Sperberauge
Die NZZ, TTIP und die Stammtische
Die NZZ läuft Sturm, nicht gegen, nein: für etwas. Das Transatlantische Freihandelsabkommen mit dem wunderbaren Namen Transatlantic Trade and Investment Partnership TTIP ist zurzeit in ihren Spalten ein beliebtes Thema. Wer auf NZZonline TTIP eingibt und dazu keine Zeitbeschränkung macht, erhält 7440 Fundstellen, fürs letzte Jahr 4560 und allein für die letzte Woche 573. Würde man das in einer Kurve visualisieren, die Linie ginge steil und immer steiler nach oben.
Es lohnt sich also, näher hinzuschauen. Und was kann man sehen: ein neues Symptom der eurohelvetischen Schizophrenie.
Der Beitritt der Schweiz zur EU ist in der Schweiz bekanntlich nicht nur kein Thema, er ist ein Tabu! Kaum aber hat die Schweizerische Nationalbank den Schweizer Franken vom Euro-Kurs abgekoppelt, geht schweizweit das grosse Wehklagen los. Die Exportwirtschaft ortet «gravierende» Probleme.
Und jetzt TTIP
TTIP ist ein geplantes Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA. Diverse Studien sagen voraus, dass bei dessen Abschluss die Schweiz zu den Verlierern gehört: Die EU wird dann mehr Handel mit den USA betreiben und weniger mit dem Nicht-EU-Land Schweiz. Economiesuisse-Präsident Heinz Karrer empfiehlt deshalb – wörtlich – eine «Andockung an TTIP». Man will zwar, wie immer, nicht zur EU gehören, von ihren Errungenschaften und Vorteilen aber will man selbstverständlich profitieren. Das ist einmal mehr Rosinenpickerei. Oder, politmedizinisch gesprochen: ein weiteres Symptom der eurohelvetischen Schizophrenie.
Und der Kommentar der NZZ?
Was sagt die NZZ zu TTIP? Sie empfiehlt der EU und den USA, das Abkommen schnellstmöglich zu unterzeichnen. Yvonne E. Helble von der Wirtschaftsredaktion etwa macht darauf aufmerksam, dass 2016 in den USA Präsidentschaftswahlen sind, was alles komplizierter mache. «Das Thema Freihandel ist nämlich ein derart heisses Eisen, dass es Politiker nur ungern anfassen ( ). Ob der Diskussion um Details – Chlor-Hühnchen sind der ‚TTIP-Klassiker’ – gehen jedoch die Vorteile eines freien Warenaustausches fast vollständig vergessen.» Und zum Abschluss ihres Pro-TTIP-Kommentars empfiehlt sie wörtlich: «Es wäre also geradezu fahrlässig, wenn sich das verbleibende Zeitfenster für die TTIP und die TPP ungenutzt schliessen würde.»
Der Wahlkampf in den USA: ein guter Grund für die EU, das Abkommen schnellstmöglich zu unterzeichnen. Man kann es auch so sehen.
Der Widerstand wächst, vor allem in Deutschland
Im Gegensatz zur Schweiz, die bekanntlich äusserst stolz ist auf das System der direkten Demokratie, wird in Deutschland immer eindringlicher ein Demokratie-Defizit beklagt. Doch kaum melden sich einzelne Stimmbürger und einige Organisationen, die unsere Welt nicht einfach den US-Konzernen überlassen möchten, zu Wort und äussern eine andere Meinung als die offizielle in Berlin, wird die direkte Mitsprache – aus Schweizer Sicht! – ins Lächerliche gezogen. NZZ-Korrespondent René Höltschi in Brüssel schreibt – in Bezug auf TTIP – am 20. April unter der Headline «Das Buhlen um die Stammtische» wörtlich: «Wer TTIP realisieren will, muss nicht nur am Verhandlungstisch reüssieren, sondern auch die ‹Lufthoheit über den Stammtischen’ zurückerobern, wobei die Stammtische der Gegenwart eher in sozialen Medien als in Wirtshäusern zu finden sind.»
Fortsetzung folgt
Auf die Fortsetzung dieser Geschichte darf gewettet werden: Sollten die EU und die USA trotz wachsendem Widerstand von Bürgerseite TTIP tatsächlich unterzeichnen, wird auch die Schweiz – nein, nicht der EU beitreten, aber, siehe Economiesuisse-Präsident Heinz Karrer oben, «andocken» wollen.
Die Schweiz mag die EU zwar nicht, aber ins Bett gehen mit ihr, bitte sehr: Es gibt sie ja, die «Liebe» gegen Geld…
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Kein Wunder, nennt sie der neue Chefredaktor doch selber neoliberal.
Die NZZ ist leider tief gefallen, nicht mehr die frühere Qualitätszeitung, die wenigstens bei Auslandthemen einigermassen integer wirkte. Nun lese ich sie nicht mehr.
Stammtische mit ihren Wutbürgern sind das neue Feindbild der Mainstream-JournalistInnen und PolitikerInnen. Sie stellen ihre politische Deutungshoheit und Themensetzung in Frage.