Kommentar

Eine starke Antwort auf Gaucks Schelte

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Oswald Sigg /  Die Worte des deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck zur direkten Demokratie liessen die Schweizer Medien erstaunlich kalt.

Als die NZZ am vergangenen 1. April mit dem irritierenden Titel «Der souveräne aus der Zeit Gefallene» den Besuch von Joachim Gauck, dem deutschen Bundespräsidenten, in Bern ankündigte, war klar, dass hier ein besonderer Gast zu einem besonderen Zeitpunkt erwartet wurde. Während das EDA-Communiqué mit der Charakterisierung des illustren Gastes äusserst spartanisch umging, strotzten die entsprechenden Berichte in anderen Medien geradezu von Prädikaten und Attributen über den Staatsgast. Unter dem Bild Gaucks in nachdenklicher Pose war folgende Legende zu lesen: «Bundespräsident Gauck bedient keine modischen Clichés, überzeugt aber durch kantige Auftritte und Analysen.»

Fürwahr. Im Landgut Lohn, dem Gästehaus des Bundesrats, plauderte Gauck vor den Journalisten zunächst aus – wie alle Medien geflissentlich berichteten – er habe seine Reise nach Bern absichtlich früher als geplant angetreten. Wie wenn er, der ehemalige Pastor im Dienst der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs, den Bundesrat ob dem Volksverdikt vom 9. Februar über die sog. Masseneinwanderungsinitiative trösten müsste. Stattdessen warnte er die Schweiz und ihre Bürgerinnen und Bürger vor der direkten Demokratie:

«Die direkte Demokratie enthält und birgt in sich den schönen Ansatz der Mitwirkung aller, den wir begrüssen, aber er birgt in sich eine grosse Gefahr bei der Richtung, beim Herausfinden der Richtung bei hochkomplexen Politikthemen. Nicht immer gelingt es in der Vorbereitung solcher Abstimmungen – auch darüber haben wir übrigens in dem Gespräch gesprochen – so umfangreich zu informieren, dass jedem Wahlbürger auch die Implikationen die durch internationales Recht gesetzt werden, voll bewusst sind. Und deshalb gibt es sowohl bei der parlamentarischen Demokratie wie auch bei der direkten Demokratie Verluste, es gibt Verlust- und Gewinnrechnungen und wir müssen die fair aufmachen.»

Was Gauck in etwas umständlichen Worten von sich gab, war nichts anderes denn der uralte und reaktionäre Einwand gegen die direkte Demokratie: das Volk ist zu dumm, um über Sachvorlagen abzustimmen und die Politik überlässt man am besten den gewählten Volksvertretern.

Als die Freisinnigen, die Schöpfer und Gestalter des Bundesstaates von 1848, gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu den erbittertsten Gegnern der Volksrechte wie Gesetzesreferendum und Verfassungsinitiative wurden, formulierte ein Amtsvorgänger des heutigen Bundespräsidenten, der freisinnige Bundespräsident Emil Welti im Nationalrat am 24. Januar 1872 seine Zweifel gegenüber Volksabstimmungen so:

«Man mutet dem Volk zu, über alle Gesetze abzustimmen. Ich habe das Gefühl, dass der Senn mit dem Code de commerce und der Stallknecht mit dem Civilprozess in der Hand, um sich für die Ausübung ihrer Souveränitätsrechte vorzubereiten, eine Karikatur sind.»

Ausgerechnet auf dem Landgut Lohn, das sein früherer Besitzer Friedrich Emil Welti, ein Sohn des zitierten Bundespräsidenten Welti, testamentarisch der Eidgenossenschaft als Geschenk zur «Erholung der Mitglieder der Landesregierung» vermachte, wiederholte nun fast 150 Jahre später sinngemäss der deutsche Bundespräsident die elitäre und arrogante Kritik an der politischen Kultur der Schweiz. Tatsächlich: Gauck ist wohl nicht allein und nur aus der Zeit gefallen. Während sich in zahlreichen Ländern Europas der Unmut gegenüber dem demokratischen Defizit der EU breitmacht und sich viele europäische Bürgerinnen und Bürger etwas mehr Schweiz wünschen, stellen sich mit Bundespräsident und Bundeskanzlerin die höchsten Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland an die Spitze der Gegnerschaft solch direktdemokratischer Regungen in Europa.

