Erpressung: Verkehrte Schlagzeilen in der «NZZ am Sonntag»
Das Setzen von Titeln ist in Zeitungen die halbe Miete: Sie bleiben am ehesten in der Erinnerung haften und entscheiden darüber, ob der ganze Artikel gelesen wird oder nicht.
Die «NZZ am Sonntag» titelte am 6. November auf Seite 2:
«Schweden geht zu Kurden auf Distanz»
Nach dem Überfliegen dieses Titels lasen wohl nur wenige Leserinnen und Leser die brisanten Informationen im Artikel: Vor kurzem hatte der türkische Präsident Erdoğan damit gedroht, er werde den Beitritt Schwedens zur Nato mit seinem Veto verhindern, falls Schweden die Mitglieder der Organisation der kurdischen Volksschutzeinheiten YPD nicht verfolge und ausliefere. Jetzt gab der neue schwedische Aussenminister der Erpressung Erdoğans nach und versicherte, Schweden werde sich von der YPG-Miliz «distanzieren». Mit anderen Worten: Schweden lässt sich von Erdoğan erpressen. Die Zeitungstitel über diesem Artikel hätten also heissen können: «Schweden gibt dem Druck der Türkei nach» oder «Schweden lässt sich von Erdoğan erpressen».
Die «NZZ am Sonntag» aber setzte den Titel «Schweden geht zu Kurden auf Distanz».
Zur Erinnerung unser Bericht von Amalia von Gent: Bei den kurdischen Milizen (YPG) handelt es sich um jene jungen Männer und Frauen, die zwischen 2015 und 2019 den fanatischen Dschihadisten des islamistischen Staates IS die Stirn boten und in enger Zusammenarbeit mit den USA und anderen europäischen Ländern diese besiegten. Bis zu 30.000 Opfer und nochmals so viele teils schwer Verletzte kostete sie der Sieg über die Islamisten. Und weil damals der IS auch eine ernsthafte Bedrohung für Europa war, wurden die bewaffneten kurdischen Frauen und Männer als Helden gefeiert.
Erfundene Drohung Chinas
Die News von Schwedens Nachgeben hätte einen Titel auf der Frontseite der «NZZ am Sonntag» verdient. Stattdessen lautete dort die Schlagzeile:
«Sanktionen: Chinesischer Botschafter warnt die Schweiz – Übernimmt die Schweiz die EU-Sanktionen, droht China mit Konsequenzen»
Diese Schlagzeile auf der Frontseite bezog sich auf ein ganzseitiges Interview mit dem chinesischen Botschafter in Bern. Zu dessen Aussagen holte die «NZZ am Sonntag» gleich empörte Stellungnahmen von Aussenpolitikern im Parlament ein. Die grünliberale Nationalrätin Tiana Moser «will sich [von China] nichts vorschreiben lassen». Nationalrat Nicolas Walder der Grünen hält die Aussagen des Botschafters für «Teil einer Drohstrategie Pekings».
Um zu beurteilen, welches denn die drohenden und warnenden Aussagen des Botschafters gewesen sein sollen, geben wir die «heiklen» Passagen im Folgenden wörtlich wieder:
NZZ am Sonntag:
Vor eineinhalb Jahren hat die EU wegen der Uiguren-Frage Sanktionen gegen ausgewählte Parteivertreter und Organisationen verhängt. Der Bundesrat hat noch nicht entschieden, ob er nachzieht. Wie reagiert China, wenn die Schweiz sich den Sanktionen anschliesst?
Botschafter Wang Shihting:
Wem die freundschaftlichen Beziehungen der beiden Länder wirklich am Herzen liegen und wer verantwortungsvoll Politik macht, wird den Sanktionen nicht zustimmen. Die Sanktionen verstossen gegen völkerrechtliche Normen, sie dienen einzig der Eindämmung Chinas. Sollte die Schweiz die Sanktionen übernehmen und sich die Situation in eine unkontrollierte Richtung entwickeln, werden die chinesisch-schweizerischen Beziehungen darunter leiden.
Bemerkung: Stellt dieses Ankündigen von Gegenmassnahmen, falls sich die Situation in eine unkontrollierte Richtung entwickelt, eine Drohung dar? Sollte Wang auf die Frage, wie China auf Sanktionen der Schweiz reagieren würde, sagen, dass China Sanktionen der Schweiz einfach hinnehmen und nicht reagieren werde?
