Journalistischer Coup oder Manipulation mit Falschinformationen? Die Schlagzeile der Bild-Zeitung. Quelle: bild.de

Fütterte Netanyahu die Bild-Zeitung mit Falschinformationen?

Philippe Stalder /  Die Bild enthüllte ein angeblich geheimes Kriegspapier der Hamas. Israelische Zeitungen haben jedoch Zweifel an seiner Echtheit.

Es war ein Primeur sondergleichen, als Paul Ronzheimer, stellvertretender Chefredakteur der deutschen Bild-Zeitung zusammen mit dem stellvertretenden Leiter des Politik-Ressorts Filipp Piatov am 6. September folgende Schlagzeile veröffentlichten: 

«Zum Schaudern! Das plant der Hamas-Chef mit den Geiseln – Jetzt wird das geheime Kriegspapier des Terror-Bosses enthüllt»

Bild

Der Bild lag das Dokument nach eigenen Angaben exklusiv vor, es soll auf einem Computer des Hamas-Anführers Yahya Sinwar gefunden und von ihm persönlich abgesegnet worden sein. Von wem es entnommen wurde und wie es seinen Weg in die deutsche Redaktion gefunden hat, dazu machten Ronzheimer und Piatov jedoch keine Angaben. 

Der Hamas soll ein schnelles Kriegsende egal sein

Das Dokument soll zeigen, «wie die Terroristen die internationale Gemeinschaft manipulieren, die Geiselfamilien quälen und wieder aufrüsten wollen. Und auch, dass ihnen ein schnelles Kriegsende ebenso egal ist wie das Leid palästinensischer Zivilisten.» 

Ausserdem soll alleine Israel für die erfolglosen Verhandlungen über einen Waffenstillstand verantwortlich gemacht werden, obwohl der Philadelphi-Korridor, dessen Besetzung gemäss Hamas ein Knackpunkt in den Verhandlungen darstelle, im Dokument mit keinem Wort erwähnt werde. Der Philadelphi-Korridor ist ein schmaler Landstreifen an der Grenze zwischen Gaza und Ägypten. Er wird derzeit von der israelischen Armee kontrolliert, die Gaza dadurch von der Aussenwelt abschirmt.

Noch am selben Tag berichteten israelische Medien über den journalistischen Coup der Bild-Zeitung – mit einer Mischung aus Verwunderung und Anerkennung. Einige israelische Journalisten dürften sich gefragt haben: Wie konnte dieses geheime Dokument bloss in einer deutschen statt in einer israelischen Redaktion landen?

Dennoch wurde die Bild-Story in Israel breit zitiert. Einige Zeitungen, wie etwa die Jerusalem Post, übernahmen sogar Wort für Wort kommentierende Formulierungen. So setzten Ronzheimer und Piatov den Zwischentitel «Psychoterror mit Geiseln». Im Dokument selbst ist an der entsprechenden Stelle jedoch von «psychologischem Druck» die Rede. Doch die Jerusalem Post setzte denselben Zwischentitel wie die Bild und schreibt: «Psychological terror with hostages (…) continue to exert psychological pressure on the families (…) so that public pressure on the enemy government increases.»

Auch Israels grösste kostenpflichtige Tageszeitung Yedioth Ahronoth berichtete auf ihrer Webseite Ynet noch am selben Tag der Bild-Publikation über das Hamas-Dokument.

IDF leitet Untersuchung ein

Offenbar schien man auf der Ynet-Redaktion jedoch Zweifel an der Echtheit des Dokuments zu haben. Zwei Tage später, am 8. September publizierte Ronen Bergman auf Ynet einen Artikel mit dem Titel: «Die IDF ermittelt: Gefälschte Hamas-Dokumente wurden an ausländische Medien weitergegeben, um die öffentliche Meinung in Israel zu beeinflussen.»

Demnach habe die israelische Armee eine interne Untersuchung eingeleitet, um herauszufinden, wer angeblich geheime Hamas-Dokumente manipulativ ausnütze und an internationale Medien weiterleite, um die öffentliche Meinung in Israel rund um die Geiselverhandlungen zu manipulieren. Die Affäre habe im israelischen Sicherheitsestablishment «grosse Besorgnis und Wut» ausgelöst, so Bergman. Zwischen dem Establishment und Netanyahus Likud-Partei bestehe eine starke Meinungsverschiedenheit in Bezug auf die Frage, welche Strategie in der Geiselverhandlung angemessen sei.