In der Schweiz selbst – zumindest in den Medien – schien sich niemand gross über die Worte Gaucks aufzuregen. Nur gerade im SRF-Radio wurde sowohl die Warnung Gaucks:

«Direkte Demokratie birgt in sich eine grosse Gefahr bei hochkomplexen Politthemen. Nicht immer gelingt es so umfangreich zu informieren, dass jedem Wahlbürger die Implikationen, die durch internationales Recht gesetzt werden, voll bewusst sind»,

als auch die Antwort seines Gastgebers im Originalton wiedergegeben. Bundespräsident Didier Burkhalter konterte Gaucks Schelte kurzerhand wie folgt:

«Direkte Demokratie ist voll zu respektieren. Also man soll nicht sagen: einige können verstehen und andere nicht. Alle verstehen. Alle verstehen wie sie wollen und alle entscheiden – unabhängig und souverän.»

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Dieser Beitrag ist erstmals am 20. April 2014 in der «(Südost-)Schweiz am Sonntag» erschienen.


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7 Meinungen

  • NikRamseyer011
    am 28.04.2014 um 13:05 Uhr
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    Guter Beitrag! Danke. Interessanterweise mäkeln auch aktuelle Freisinnige wie Pascal Couchepin ("gelenkte Demokratie"!) gerne an unserem erfolgreichen Politsystem herum. Und erst kürzlich hat die im Amt weiland doch eher durchschnittlich agierende ehemalige Bundeskanzlerin Annemarie Huber-Hotz (FDP) im Journal 21 ähnlich peinliche Einwände gegen die direkte Demokratie zum Besten gegeben, wie Joachim Gauck. Fest steht derweil: Hätte sein deutsches Land die direkte Demokratie, wäre es längst nicht mehr eine durch 70 000 Soldaten besetze Zone. Und ein wirklich souveränes deutsches Volk würde sich auch kaum von den Kriegstreibern in Washington hemmungslos ausspionieren oder in verantwortungslose Abenteuer (Afghanistan, Ukraine) hineinreiten lassen. Fest steht zudem grundsätzlich: Die direkte Demokratie ist darum so erfolgreich, weil in ihr die Herrschenden nur machen dürfen, was sie «dem Volk» glaubwürdig erklären können – gehe es nun um Scheinwachstum durch Einwanderung, um hemmungslosen Zweitwohnungsbau oder den Nato-tauglichen Bomber Gripen. Denn: Es gibt auch ohne solche «Projekte» noch längst genug Dringliches zu tun.
    Niklaus Ramseyer

  • am 28.04.2014 um 14:03 Uhr
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    «Was Gauck in etwas umständlichen Worten von sich gab, war nichts anderes denn der uralte und reaktionäre Einwand gegen die direkte Demokratie: das Volk ist zu dumm, um über Sachvorlagen abzustimmen und die Politik überlässt man am besten den gewählten Volksvertretern.» Ich hielt und halte diese Aussage Gaucks für äusserst ARROGANT. Mir ist die deutsche (und nicht nur die deutsche) Arroganz zutiefst zuwider.

  • am 28.04.2014 um 15:54 Uhr
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    Unser Jubeldemokraten verkennen, dass wir zwar eine direkte Demokratie haben, die parlamentarische Demokratie , also das Parlament, jedoch korrupt ist.

    So lange sich die Parteien weigern, die Politikfinanzierung nachvollziehbar offen zu legen, darf man das Parlament als korrupt bezeichnen.

    Seit 66 Jahren eine Grosse Regierungskoalition, wo jeder mit jedem verbandelt ist, ist zwangsläufig korrumpiert.

    Fehlen einer institutionalisierten parlamentarischen Opposition, die wirksam kontrolliert, kann durch Volksabstimmungen nur bedingt ausgeglichen werden.

