Tausenden ukrainischen Soldaten wurden Arme oder Beine amputiert. Lou Cabana. Medical Center Orthotics and Prothetics.

Tausenden ukrainischen Soldaten wurden Arme oder Beine amputiert. © Lou Cabana/Medical Center Orthotics and Prothetics

«Die Ukrainer werden behandelt wie Kanonenfutter»

Red. /  Reporter Patrik Baab behauptet in einem Buch, grosse Medien würden die Nato-Erzählung einseitig übernehmen und den Krieg befeuern.

upg. Reporter Patrik Baab hatte vor Ort in dem von Russland besetzten Donbas recherchiert und veröffentlichte im November 2023 das Buch «Auf beiden Seiten der Front». Das wurde ihm zum Verhängnis. Er verlor an zwei UniversitäteLehraufträge. Heute sagt der langjährige ARD-Journalist Baab: «Die Presse wird zum zentralen Kriegstreiber.» Diese provozierende Aussage versucht Baab, in seinem neuen Buch «Propaganda-Presse – Wie uns Medien und Lohnschreiber in Kriege treiben» zu begründen. 
Da grosse Medien über diese Sicht kaum informieren, dokumentiert Infosperber im Folgenden aktuelle Aussagen von Baab dazu aus einem 
Gespräch mit den «Nachdenkseiten». Baab hat die Auszüge in dieser Form genehmigt.


Wer der Propaganda nicht folgt, ist die fünfte Kolonne des Gegners

Zum Instrumentarium von Zensur und Propaganda zählt, dass Journalisten wie Armin Coerper vom ZDF, Alina Lipp oder ich, die im Kriegsgebiet recherchiert haben, sofort mit Berufsverbot oder beruflichen Nachteilen, Rufschädigung und Denunziation überzogen werden. Damit verhindert die Presse selbst die Realitätsprobe vor Ort und verletzt den Grundsatz «et audiatur altera pars». Das ist Latein und heisst: Auch die Gegenseite soll gehört werden. 

Stattdessen wird, wer als Journalist dieser Handwerksregel folgt, als Putin-Versteher oder Unterstützer eines Angriffskrieges hingestellt. Dies zeigt, wie tief sich die Synkrisis (Vermischung) der Medien mit der Propaganda der Nato vollzogen hat: Wer unserer Propaganda nicht folgt, ist die fünfte Kolonne des Gegners.

Über das Leid wird zu wenig berichtet

In diesem Krieg zeigt sich der moralische Bankrott der Medien. Über die Toten, die Verstümmelten, die Traumatisierten wird zu wenig berichtet. Ich hatte 1999 im Kosovo im Krankenhaus von Prizren zwei Jugendliche gesehen, 12 und 14 Jahre alt. Sie wollten sich am Fuss kratzen. Aber sie hatten keinen Fuss mehr: Sie waren oberschenkelamputiert, weil sie auf eine Mine getreten waren – Phantomschmerz. 

In einem ukrainischen Feldspital. Yonsur Al-Hlou
In einem ukrainischen Feldspital

Die Menschen in der Ukraine wollen Frieden, aber redaktionelle Schreibtischbewohner reden vor allem über Waffenlieferungen und plädieren für eine Verlängerung des Krieges. Wer aus der redaktionellen Behaglichkeitszone, in der Kaffeetasse rührend, anderen Krieg und Tod zumutet, zeigt, dass er moralisch vollständig verkommen ist. Die Ukrainer werden behandelt wie Kanonenfutter. Und ich sage diesen Schreibtischbewohnern noch etwas: Wenn ihre Kinder an die Front müssten, wäre der Krieg morgen vorbei.

