Kommentar
Guter Journalismus ist kein Konsumprodukt
«Verstehen bewegt.» So bewirbt die NZZ gerade ihr neues Digitalmagazin. Darin publiziert das Medienhaus ausgewählte Artikel aus «NZZ am Sonntag», «NZZ Folio» oder «NZZ Geschichte» und reichert diese mit eigenen Formaten an – einem Zürich-Blog, einer Koch-Kolumne und Konsumtipps für Anspruchsvolle.
Doch von einem publizistischen Konzept des Magazins war in der Medienmitteilung nicht die Rede. «NZZ am Sonntag»-Chef Jonas Projer will damit begeistern, bewegen und Abonnentinnen gewinnen. Und die Journalistin und aktuelle NZZ-Folio-Redaktionsleiterin Aline Wanner sagt einzig: «Wir fokussieren auf jene Zielgruppe, die für die NZZ interessant und auch ökonomisch wichtig ist: ein tendenziell junges Publikum.»
Orientierung am emotionalen Lesereffekt aus Angst vor bewegenden Bildern
Wichtiger als die journalistischen Inhalte des Magazins sind gemäss Werbung und Kommunikation deren Effekte auf die Leserschaft: «Die Inhalte des NZZ Magazin sprechen unsere Sinne auf vielfältige Art an», sagt der Head Customer Marketing & Branding der NZZ. Denn die fünf Werbesujets versprechen auch eine satte Ladung an gefühlter Bewegung: Beim neuen Magazin gibt es demnach «Nervenkitzel für den Geist», «Musik für die Augen», «Delikatessen für die Seele» und «Blockbuster fürs Kopfkino».
Dies kann aber nicht im Sinn des verkauften Journalismus sein. Derart beworben in Bezug auf die Reaktion der Leserschaft erscheint dieser als blosses Konsummittel, das Selbstbestätigung verkauft. Banal ausgedrückt: Über die journalistisch generierten Emotionen spüren wir, dass wir Menschen sind. Dies ist zunächst mal blosse Tatsache. Dass wir in einer immer stärker durch elektronische Medien vermittelten Welt Medieninhalte emotionaler verarbeiten als zur Zeit vor Radio, TV und Internet, wusste schon Marshall McLuhan.
Aber wenn Journalismus zuerst an den geweckten Emotionen gemessen wird, verändert sich auch sein Inhalt – und er wird stärker geprägt von den Zwängen visueller Medien. Im Gegensatz zu Text nehmen wir (bewegte) Bilder schneller und unmittelbarer wahr.
Der auf eine oberflächlich-marktwirtschaftliche Perspektive beschränkte Schluss liegt nahe: Will der Journalismus in einer visuellen Welt Beachtung finden, muss auch er starke Bilder erzeugen. Die NZZ-Werbung zeigt deshalb die Macht eines beharrlichen marktwirtschaftlichen Problems: Die Angst der Verlage vor der medialen Konkurrenz der bewegten und bewegenden Bilder auf Bildschirmen. Damit die Leserschaft nicht zu Youtube oder Netflix abwandert, muss man diese mit den eigenen Waffen schlagen.
Falsche Unmittelbarkeit als Risiko
Beugt sich der Journalismus diesem Druck, läuft er Gefahr, sich gegen sich selbst zu richten. In seinem Interview mit dem Magazin «Reportagen» sagte der Fälscher Claas Relotius letztes Jahr: «Beim Schreiben selbst habe ich mich dann in ganz unterschiedlichem Bewusstsein und auch Ausmass von der Realität gelöst, als ginge es bei Reportagen vor allem darum, Bilder zu erzeugen.» Relotius sprach von einer fatalen Selbsttäuschung. Doch mit seiner «vermeintlich reflexions-, argumentations- und interessenfreien Augenzeugenschaft» und der «gefühlig-verlogenen Unmittelbarkeit» (Rudolf Walther, Infosperber, 2. Januar 2019) seiner Fake-Reportagen lieferte er bloss, was damals als «state of the art» galt.
Noch in der kontrovers diskutierten Debatte um eine Reportage des Spiegel-Reporters René Pfister von 2011 stellte Medienkritiker Stefan Niggemeier einen «Zwang zur Nähe» fest und der Reportage-Experte Michael Haller schrieb, dass ein Reporter sein Material eben «mit einer sinnlich-anschaulichen Sprache» organisiert. Wenn das Material aus erster Hand stammt – also erlebte Erfahrung der JournalistInnen – ist dagegen auch nichts einzuwenden. Doch bei den meisten journalistischen Texten handelt es sich eben um Kolportage – um Material aus zweiter Hand, häufig um Äusserungen anderer Menschen, die selbst ihrerseits bereits stark medial vermittelt sind. Sie sind viel eher Puzzles als Pictures.
Junge sind bereit, für transparenten Journalismus zu bezahlen
Wollten die Text-JournalistInnen der NZZ die Ansprüche der eigenen Werbung erfüllen, müssten sie das Material so nahtlos zusammenfügen, dass ein affektvoller Eindruck von Unmittelbarkeit entstünde. Das wäre mehr als berufsethisch problematisch. Die Angabe, aus welcher Quelle die kolportierten Informationen stammen, ist vielleicht der wichtigste Inhalt eines journalistischen Produktes. Damit dokumentieren JournalistInnen immer auch eine bestimmte Art der Vermittlung, welche der Leserschaft erlaubt, die Produktion der Inhalte nachzuvollziehen. Derartiger Journalismus ist zwangsläufig bescheiden; er nimmt seine Leserschaft ernst; und anerkennt sie als Partnerin auf Augenhöhe. Und nicht als Kunde, der immer König ist und darum bekommen muss, was er will.
Nun, da sie sich verstärkt mit dem Lesermarkt auseinandersetzen müssen, beginnen dies vielleicht auch die Marketingabteilungen grosser Verlage zu verstehen. In einem «Youth Lab» der Tamedia fand eine Journalistin kürzlich heraus, «wie sehr Jugendliche es schätzen, wenn ihnen zugehört wird.» Und dass sie bereit wären, für transparenten Journalismus mit Quellenangabe und ohne Clickbaiting zu bezahlen. «Sie möchten genau das erhalten, was man ihnen verspricht. Ist das nicht der Fall, sind sie ganz schnell weg.»
Zurückhaltende Werbung, anspruchsvoller Journalismus
Immerhin: Die Werbung fürs NZZ-Magazin ist wohl hauptsächlich eine Verirrung der Marketingabteilung. Aktuell kommt das Magazin noch ohne Werbung aus. Man taste sich vorsichtig an Werbung heran und diskutiere «Premium-Formate», heisst es auf Infosperber-Anfrage. Aber: «Blinkende Banner und Popup-Videos werden Sie im «NZZ Magazin» vergeblich suchen.» Und auch der bereits publizierte Journalismus begegnet der Leserschaft auf Augenhöhe: So weist ein transparenter Artikel darauf hin, dass Energiesubventionen des Bundes, welche eigentlich für die exportorientierte Industrie gedacht wären, auch Skigebieten, Wellnessbädern oder Sky-Diving-Anlagen zugutekommen. Indem er unterschiedliche Positionen darstellt und Hintergründe aufzeigt, fordert der Text kritisches Leserengagement. Verstehen bewegt eben nicht nur, verstehen verlangt auch.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.