  • am 28.04.2014 um 17:33 Uhr
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    Ich bin sowohl über den guten Artikel, als auch über die eingegangenen Meinungen sehr erfreut, und stehe ebenfalls voll umfänglich zu deren Inhalten. Meiner Meinung nach ist es nur mit eine direkte Demokratie möglich, ein Land mit Unterstützung und der Glaubwürdigkeit des Volkes in Frieden zu führen und aufrecht zu erhalten. Machtbestrebungen von Politikern auch in Territorialen ausmassen sind mir zu wider, und zeichnen sich, wie die Vergangenheit auch immer wieder bewiesen haben in den Untergang.

  • am 28.04.2014 um 17:46 Uhr
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    Oswald Sigg sollte als Verfasser einer Diss. über die Volksinitiative und Kommunikationschef des Bundesrates eigentlich wissen, dass die Qualität der Entscheidungen nicht nur von ihrer demokratischen Legitimation abhängt, die bei Volksentscheiden am höchsten ist, sondern auch von den Informationen, über welche die entscheidenden Personen verfügen. Das gilt für die Regierung, das Parlament und eben auch das Volk. Insofern ist die Aussage von Bundespräsident Gauck durchaus zutreffend. Offenbar hören wir das aber von Deutschen nicht gerne…In der Politik und in den Medien wird jedoch über die Forderung diskutiert, man müsse dem Volk die Frage (nochmals?) vorlegen, ob die bilateralen Verträge mit der EU zu kündigen sind, wenn es nicht über eine Einigung betreffend Beschränkung der Einwanderung kommt, oder nicht. Begründet wird diese Forderung vor allem damit, die Stimmberechtigten seien sich der Konsequenzen einer Kontingentierung der Zuwanderung aus der EU zu wenig bewusst gewesen.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 29.04.2014 um 11:29 Uhr
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    Meines Wissens hat u.a. Ständerat Thomas Minder, dessen Leistungsausweis als Demokrat sicher mindestens so hoch ist wie derjenige Gaucks, der mit 235 zu einer Stimme Veränderungen installiert hat, die europäische Massstäbe setzen, Herrn Gauck im Gespräch mit Parlamentariern durchaus den Tarif erklärt. @Fred David. Minder hat auch seine politischen Aktivitäten als kleiner mittelständischer Unternehmer auch immer selber finanziert, das ist ein ganz anderes Freiheitsniveau als diejenigen, die sich durch die Steuerzahler in einem Palast mästen lassen und nicht wissen, wie es in einem freien Land zugeht. Interessanterweise wollte Minder auch das Abmarschieren einer Ehrenkompanie abschaffen, sein Antrag wurde aber auch von den Anhängern der Armeeabschaffung abgelehnt. Ob er aber im einzelnen alles richtig gemacht haben, darf durchaus offen bleiben. Von seiner Familiengeschichte her fehlt ihm auch jegliches Verständnis für bedingungsloses Grundeinkommen, da hat er wohl klar nicht das Niveau von Oswald Sigg. Zum sogenannten korrupten Parlament: This Jenny ist nicht nur aus gesundheitlichen Gründen als Ständerat zurückgetreten, sondern weil er fand, bei häufigen Abwesenheiten wäre er die tatsächlich hohe Parlamentarierentschädigung nicht wert.

  • am 30.04.2014 um 15:31 Uhr
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    Wenn wir akzeptieren, dass Menschen sich manchmal irren (Laien ebenso wie Experten) und manchmal wohl auch verführbar sind, dann können nicht alle Entscheide ‹ideal› sein. Dennoch bleibt es eine tolle Erfahrung unseres ‹behäbigen› Erfolgsmodells, dass die weit gehenden Volksrechte offenbar zu einer tieferen Fehlerquote führen als im benachbarten Ausland. Und dass unsere politischen Eliten erst noch weniger ungehemmt über die Stränge schlagen – weil ihnen klar ist, dass man sie jederzeit ‹zurückpfeifen› kann. Gute Gründe also unsere demokratischen Rechte so aktiv wie verantwortungsvoll zu nutzen!

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