Sperberauge
Der «bürgerlichen Sichtweise» der NZZ fehlt es an Kontur
Infosperber-Leser Pierre Widmer, pensionierter Vizedirektor im Bundesamt für Justiz, liest seit über 40 Jahren die NZZ. Im Folgenden bilanziert er die «bürgerliche Politik».
Die NZZ lese ich seit gut 40 Jahren weil sie vielerlei Wissenswertes enthält, aber auch, weil ich mich gerne mit ihren häufig recht doktrinären und etwas gönnerhaften Positionen auseinandersetze. Woran ich mich hingegen zusehends reibe, ist die regelmässig wiederkehrende, penetrante und inflationäre Betonung einer «bürgerlichen» Sichtweise und Haltung. Da ist die Rede von «bürgerlichen» Politiken, (abhandengekommenem) bürgerlichem Bewusstsein, (herbeigewünschter) bürgerlicher Wende, (abortierten) bürgerlichen Schulterschlüssen, bürgerlichen Tugenden und Werten oder auch vom Frust bürgerlicher Frauen, in Politik und Wirtschaft nicht für voll genommen zu werden. Im Zusammenhang mit der vorletzten Kampfflugzeugbeschaffung war gar einmal von «bürgerlicher Lufthoheit» die Rede – von «bürgerlichen Tiefschlägen» spricht hingegen niemand.
Zu einer Sternstunde der «Bürgerlichkeit» gerieten die jüngsten Wahlvorgänge in Thüringen, wo es angeblich darum ging, mit gütiger Unterstützung einer faschistoiden Partei, coûte que coûte einen bürgerlichen Regierungschef zu wählen. Die ersten Kommentare in der NZZ waren denn auch dementsprechend (Tenor: So ist halt Demokratie!). In Thüringen, aber verbreitet auch hierzulande, bedeutet «bürgerlich» vielfach nichts Anderes als eine Kampfansage an die ‚bösen Linken’. Wenn man für die in Ostdeutschland begreiflicherweise tief verwurzelte Abneigung gegen die Partei der Linken als SED-Nachfolgerin ein gewisses Verständnis aufbringen kann, so geht einem dieses hingegen völlig ab, wenn auch Grüne und Sozialdemokraten, zuweilen gar Linksliberale als Gegner oder gar Feinde des Bürgertums abqualifiziert werden sollen.
Woher nur kommt diese Anmassung der rechtschaffenen, rechten und ganz rechten sogenannten Mitte, die Bürgerlichkeit, die citoyenneté für sich zu beanspruchen und zu pachten?
Ich bin in einem durchaus bürgerlichen Haushalt aufgewachsen, lebe nach wie vor in einem solchen und liebe «gut bürgerliches» Essen (Gibt es eigentlich auch «schlecht bürgerlichen» Frass? – Und ob es den gibt!); ich bin Inhaber des Schweizer Bürger-Rechts, pensioniert, nach Ausübung eines bürgerlichen (liberalen) Berufs, in dessen Mittelpunkt das Bürgerliche Gesetzbuch gestanden hat (bei uns Zivilgesetzbuch genannt; Art.11 Abs.1: ’Rechtsfähig ist jedermann’), gewesener parteipolitisch ungebundener Gesetzesredaktor (und in den Augen gewisser Mit-«Bürger» schon nur deshalb ein übler Linker – wie sich dies seinerzeit bereits Justizminister Kurt Furgler anhören musste). Überdies bin ich aktiver Staats-Bürger, der sich bei jeder Abstimmung fallweise in unbeabsichtigter Übereinstimmung mit Parteiparolen von wechselnden Seiten wiederfindet.
Die NZZ pervertiert das Wort «bürgerlich»
In der Politik aber – und eben auch in der NZZ – wird das Adjektiv «bürgerlich» für mich je länger desto peinlicher zum Reiz- und Unwort. Es steht dann für diejenigen Kräfte, Parteien und Bewegungen, die gerade gar nichts bewegen wollen, die – ausser wenn es um ihre eigenen, zumeist pekuniären und oft ziemlich partikulären Interessen geht (Assekuranz, Pharma, Rüstungsindustrie, leider auch Teile der Landwirtschaft), ständig bremsen, «stets verneinen», sich zu einer «bürgerliche Nein-Phalanx» zusammenschliessen, sich gegen jede neue Entwicklung stemmen, unabwendbare Veränderungen (Bankgeheimnis, Europa, Klimawandel) entweder dogmatisch leugnen, a priori als ‚unverhandelbar’ erklären oder nur unter (äusserem) Druck mit Ächzen, Krächzen und Lamentieren und möglichst bloss scheibchenweise nachvollziehen. Oder anders gesagt: zuerst bockig den Karren in den Dreck sausen und es dann Anderen oder dem ungeliebten Staat überlassen, ihn aus demselben wieder herauszuziehen.
