine Antwort. Er versucht es alle 15 Minuten. Nichts.
Um 11 Uhr Abends endlich antwortet eine müde Stimme. Stolley stellt sich als «Life»-Journalist vor und fragt, ob es sich um Mr. Zapruder handle. Der Mann sagt: «Ja.» – «Stimmt es, dass Sie die Ermordung des Präsidenten gefilmt haben?» – «Ja». – «Haben Sie den Film entwickeln lassen und sich angesehen?» – «Ja». – «Kann ich jetzt zu Ihnen nach Hause kommen und mir den Film anschauen?» – «Nein».
Zapruder war ein passionierter 8-mm-Filmer
Abraham Zapruder (58) stammt aus der Ukraine. Die Zapruders emigrieren 1920 in die USA und lassen sich in New York nieder. Als Erwachsener findet er einen Job in der Textilbranche; 1941 zieht er mit seiner Familie nach Dallas und wird Mitinhaber einer Kleiderfirma mit Büros in der Nähe der Dealey Plaza. Zapruder ist ein passionierter 8-mm-Filmer. Auch am 22. November 1963 kurz nach Mittag. Was er noch nicht weiss: Er wird einen Film für die Weltgeschichte drehen.
Stolley insistiert nicht, als Zapruder ihn am Telefon abweist. Er spürt instinktiv, der Mann ist müde und aufgewühlt, da darf er nicht die Brechstange hervorholen. Stolley: «Ich erklärte, ich verstünde ihn. Zapruder war sichtlich erleichtert und sagte, ich solle am nächsten Morgen um 9 Uhr in sein Büro kommen.» Stolley war klar, dass er nicht der einzige Reporter war, der mit Zapruder gesprochen hatte. Also klingelt er am Tag darauf bereits um 8 Uhr an Zapruders Tür.
Zapruder öffnet und ist überrascht. Er sagt Stolley, er wolle den Film gerade zwei Geheimdienst-Agenten vorführen und bittet ihn trotz allem hinein. Der Projektor ist in einem fensterlosen Raum aufgestellt. Die ersten Bilder zeigen Angestellte Zapruders, die mit ihm auf den Präsidenten warten. Dann taucht die Autokolonne in der Elm Street auf. Der Film läuft tonlos, begleitet nur vom Geräusch des Projektors.
«Wie ein Schlag in die Eingeweide»
Die Gruppe schaut gebannt hin. Nach ein paar Sekunden greift sich Kennedy an den Hals. Er wurde von einem Schuss getroffen. Wenig später schleudert eine Kugel seinen Kopf nach hinten, sie hat ihm die halbe rechte Gesichtshälfte weggeschossen. Stolley: «Die drei Agenten und ich reagierten gleichzeitig mit einem explosiven ‹Ahh!›, als ob wir einen Schlag in die Eingeweide erhalten hätten. Es war der dramatischste Moment in meiner 70-jährigen journalistischen Karriere.»
Jackie Kennedy klettert wie von Sinnen im offenen Wagen nach hinten auf der Suche nach dem Gesichtsteil; ein Agent, der auf die Stossstange des Autos gestiegen ist, stösst sie zurück. Zapruder zeigt den 26 Sekunden langen Film drei Mal. Danach schwört sich Stolley: Er wird dieses Haus nicht ohne Film verlassen. Das Problem ist bloss: Er ist nicht der einzige Reporter, der das Material unbedingt will.
Zwei Dutzend Reporter sind da
Als die Filmvorführung beendet ist, hört Stolley Lärm, der draussen vor der Türe aus der Eingangshalle kommt. Es sind Reporter, die wie er von Zapruder auf 9 Uhr bestellt worden sind. Etwa zwei Dutzend, so schätzt Stolley, stehen sich auf den Füssen herum und sprechen durcheinander – die Nachrichtenagentur AP ist da, die Magazin-Konkurrenz und Reporter lokaler Blätter. Die drei grossen nationalen TV-Sender sind nicht vertreten.
Zapruder erklärt Stolley und den Agenten, dass er den Film nun den andern zeigen werde. Die Agenten gehen, Stolley fragt, ob er sich in Zapruders Büro zurückziehen dürfe. Der willigt ein. Im Büro trifft er auf Zapruders Assistentin Lilian Rogers. Sie stammt wie Stolley aus dem Bundesstaat Illinois. Sie verstehen sich sofort glänzend, was Zapruder ebenfalls feststellt, als er kurz im Büro auftaucht.
Nach den Vorführungen bittet Zapruder Stolley zu den anderen in die Halle. Er sagt, er wisse, dass jeder Anwesende mit ihm über die Print- und Filmrechte verhandeln wolle, aber «weil Mr. Stolley von ‹Life› der erste war, der mich kontaktierte, fühle ich mich verpflichtet, zuerst mit ihm zu sprechen». Es hagelt Proteste. Die andern schreien: «Nein, nein!» – «Unterschreiben Sie nichts.» – «Versprechen Sie, dass Sie mit uns sprechen, bevor Sie Ihre Meinung gemacht haben.» Stolley aber ballt innerlich die Faust.
