Kommentar

Dog bites man: no news – man bites dog: news!

Erich Gysling © zvg

Erich Gysling /  Warum zwei Bomben in Boston tagelang Schlagzeilen machen, fast tägliche Attentate in Irak und Syrien aber nicht.

Medien haben bekanntlich die Tendenz, sich auf Ausnahmesituationen zu kaprizieren – die Normalität dagegen tritt in den Hintergrund oder wird total ausgeblendet. Die US-Amerikaner fanden für dieses «Phänomen» den prägnanten Vergleich «Dog bites man, no news – man bites dog: News». Also: beisst ein Hund einen Menschen, ist das nicht eine Zeile wert – beisst aber ein Mensch einen Hund, dann ist das durchaus eine Nachricht.
Stimmt! Nehmen Sie, als Leserin oder Leser an, irgendeine Zeitung, eine Radio- oder TV-Sendung würde Ihnen mitteilen: «Heute sind 76’447 Flugzeuge problemlos von Punkt A zu Punkt B geflogen». Ehrlich: Auch ich würde diesen Text schlicht ignorieren. Würde die Mel-dung jedoch lauten: «Heute stürzte zwischen Irkutsk und Nowosibirsk eine Maschine mit 19 Menschen ab, weil der Pilot betrunken war und im letzten Moment das Steuer seinem 10jährigen Sohn übergeben wollte» – dann würde das nicht nur auf lokales Interesse stossen, sondern würde Eingang sogar in die internationalen Medien finden.
Übertragen wir nun dieses Verhaltensmuster auf die Tragödie beim Boston-Marathon: drei Todesopfer, etwa 180 Verletzte. Entsetzlich, niemand kann das negieren. Gehen wir anderseits die Nachrichtenlage etwa in Irak, auch in Syrien, durch – dann müssen wir, eigentlich zu unserem Entsetzen, feststellen, dass Ähnliches dort alltäglich ist. Sogar mehr Tote, mehr Verletzte. Aber eben: Es ist dort, zumindest für uns Fernstehende, alltäglich geworden, ist daher bestenfalls noch einer kleinen Notiz in der Nachrichtenübersicht der NZZ auf Seite zwei oder in der Chronik des Tages-Anzeigers im Auslandteil wert.
Man kann das beklagen, darüber moralisieren, die Sensationslust von Journalisten anprangern. Was man nicht kann: unsere eigenen, die passiven, Mediengewohnheiten und –Ansprüche als inexistent beiseite schieben. Wir Alle, seien wir doch ehrlich, ziehen bei der Lektüre, beim Hören oder Sehen die Ausnahmesituation gegenüber der Normalität vor. Das tun übrigens nicht nur die Konsumentinnen und Konsumenten von so genannten Boulevard-Medien – es gilt für viel weitere Kreise. Es gilt sogar für die meisten Historiker.
Ein Beispiel: Moses Finley, ein grosser britischer Historiker, befasste sich intensiv mit der politischen Kultur der Antike. Also auch mit dem Griechen Thukidides. Und was stellt er da fest? Dass sich der Athener Historiker (sogar er!) in seinen Schriften fast immer auf das Ausserordentliche, das Sensationelle, konzentriert habe. Das politische Leben in Athen habe er noch einigermassen detailgetreu geschildert, aber auch da gäbe es gewaltige Lücken, so Finley. Welches waren die Argumente der Athener für oder gegen einen Fall beim Ostrakismus (Scherbengericht), beispielsweise? Weiss man meistens nicht. Finley weist folgerichtig immer wieder auf das «beredte Schweigen des Thukidides» hin. Und lässt uns darüber nachdenken, ob denn nicht auch die seriöse, allgemein geachtete Geschichtsschreibung in vielen Fällen wirklich anders geartet gewesen sei als der heutige Journalismus. Er würde diese Frage wohl verneinen.
Was zurück führt zum «Fall Boston»:

  • Erstmals seit dem 11. September 2001 wurden die USA von einem Anschlag betroffen;
  • Erstmals gab es Bombenterror gegen einen sportlichen Grossanlass (erstmals seit den Olym-pischen Spielen in München von 1972, um genau zu sein);
  • In Irak anderseits, auch in Syrien, ist der Terror, sind Anschläge zum Alltag geworden. Und «verdienen» daher kaum mehr Beachtung. Oder würden, ginge eine Korrespondentin, ein Korrespondent, mehr im Detail darauf ein, wohl kaum gelesen / gehört / gesehen.

Es gibt, das muss da auch angefügt werden, allerdings noch einen weiteren Aspekt in der Boston-Berichterstattung, und der enthält nun doch etwas «Moralin»: die Jagd nach den beiden (vermutlichen) Tätern glich, das gilt sogar für die meisten nicht-Boulevard-Medien, einem Krimi-Drehbuch, in dem die Guten und die Bösen von Anfang an klar konturiert waren. Die Jagd wurde zu Unterhaltung pervertiert. Und den beiden Zarnajew-Brüdern wurde, einfach mal so im Voraus, unterstellt, dass ihr Islam-Verständnis per se schon mit der Bereitschaft zu Terror übereinstimme. «Streng religiös» wurde fast gleichgesetzt mit «terroristisch». Da hätten die Journalisten, die Redaktoren ihre Verantwortung besser wahrnehmen sollen: So einfach ist’s nicht, selbst wenn man davon Kenntnis nehmen muss, dass «man bites dog» medial mehr wert ist als «dog bites man».


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2 Meinungen

  • am 21.04.2013 um 17:07 Uhr
    Permalink

    ok, alles richtig wegen der Berichterstattung über Boston. Meldungen über Boston habe ich fast alle überflogen. Aber: würde ich tatsächlich Nachrichten lesen, falls nichts ausserordentliches geschieht?

  • am 22.04.2013 um 12:09 Uhr
    Permalink

    Sehr geehrter Herr Erich Gysling
    Grundsätzlich haben Sie mit ihren Festellungen recht, dass die täglichen Bürgerkriegsopfer in Syrien und im Irak ebenso schlimm sind und ein viel grösseres Ausmas haben.
    Aber der Vergleich mit dem Bosten Anschlag ist total falsch, da es sich um eine friedliche Sportveranstaltung in einem demokratischen und «christlichen» Land handelt, das ganz im Gegensatz vom Irak und Syrien!
    Auch Ihre Meinung als konverdierter Muslim fällt wieder sehr deutlich auf und hat daher nichts mit neutralem Jurnalismus zu tun.
    Ich schätze sonst alle Ihre Artikel und Büchern über den Nahen Osten, aber leider ist das Strickmuster immer das gleiche und zwar die sicht durch die rosarote Muslim-Brille und das haben leider die meisten Schweizer-Zeitungen noch nicht erkannt.

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