Eigenverantwortung oder Bürokratie als ewig gleiche Argumente
Nach sechzig Jahren als Mitspieler und Beobachter bin ich ziemlich enttäuscht von dem, was sogenannte «bürgerliche Mehrheitspolitik» und bürgerlicher mainstream hierzulande zustande gebracht und vor allem versäumt haben. Ganze Legislaturen sind mit Geplänkel und Blockaden verplempert worden. Bei jedem Versuch, einem Missstand zu begegnen, hört man von den Gegnern dieselben abgegriffenen Argumente: Gesetzesflut, Bürokratie, Eigenverantwortung statt Bevormundung mündiger Bürger und was der schönen Ermahnungen mehr sind.
Gegen eine Bevormundung der Verbraucher, Bank- und Versicherungskunden oder der Mieter wehren sich häufig Interessengruppen wie Banken, Versicherungen, Vermieter und andere Anbieter. Gleichzeitig aber profitieren sie von ihrem Informationsvorsprung und bevormunden die mündige Bürgerin und den mündigen Bürger selber, indem sie ihnen mit Werbung, gekauften Studien und geschönten Statistiken den Kopf verdrehen.
Ich hätte mir von diesen Bürger[liche]n mehr Fantasie, mehr Risikofreudigkeit und mehr Weitsicht gewünscht. Und vor allem auch mehr Liberalität – aber im ursprünglichen Sinne, so wie sie von den Gründern unseres Bundesstaates verstanden wurde, selbstverständlich angepasst an das erste Viertel des 21. Jahrhunderts. Das heisst: nicht einfach weniger Staat und unbegrenzte Freiheit(en) – auch von (Selbst-)Verantwortung.
Bin ich mit diesem Standpunkt in ihren Augen auch wieder ein übler Linker? Oder vielleicht doch immerhin noch ein Citoyen? Dass sich bei den jüngeren Generationen ein ähnliches Verständnis der res publica Bahn zu brechen scheint, gibt Anlass zur Hoffnung, dass nicht noch einmal Jahrzehnte in träger und selbstgerechter Beharrung verstreichen.
«Eine Rückbesinnung auf diese substanzielle Bürgerlichkeit tut not – auf eine bürgerliche Kultur jenseits von parteilichen Zuordnungen», schrieb Alt-Ständerat und Staatsrechtler René Rhinow vor rund drei Jahren – und zwar in der NZZ. Es ist Zeit, daran zu erinnern und tatkräftig mutigen Bürger-Sinn einzufordern.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Verfasser Pierre Widmer war während 17 Jahren im Bundesamt für Justiz, zuletzt als Vizedirektor der Hauptabteilung Privatrecht, tätig; anschliessend für weitere 13 Jahre Direktor des Schweiz. Instituts für Rechtsvergleichung in Lausanne.
Widmer trifft den Nagel auf den Kopf mit seiner NZZ-Kritik. Teilweise erinnern der Sprachgebrauch und das Gedankengut an Populismus. Zurzeit findet teilweise eine rechtsum (oder ist es linksum?) Kehrwende statt. Der Staat kann nicht genug tun für die Privatwirtschaft, die KMUS und auch für Notleidende Multis. Sogar bei der Einschätzung der Medienlandschaft findet dieses Phänomen statt. Vergleiche heute den Titel eines Artikels über die STAATLICHE Presseförderung, die bis anhin des Teufels war und neu als verzögertes, langersehntes Agieren des Bundes dargestellt wird. Ein Schelm, der Schlechtes denkt.
Wir sollten endlich mit dem links-/rechts-/bürgerlich-Schema aufhören, denn so denken wir nicht weiter.
Was wir jetzt brauchen ist eine Wirtschaft, die sozial und umweltverträglich ist und für das Gemeinwohl produziert.
Eine Wirtschaft auch, wo die bisher schlecht oder gar nicht bezahlte Care-Arbeit, grösstenteils von Frauen geleistet, ideell und finanziell Bestandteil ist.
Eine Wirtschaft zudem, wo das Gemeinwohl, der Umweltschutz, der Schutz der Menschenrechte, die Armutbekämpfung, Solidarität usw. in ihrer Agenda steht und eben nicht ausschliesslich das Gewinnstreben Einzelner.
Die jetzige Krise mit dem Corona-Virus zeigt, dass die seit Jahrzehnten geführte Liberalisierung ein Riesen-Problem ist, weil es an allem fehlt: zuerst an Pflegepersonal, dann an Medikamenten, Spitalbetten, Atmungsgeräten, Desinfektionsmitteln, Schutzkleidern und so fort. Ein Grundeinkommen fehlt.
Das Gesundheitswesen, Bildung und Kultur, Forschung, Medikamentenherstellung sowie den Service publique etc. kann die Privatwirtschaft nicht wahrnehmen und stemmen. Das zeigt die jetzige Krise deutlich.
Und dies geht weit über ein links-/rechts-Schema hinaus.
Die Neue Zürcher Zeitung wird dies auch noch lernen müssen, irgendwann…..
