Brüssel und die EU – diesmal in Form eines Romans
Karl May, man weiss es, hat in seinen Romanen viele Landschaften beschrieben, die er nie gesehen hat. Und trotzdem hat er diese oft besonders anschaulich und realitätsnah geschildert. Erstaunlich, aber eben: damals!
Heute kann man sich so etwas nicht mehr leisten. Soll ein Roman nicht nur billige Unterhaltung – Zeitvertreib! – sein, sondern ernst genommen werden und zum Mit- und Nachdenken führen, muss ein reales Gerüst her, müssen Realitäten faktentreu wiedergegeben werden. Das zumindest ist die Überzeugung von Robert Menasse. Und der Wiener Romancier und Essayist will ernst genommen werden! Weil er einen Roman ins Umfeld von Brüssel setzen wollte – in Brüssel wird die Zukunft Europas gestaltet – mietete er dort kurzerhand eine kleine Wohnung und lebte, zusammengezählt, dort gute zwei Jahre lang.
Zuerst allerdings entstand aus seinen Brüsseler Begegnungen und Erfahrungen das Buch «Der Europäische Landbote». Infosperber hat ausführlich darüber berichtet. Und für dieses Buch hat Menasse ja auch den Max Frisch-Preis der Stadt Zürich erhalten (auch darüber kann auf Infosperber nachgelesen werden.)
Jetzt aber ist auch der ursprünglich geplante Roman erschienen: «Die Hauptstadt». Ab heute ist er im Buchhandel greifbar.
Brüssel!
Niemanden, der Robert Menasse kennt, wird’s überraschen: Es ist einmal mehr ein phänomenales Werk! Die Strassen, die Cafés und Restaurants, die Amtsgebäude, die Friedhöfe – wo immer Menasse Brüssel beschreibt, wohin immer er seine Personen führt und setzt: Es ist genauestens recherchiert, es ist real. Die Personen im Roman aber sind nicht existierende, im Telefonbuch auffindbare Personen, sie sind seine Typisierungen: Beamte der EU, Wissenschaftler, Agenten, oder auch einfach Stadtbewohner. Zum Beispiel ein alter Jude, einer der letzten Überlebenden des Holocaust. – Zwei Jahre Brüssel, so wie die Stadt leibt und lebt!
Der Fokus in Menasses Roman liegt, erwartungsgemäss, auf den Funktionärinnen und Funktionären der EU – und wie sie arbeiten: miteinander, gegeneinander, verliebt, verstritten, zum Wohle der EU und – leider fast öfter – im Interesse der einzelnen EU-Mitgliedsländer, aus denen sie, diese Funktionäre, kommen. Soll der Export des Schweinefleisches nach China in einem Vertrag zwischen China und der EU geregelt werden? Oder soll er, wie gewisse Lobbyisten fordern, im Interesse ihrer nationalstaatlichen Branchenverbände zwischen einzelnen Ländern und China verhandelt und geregelt werden – zum Vorteil des einen EU-Landes, damit aber auch gleichzeitig zum Nachteil des anderen EU-Landes?
Wer Robert Menasses «Europäischen Landboten» gelesen hat – und natürlich erst recht wer Robert Menasse persönlich ein wenig kennt, etwa von einer seiner zahlreichen Lesungen her – , der spürt in den mal detailliert wiedergegebenen, mal eher bruchstückhaft beleuchteten Diskussionen, in wessen Argumentation Menasses eigenes Herz schlägt. Aber es sind immer die Menschen dort, in Brüssel, die reden, die handeln: die politisch Engagierten, die Idealisten, aber auch die Verwalter, die karrieresüchtigen Manager; die Ideengeber, die kreativen Gestalter, aber auch die nationalistischen Interessenvertreter; die Mehrsprachigen, die kulturbewussten Europäer, aber auch die Nationalstaatler, die nur-Abgeordneten, aus Ungarn etwa.
Menasses Roman «Die Hauptstadt» ist unendlich politisch, aber eben ein Roman, in dem Menschen handeln – und behandelt werden. Gerade die Politik ist eben menschliches Machwerk – und gerade deshalb unvollkommen, fehlerhaft. Und das ist es, was fasziniert: die Beschreibung der Beziehungen und der Verquickungen, der Erfolge und Misserfolge, der neuen Hoffnungen und der vielen Enttäuschungen.
Eine Passage sei hier wörtlich wiedergegeben. Genügt es einem Gelehrten, irgend eine akademische Abhandlung zu schreiben? Ein Totgeweihter hat eine gewichtige Antwort. Spricht auch aus ihm Robert Menasse?