Offenbar habe eine Prüfung des Dokuments, das angeblich von Sinwars Laptop stamme, ergeben, dass das Dokument gar nicht vom Hamas-Chef, sondern von einem mittleren Beamten verfasst wurde. Zudem soll es sich nicht um eine offizielle Verhandlungsstrategie der Hamas, sondern um Vorschläge des besagten Beamten hierzu handeln. Und noch schlimmer: Eine der Haupterkenntnisse, welche die Bild aus diesem Dokument zieht, wonach die Hamas kein Interesse an einem Deal habe, werde gemäss Bergman im Dokument überhaupt nicht erwähnt.

Einflussnahme auf die eigene Bevölkerung

Dazu liess sich ein mit der Sache vertrauter israelischer Militärbeamter von Bergman wie folgt zitieren: «Das ist eine sehr ernste Angelegenheit. Die IDF und andere Geheimdienste verfügen über Systeme, deren Aufgabe es ist, den Feind zu beeinflussen. Laut Gesetz ist es aber verboten, ein solches Einflusssystem gegen die eigene Bevölkerung zu betreiben – und schon gar nicht unter absichtlicher Verwendung vertraulicher Dokumente. Dies ist eine Einflusskampagne auf die israelische Öffentlichkeit. Wir sind entschlossen, die verantwortliche Person oder Organisation zu finden.»

Hat die Netanyahu-Administration also bewusst versucht, die Bild-Zeitung mit Falschinformationen zu füttern und so indirekt den Diskurs in der israelischen Öffentlichkeit zu beeinflussen? Viele Israelis protestieren dieser Tage gegen Netanyahus Strategie der Härte und fordern vom Präsidenten, sich auf einen Gefangenenaustausch einzulassen. 

Die angebliche Enthüllung der Bild-Zeitung hat jedoch Argumente für Netanyahus Position – und gegen einen Gefangenenaustausch – geliefert. Die Untersuchung zur Frage, wer tatsächlich hinter der Aktion steckt und der Bild-Zeitung das Dokument zukommen liess, dürfte den israelischen Geheimdienst noch einige Zeit in Anspruch nehmen.

Paul Ronzheimer wollte auf Anfrage weder Stellung zu den Fälschungsvorwürfen noch zur Frage nehmen, wer ihm das Dokument zugespielt hatte.


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4 Meinungen

  • am 18.09.2024 um 18:23 Uhr
    Permalink

    Interessante Aussage im Artikel: «Zudem soll es sich nicht um eine offizielle Verhandlungsstrategie der Hamas, sondern um Vorschläge des besagten Beamten hierzu handeln….und es heisst weiter ..«Zum Schaudern! Das plant der Hamas-Chef mit den Geiseln» Könnte wohl sein, dass Verbrecher-Beamte den Chefs die Ideen liefern, wie die Geiseln behandelt werden müssen? Auch eine interessante Aussage im Artikel: «Viele Israelis protestieren dieser Tage gegen Netanyahus Strategie der Härte und fordern vom Präsidenten, sich auf einen Gefangenenaustausch einzulassen…» Die Frage ist wohl, ob man verbrecherischen Geiselnehmern alle Forderungen und Wünsche erfüllen soll und so die Motivation haben noch mehr Geiseln in ihre Gewalt zu bringen, weil das Diktat des Terrors erfolgreich ist und zur Normalität im politischen Geschäft wird, weil alle kuschen und willig alle Bedingungen erfüllen?
    Gunther Kropp, Basel

    • am 19.09.2024 um 20:38 Uhr
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      ist schon sehr seltsam das am tag des hamas überfall der beste geheimdienst der welt,der mossad geschlafen hat.

      • am 20.09.2024 um 11:09 Uhr
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        Antwort von Gunther Kropp, Basel an Jochen Kathöfer, 19.09.2024 um 20:38: Die FR und Maria Sterkl Israel berichteten am 19.06.2024, 18:21:
        «Geheimdienst-Bericht sagte in einigen Punkten erstaunlich klar. Die Warnung soll aus der Signal-Einheit des Militärgeheimdienstes stammen. Sie wurde laut dem Bericht an die Gaza-Division der Armee übermittelt. Dort prallten die Warnungen jedoch ab.»
        Man dachte wohl die Grenzanlagen sind unüberwindbar und die Grenzbewohner sind geschützt. Und so wurden die Warnungen des Militärgeheimdienstes ignoriert.

  • am 20.09.2024 um 13:36 Uhr
    Permalink

    Für ihn gibt es nur ein Ziel; Netanjahu hatte in den 1970er Jahren gesagt: „Wenn wir es richtig machen, haben wir im nächsten Krieg die Chance, alle Araber zu vertreiben …Wir können das Westjordanland übernehmen. Wir können die Westbank räumen und Jerusalem säubern“.

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