Fünf Ursachen für das Versagen von Medien

In meinem Buch identifiziere ich fünf Ursachen-Bereiche:

  1. In den Redaktionen landen vor allem Sprösslinge des gehobenen Bürgertums, die nicht wissen, was Krieg heisst.
  2. Die redaktionellen Arbeitsbedingungen: Freie Mitarbeiter werden meist nach Zeilen oder Sendeminuten bezahlt. Sie machen, was der leitende Redakteur sagt, damit sie Geld verdienen. Am Ende übernehmen sie die Denkweise der Chefetage, damit sie Themen anbieten können, die angenommen werden. Genau dies ist vorauseilender Gehorsam.
  3. Die Übermacht der Propaganda bei gleichzeitiger Stellenkürzung und Leistungsverdichtung. Es fällt schon auf, dass die Berichterstattung von Leuten bestritten wird, die noch nie in Russland oder der Ukraine waren, nie ein Buch darüber gelesen haben, noch nie in einem Kriegs- oder Krisengebiet waren. Aber diese ungebildeten Redakteure geben den Ton an. 
    Demgegenüber hatte das Pentagon schon vor Jahren etwa 27’000 PR-Mitarbeiter unter Vertrag. Dem haben Redaktionen nichts entgegenzusetzen. Oft arbeiten Redaktionen direkt mit Nato-Geheimdiensten zusammen.
  4. Eigentum: Die Konzernmedien sind in Privathand. Es gibt das sogenannte Verleger-Privileg. Der Verleger gibt die redaktionelle Linie vor. Wie der konservative Publizist Paul Sethe einmal schrieb: «Pressefreiheit ist die Freiheit von 200 Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.» Inzwischen sind es in Deutschland deutlich weniger als 200 Leute.
  5. Digitalisierung: Die Nachrichtennutzung geht mehr und mehr über aufs Smartphone, Nachrichten werden nebenbei konsumiert, in der U-Bahn, im Wartezimmer etc. Dadurch verkürzen sich die Aufmerksamkeitszeiten. 
    Dies ist einer tiefergehenden, recherchierten Hintergrundinformation abträglich. Im Wettbewerb um Klickzahlen setzen dann die Macher auf Personalisierung, Skandalisierung und Denunzierung. Es ist allemal leichter, einen Dissidenten in die Pfanne zu hauen, als den langen Weg in den Ukraine-Krieg zu erklären.

Transatlantisch korrumpiert

Die Eliten in Politik, Medien, Wissenschaft und Kultur sind in meinen Augen transatlantisch korrumpiert. Es ist den Vereinigten Staaten gelungen, in Europa eine transnationale Elitenbildung zu erreichen. Dies läuft über US-Stiftungen und transatlantische Organisationen wie German Marshall Fund, Atlantikbrücke, National Endowment for Democracy und viele andere. Die Fellows erhalten Einladungen zu Tagungen und zum Austausch von Wissenschaftlern, Forschungsförderung, Stipendien, Studienaufenthalten.

Quasselrunden in Talkshows

Das sogenannte Setting in den Quasselrunden spricht ja schon Bände: Drei Kriegstreiber dürfen mit Unterstützung des Moderators einen Menschen niederschreien, der sich am Friedensgebot des Grundgesetzes orientiert. Bei Markus Lanz darf eine Nato-Propagandistin namens Florence Gaub, die als Expertin eingeführt wird, behaupten, die Russen seien keine Europäer und hätten ein anderes Verhältnis zum Sterben und zum Tod. Kulturgeschichte hat Frau Gaub offenbar nicht studiert. Sie ist Reserveoffizierin der französischen Armee. Dies wird dem Zuschauer aber vorenthalten. 

Falsche und unzureichende Informationen

Aus den bereits genannten Gründen schätzen Journalisten aus der Komfortzone ihrer Schreibtische die militärische Lage falsch ein: Unter Fachleuten gibt es kein Szenario, in dem die Ukraine diesen Krieg gewinnt. 

Die moralisch-ethische Blindheit besagt, dass die Opferperspektive weitgehend ausgespart wird. Wenn man das Elend des Krieges ausstrahlen und drucken würde, könnte nämlich die Heimatfront ins Wanken geraten. 

Die psychologische Blindheit führt dazu, dass die Presse so tut, als sei die Kampfmoral der Ukrainer ungebrochen. All dies ist gelogen. Die Menschen wollen Frieden, im Donbass genauso wie in der Westukraine. 