«Er atmete tief durch, dann sagte er: Und nun möchte ich Ihnen etwas erzählen. Ich habe jetzt ein paar Mal Armand Moens zitiert. Das haben Sie geschluckt. Sie haben sich vielleicht gedacht, okay, Moens ist nicht Mainstream, aber es sind doch Zitate eines bekannten Ökonomen, und Sie, meine Damen und Herren, zitieren in Ihren Arbeiten und Ihren Wortmeldungen eben andere, Sie zitieren die Namen, die jetzt Mainstream sind. Sie suchen nicht nach der Wahrheit, weil Sie den Mainstream für den letzten Stand der Wahrheit halten. Warten Sie! Warten Sie! Ich sage nicht, dass ich weiß, was die Wahrheit ist. Ich sage nur, dass wir uns das fragen müssen. Und ich sage, dass wir ihr nicht unbedingt näher kommen, wenn wir uns am Zeitgeist orientieren, also an den gegenwärtig machtvollen Interessen von Wenigen, für die die Mehrheit der Menschen nur ein Abschreibposten in ihrer Buchhaltung ist. Egal. Was ich erzählen will: In meiner allerersten wissenschaftlichen Publikation habe ich mich mit der Theorie von Armand Moens auseinandergesetzt. Voll Stolz schickte ich ihm diesen Aufsatz. Ich hatte es nicht erwartet, aber er antwortete. Ich möchte Ihnen eine Stelle aus seinem Brief vorlesen: Lieber Herr Erhart und so weiter und so weiter, ja, hier: Was Sie getan haben, ist für mich schmeichelhaft und stellt Ihnen ein gutes Zeugnis aus. Sie haben mich zustimmend zitiert und dabei alle Zitierregeln eingehalten. Was Sie geliefert haben, ist eine perfekte erste Publikation, nach den Spielregeln unseres Betriebs. Aber stellen Sie sich vor, Sie müssten jetzt sterben, und diese Publikation wäre das, was von Ihnen bleibt. Wären Sie dann noch immer damit zufrieden? Haben Sie keine Gedanken, keine Visionen, die weit über das hinausgehen, was Sie zitiert haben? Ist dieser Aufsatz wirklich das, was Sie der Welt mitteilen wollten, das, was nur Sie sagen können, das, was weiterwirken soll, falls Sie keine Gelegenheit mehr haben, noch etwas zu sagen? Ich sage: NEIN!
NEIN in Großbuchstaben geschrieben, sagte Erhart. Und jetzt sage ich Ihnen noch etwas: Wenn Sie sich wirklich, wie Sie in Ihrem Begleitbrief schreiben, als mein Schüler verstehen, dann müssen Sie zuallererst dies lernen: Bei allem, was Sie öffentlich sagen, bei allem, was Sie publizieren, müssen Sie von der Vorstellung ausgehen, dies könnten Ihre letzten Worte sein. Bei Ihrem nächsten Vortrag – stellen Sie sich vor, Sie wüssten, dass Sie unmittelbar danach sterben müssen – was würden Sie in diesem Fall sagen? Einmal noch können Sie etwas sagen, einmal noch, auf Leben und Tod. Was wäre das? Ich bin sicher, Sie würden etwas anderes sagen als das, was Sie in diesem Aufsatz geschrieben haben. Und wenn nicht, dann hätten Sie auch diesen Aufsatz nicht schreiben müssen. Verstehen Sie mich? Es gibt zahllose Sätze, mit denen man sein Leben behaupten, einen Dienstposten erobern und ihn verteidigen kann, Sätze, die am Ende in Gesammelte Werke und in Festschriften eingehen, und ich sage nicht, dass sie alle falsch sind oder unnötig, aber was wir dringend brauchen, sind Sätze mit dem existentiellen Anspruch letzter Worte, die dann nicht in einem Archiv schlummern, sondern Menschen aufwecken, vielleicht sogar Menschen, die heute noch gar nicht geboren sind. Also, lieber Herr Er- hart, schicken Sie mir noch einen Text. Ich möchte gerne wissen, was Sie schreiben unter der Voraussetzung: Das ist meine letzte Chance, noch etwas zu sagen. Und dann sage ich Ihnen, ob es sinnvoll ist, dass Sie weiter publizieren.»
Wir unsererseits hoffen, dass Robert Menasse noch lange publizieren kann.
Das Buch «Die Hauptstadt» ist ab morgen Montag im Buchhandel.
«Da läuft ein Schwein.» So lautet der Erste Satz in Robert Menasses neuem Roman. Und was kam da auf einer Wanderung völlig überraschend aus dem Gebüsch bei der Kapelle Madonna della Guardia oberhalb von Curiglia? Ein Schwein! – Auch Fotografen müssen manchmal «Schwein» haben …
Am Sonntag, 15. Oktober, ist Robert Menasse im Zentrum Paul Klee in Bern zu einem Gespräch zu Gast, am Mittwoch, 1. November, im Literaturhaus in Zürich für eine Lesung.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Christian Müller ist mit Robert Menasse persönlich befreundet. Menasse besuchte ihn im Anschluss an das Filmfestival in Ascona 2017, wo er zu Frank A. Meyers Dîner républicain eingeladen war. Auf einer Wanderung am Westhang des Monte Lema, bei der Kapelle Madonna della Guardia, entstand dann auch das Bild von Menasse mit dem Schwein ...