NZZ am Sonntag:
Die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats will zudem die Beziehungen zum taiwanischen Parlament verstärken. Insbesondere soll es vermehrt zur Zusammenarbeit von Politikern aus der Schweiz und Taiwan kommen.
Botschafter Wang Shihting:
China ist entschlossen gegen offizielle Kontakte jeglicher Art zwischen einem Land und der chinesischen Region Taiwan.
NZZ am Sonntag:
Falls der Antrag das Parlament passiert – wie würde China darauf reagieren?
Botschafter Wang Shihting:
Ich kann nur betonen, dass das Ein-China-Prinzip die politische Grundlage dafür ist, dass China überhaupt Beziehungen mit anderen Ländern pflegt.
Bemerkung: Ist das eine Drohung? Wang sagte nichts Neues, sondern wiederholte die Fiktion der Ein-China-Politik, die China unverändert seit über siebzig Jahren vertritt. China unterhält nur mit Ländern Beziehungen, welche Taiwan nicht als unabhängigen Staat anerkennen.
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Es geht hier nicht etwa darum, Chinas Politik zu verteidigen, sondern lediglich darum, ob die Aussagen des chinesischen Botschafters wirklich eine «Warnung» oder «Drohung» darstellen.
Und es geht darum, ob die Nachricht, Schweden gebe der tatsächlichen Drohung und Erpressung Erdoğans nach, am Sonntag nicht die relevantere Information war.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Also wenn das betreffend erste Frage/Antwort keine Drohung ist, was dann? «Würden die Beziehungen darunter LEIDEN». Ihre Auslegung ist ziemlich spitzfindig, Herr Gasche.
Das Interview mit dem chinesischen Botschafter in der Schweiz wird nicht verstanden und falsch gewichtet. Es geht nicht um eine Drohung Chinas, sondern um die Verbesserung der wirschaftlichen Zusammenarbeit. Der Westen sollte sich aussenpolitisch nicht überall einmischen und die Schweiz ist nicht die Stimme der USA. Eine Vertiefung der wirtschaftlichen Beziehungen mit China ist in beiderseitigem Interesse und kann nicht von der Uiguren-Frage abhängen, welche wohl im Westen ohnehin falsch verstanden wird. Der Westen kann sich es nicht leisten, überall die Konditionen einer Zusammenarbeit zu diktieren.
Ein klassisches Beispiel wie Desinformation verbreitet und wie die öffentliche Meinung auf Generationen hinaus konditioniert wird mit einem unermesslichen Schaden am friedvollen Zusammenleben und einer negativen Langzeitwirkung auch für die Wirtschaft.
Danke, ein guter Bericht darüber, wie Menschen in Aussagen Dritter ohne Rückfrage etwas hinein interpretieren können. Beobachten ohne sein eigenes Wunschdenken oder seine Interpretationen damit zu vermischen, ist etwas sehr schwieriges. Oder steckt Absicht dahinter? Um in den Lesern Botschaften im Verstand zu hinterlassen welche nicht der Realität entsprechen? Wer das Beobachtete verändert wiedergibt, gibt auch etwas von sich selber Preis. Die Psychologen Schulz von Thun und Rosenberg haben da gute Arbeit geleistet, um auf zu zeigen, wie leicht man mit der Sprache den tatsächlichen Inhalt verändern kann. Ein Zeugnis der journalistischen Inkompetenz, was da in der NZZaS publiziert wurde? Oder Absicht? Dient die NZZaS nicht dem lauteren Journalismus, wenn es um Außenpolitik geht? Wir können zumindest versuchen die richtigen Fragen zu stellen.
Ich bin mit Herrn Gasche und Beda Düggelin völlig einverstanden. Die Schweiz tendiert immer mehr dazu, sich der amerikanischen und EU-Stimme anzuschliessen, als wäre der Westen der Richter der Welt. Würden wir uns nicht überall blind einmischen, ohne die genauen Umstände zu kennen, wäre die Welt viel friedlicher. Und, übrigens, hat der Westen einmal Sanktionen gegen Israel , das das Recht der palästinensischen Bevölkerung, schamlos vertrampelt, ausgehängt? Hat die Schweiz Sanktionen gegen die USA ergriffen, als diese auf Grund einer gigantischen Lüge den Irak angriffen? Es gäbe noch viele solcher Beispiele. Die Schweiz ist neutral und sollte, wie die Chinesen, eine weise Neutralität betreiben.