Stolley nennt einen Preis, Zapruder lächelt
Zapruder und Stolley ziehen sich ins Büro zurück und schliessen die Tür. Zapruder sieht müde aus, aber Stolley muss sofort checken, ob Zapruder weiss, welchen Handelswert der kurze Film hat. Stolley sagt, er sei «sehr interessiert» am Material und «Life» sei bereit, im Fall von «ungewöhnlichen» Bildern wie hier mehr als üblich zu zahlen, nämlich 5’000 Dollar (umgerechnet auf heute: über 10’000 Dollar).
Zapruder lächelt und Stolley merkt, dass er sein Angebot erhöhen muss. Das tut er laufend, während die beiden über die Tragik des Ereignisses sprechen. Zapruder erzählt Stolley von seinem Alptraum, in dem ein Marktschreier am Times Square in New York vor einem schmierigen Theater die Leute hinein bittet, um sich an der Ermordung des Präsidenten zu weiden. Er sei schaudernd im Bett aufgewacht. Stolley versteht die Botschaft und versichert Zapruder, dass «Life» den Film nicht «ausschlachten» werde. Es geht hier namentlich um die Szene, in der Kennedy ein Teil des Kopfes weggeschossen wird.
Inzwischen ist es in der Halle unruhig geworden. Die anderen Journalisten poltern an die Türe: «Erinnern Sie sich an das Versprechen!» Andere schieben Zettelchen mit Bitten unter der Türe hindurch oder verlangen aus Telefonzellen in der Nähe mit Anrufen ins Büro, Zapruder zu sprechen, der von Minute zu Minute verärgerter wirke, so Stolley.
Zapruder leise: «Machen wir den Deal»
Stolley hat mittlerweile sein Angebot auf 50’000 Dollar für die Printrechte erhöht. Die Limite, für die er sich zuvor bei einem mitternächtlichen Gespräch bei der Redaktion rückversichert hatte. Er könne nicht höher gehen, sagt Stolley Zapruder, ohne sich nochmals mit seiner Redaktion abzusprechen. In diesem Moment knallt es besonders heftig gegen die Türe. Zapruder erschrickt und sagt leise zu Stolley: «Machen wir den Deal.»
Stolley setzt einen Vertrag auf und verlässt das Haus mit dem Film durch die Hintertüre. Wenig später legt «Life» für die Film- und TV-Rechte 100’000 Dollar nach, publiziert ausführlich Bildstrecken, macht den Film aber nicht öffentlich. Das geschieht auf Verlangen der Staatsanwalts erst 1969 im Rahmen eines Prozesses, der die Oswald-Einzeltäterthese in Zweifel zieht.
«Sie waren ein Gentleman»
Lange nachdem Zapruder 1970 gestorben war, traf sich Richard Stolley mit dessen früherem Geschäftspartner Erwin Schwartz, um einige Fragen jenes Tages zu klären. Plötzlich fragte Schwartz: «Wissen Sie eigentlich, warum gerade Sie und nicht anderer den Film erhielt?» Stolley, überrascht, antwortete: «Das Geld.»
Schwartz verneint. Sicher hätte jemand anders gleichviel oder noch mehr geboten. Stolley: «Unser Versprechen, den Film nicht auszuschlachten.» Das sei sehr wichtig gewesen, so Schwartz, aber nicht entscheidend. Schliesslich fragt er nochmals nach und gibt anschliessend die Antwort gleich selber: «Weil Sie ein Gentleman waren.»
Stolley habe Zapruder nach dem nächtlichen Anruf und dessen Veto, sich den Film sofort anzusehen, nicht weiter belästigt, während der Verhandlungen habe er ihn mit Respekt behandelt und schliesslich sei er der Assistentin Lilian Rogers gegenüber ausgesprochen herzlich gewesen. Andere Reporter hätten Rogers scharf attackiert und ihr vorgeworfen, sie würde ihnen den Zugang zu Zapruder verunmöglichen. Stolley: «Die Erklärung von Schwartz machte mich sprachlos, und sie tut es heute noch.»
Das waren noch Zeiten: Ein Journalist erhält weltexklusives Material weil er ein Gentleman ist.
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Amerikanischer Originaltext von Richard B. Stolley im Buch «The Day Kennedy Died», das aus Anlass des 50. Todestages des Präsidenten erscheint. Das «Time»-Magazin druckte den Text nach, von wo wir ihn übersetzten, zusammenfassten und mit Zusatzfakten ergänzten.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Tolle Story!