Dass die NZZ mit «bürgerlich» «rechts» meint ist nichts Neues. Dass sie aber mit «bürgerlich» die globalen Grosskonzerne meint, ist seit den 90er Jahren zu beobachten. Früher war mit «bürgerlich» der schweizerische Mittelstand gemeint, heute die globalen Grosskonzerne wie Nestle, Novartis, Roche, ABB, etc., die von ausländischen Aktionären (Ausnahme: Roche) und ausländischem Management geführt werden. Die NZZ wehrte sich heroisch gegen den Anschluss an das 3.Reich, dann unterstützte sie BR Hans Schaffner und Staatssekretär Paul Jolles, die für den europäischen Freihandel, aber gegen die politische Integration in Europa kämpften. Dank Jolles hat die Schweiz heute ein ausgezeichnetes Freihandelsabkommen mit der EU, das heute durch das Rahmenabkommen gefährdet ist. Dass die NZZ seit 1992 (EWR Abstimmung) für den politischen Anschluss an die EU kämpft und heute das Rahmenabkommen durchsetzen will, bedeutet eine 180° Wende ihrer historischen Rolle. Die NZZ ist zu einem Propaganda Pamphlet von Economiesuisse, d.h. der globalen Grosskonzernen geworden. Pitoyable!
Ganz abgesehen von allen inhaltlichen Bedenken, die man zu sogenannter «bürgerlicher» Politik haben mag, schon rein sprachlich ist dieser Begriff ein Unding. Er impliziert nämlich mehr oder weniger unverhohlen, dass Sozialdemokraten, Grüne und andere Menschen, die mit einer bestimmten Art der Politik nicht einverstanden sind, eigentlich keine Bürger dieses Landes seien. Diese sprachliche Quasi-Ausbürgerung ist nichts anderes als eine riesige Unverschämtheit.
Eine brillante Analyse des von libertärer-neoliberaler Seite her betriebenen Missbrauchs des Begriffs «Bürgerlichkeit» ! … Eine vergleichbare Entwicklung von Begriffspervertierung lässt sich übrigens auch beim Begriff «Liberalismus» beobachten …
Pierre Widmer kann man beipflichten. Die Bürgerlichen der politischen Mitte und rechts davon haben mit ihrem Renditewahn und ihren Geistesblitzen just in time auch das Gesundheitswesen in gewissen Bereichen zu Boden geritten. Die Löhne des Pflegepersonals sind ein Desaster, auch Assistenzärzte werken am Limit und für die Pandemievorbereitung fehlte das Geld, obwohl das Robert-Koch-Institut schon 2013 beschrieb, was wir jetzt erleben. Dem Ruf der Wirtschaft zu folgen und die Produktion der relevanten Materialien zur Bekämpfung einer Pandemie nach China auszulagern ist an Naivität kaum zu überbieten. Ebenso fehlten schon vor der Pandemie über 600 Medikamente in der Schweiz. Ruth Humbel ist die Präsidentin der Gesundheitskommission und im Verwaltungsrat der Concordia und kassiert Jahr für Jahr unter anderem Sitzungsgelder. Und die übrigen Mitglieder auch. So typisch bürgerlich. Ohne wirklichen Mehrwert für den «Bürger».
Herr Widmer, ich bin mit ihnen völlig einverstanden. Leider haben sich das gerade die Sozialdemokraten ein Stück weit selber zuzuschreiben. In der Aufbruchsstimmung der 60er hat sich die SP gerne ein revolutionsromantisches Image gegeben. Dabei war es eine grosse Errungenschaft der Schweiz, dass hier die berechtigten Anliegen der Arbeiterbewegung durch die Sozialdemokraten mit bürgerlichen Mitteln erstritten wurden. Nicht zuletzt darum, weil in der Schweiz diese politischen Mittel überhaupt zur Verfügung standen. Kaum ein anderes Land in Europa hat die Ziele der liberalen Revolution von 1848 so institutionalisiert. Es wäre wichtig, dass sich die SP wieder stärker auf ihre revolutionären Wurzeln in der bürgerlichen Bewegung besinnen und diese betonen würde. Der Kampf für die «echten» bürgerlichen Tugenden wäre heute wichtiger denn je. Die SP müsste sich mit den verbliebenen «echten» Freisinnigen zusammentun. Ich denke, im alltäglichen Parlamentsbetrieb funktioniert das sogar ganz ordentlich. Nur müssten sowohl die SP als auch der Freisinn offen zu diesen Werten stehen. Beide haben sie das Gefühl, ihrer Wählerschaft das Image der Revoluzzer hier und der «Neoliberalen» dort vorspielen zu müssen.
Dies ist ein sturm im wasserglas. Umgangssprachlich bezeichnet man die parteien rechts der mitte als bürgerlich. Also fdp, svp und cvp im wesentlichen. Es lohnt sich nicht über die «wahre» bürgerlichkeit zu sinnieren.
Interessant ist in diesem zusammenhang eher, dass sich fdp und cvp heute lächerlicherweise als mitteparteien bezeichnen. Ein ähnlicher fehler wie die versozialdemokratisierung der einst klar rechts der mitte stehenden cdu durch merkel. Dies führte zum entstehen und aufstieg der afd.