Wer Krieg will, das sind immer die, die sich drücken können. Dies wird in den deutschen Medien nicht abgebildet. Insgesamt führt dies dazu, dass eine mediale Filterblase entsteht, die auch das politische Klima prägt. Auf der Basis falscher und unzureichender Informationen neigen Politiker dann dazu, Fehlentscheidungen zu treffen. 

Sie verfallen der gefährlichsten Fehleinschätzung in einem Krieg, nämlich den politischen Gegner zu unterschätzen und seine Fähigkeit auszublenden, Deutschland mit einem einzigen Atomschlag vollständig zu vernichten. Getrieben von Propaganda-Medien, werden Politiker zu verantwortungslosen Hasardeuren. In diesem Stadium befinden wir uns.

Die Presse wird zur zentralen Kriegstreiberin

Die Zerstörung des demokratischen Debattenraums und die Ausblendung von Positionen, die am Friedensgebot des Grundgesetzes orientiert sind, hat zwei Folgen: Die Presse wird nach innen zum schärfsten Zensurorgan und nach aussen zur zentralen Kriegstreiberin.

Die journalistische Sorgfaltspflicht würde Journalisten dazu anhalten, «ausgewogen» zu berichten, das heisst alle wesentlichen Aspekte eines Themas darzustellen.

Dies geschieht in der Ukraine-Berichterstattung nicht: Nicht berücksichtigt wird die Nato-Osterweiterung bis an die russischen Grenzen. Nicht berücksichtigt werden die völkerrechtswidrigen Angriffskriege des Westens: Serbien 1999, Afghanistan 2001, Irak 2003, Libyen und Syrien 2011 – sie haben das Völkerrecht durch das Faustrecht ersetzt, Moskau hat nachgezogen. 

Nicht berücksichtigt wird der Putsch auf dem Maidan 2014 mit Unterstützung des Westens, der ein ultranationalistisches und rechtsextremistisches Regime ans Ruder brachte. Nicht berücksichtigt wird der darauffolgende Bürgerkrieg im Donbass seit 2014 mit mehr als 14’000 Toten, vor allem unter der russischstämmigen Bevölkerung. 

Nicht erwähnt wird, dass die Gebiete östlich des Donbass ursprünglich russisch waren und erst 1922 der Sowjetrepublik Ukraine zugeordnet wurden. So löst «strategisches Framing» zugunsten der Nato eine ausgewogene Berichterstattung ab: Lügen durch Weglassen. Damit treiben die selbst ernannten Qualitätsmedien die Bevölkerung in neue Kriege.

Soldat mit amputierter Arm und Bauchwunden. Wash.Post
Ukrainischer Soldat mit amputierter Arm und Bauchwunden

Die ukrainische Sommeroffensive 2023 endete in einem Blutbad; unsere Leitmedien präsentierten überwiegend Jubelmeldungen. Die Ursachen des Krieges wurden von der russischen Regierung mehrfach benannt: Osterweiterung der Nato, die Verhinderung eines Nato-Beitritts der Ukraine, der Schutz der russischstämmigen Menschen im Donbass und die «Entnazifizierung» der Ukraine. 

Unabhängig davon, ob man diese Position teilt, muss darüber informiert werden. Aber wichtige Informationen werden unterschlagen.

Buch-Cover

Patrik Baab: «Propaganda-Presse. Wie uns Medien und Lohnschreiber in Kriege treiben», Verlag Hintergrund, 17. Juli 2024, 128 Seiten, 22.90 CHF14,80 Euro.
Aus dem Verlagstext: «Mainstream-Medien blenden wichtige Informationen über den Stellvertreterkrieg in der Ukraine aus. Sie übergehen die Vorgeschichte, die in den Krieg geführt hat. Friedensbemühungen werden kaum erwähnt, Kriegsgegner diffamiert. Grund: prekäre Beschäftigung, Besitzverhältnisse, Übermacht der Public Relations, Digitalisierung, vorauseilender Gehorsam, transatlantische Netzwerke.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber. entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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