Kommentar

kontertext: Heucheln und meucheln

Beat Sterchi © Alexander Egger

Beat Sterchi /  Es ist gerade mal wieder nicht leicht, sich den Medien zu entziehen. Ein Plädoyer für gelegentliche Schweigeminuten.

«Apfel ist zurück. Läden in St. Petersburg wieder eröffnet.» Das kann man dank dem Übersetzungsprogramm in einer dortigen Zeitung lesen. Eigentlich verrückt! Alles ist so weit weg und, wenn man will, ist es schmerzhaft nah. Gleich hier vor der Nase. Man könnte sogar mit eigenen Sanktionen eingreifen. Man könnte in einem Restaurant in Moskau zum Schaden des Betreibers einen grossen Tisch reservieren und gleichzeitig anstatt Gastrokritik auch noch Kriegsinformationen deponieren, wie das angeblich fleissig getan wird. Und doch hat man keine Ahnung, weiss eigentlich nichts, aber gerade deshalb will man lesen und hören und sehen, und wenn man auf der Strasse Bekannte trifft, bleibt man stehen. Wer hätte das gedacht, dass wir das noch erleben müssen? Die Gespräche kreisen alles ein, kreisen auch um sich selbst und geben erschreckende Übereinstimmungen preis. Sind wir schon wieder alle gleicher Meinung? Irgendwo hinter dem unstillbaren Durst nach immer mehr Information versteckt sich auch schon die Hoffnung auf einen Etappensieg unserer Wahrheit. Der Tyrannensturz steht wohl kaum kurz bevor, aber auch einen kleineren Einbruch im Reich des Bösen nähmen wir gerne zur Kenntnis.

Man hört sich sogar die unmöglichsten, in die Weite des Alls hinausgestellten Fragen an: Was wird Russland als Nächstes tun? Was denken die Russen? Was denken die Russinnen? Genau das fragt die Journalistin aus Zürich die Expertin in Berlin und man schaltet es noch immer nicht aus, dieses Radio, das angeblich so viel weiss und überhaupt nichts kann, auch niemandem hilft, man hört sich alles immer weiter an, wieder und wieder und man schaut zu, wie der Reporter der BBC zwei edel gestylte Damen fragt:

Unterstützen Sie die Politik Ihrer Regierung?
Klar, natürlich, lautet die Antwort.
Voll und ganz?, hakt der Reporter nach.
Ja, 100%!
Nein! 200%!, wird nachgedoppelt.

Aber man erschrickt. Hat man nicht eben Fremdscham empfunden? Ist man selbst schon so parteiisch verstrickt, dass einen die beiden bedauernswert ignoranten Russinnen beschämen?

Diese sogenannte Operation, bitte sehr, das ist ein unmenschlicher Krieg!, will man schreien. Aber man macht den Fernseher auch nicht aus, wenn eine Reporterin mitten in den Trümmern zwischen eingestürzten Häusern einer offensichtlich erschöpften, älteren Frau ein riesiges Mikrophon vor den Mund hält. Da gibt es kein Entkommen: Die arme Frau muss antworten. Es muss ausgesprochen werden, was jeder sieht. The show must go on! Diese gebärdet sich zwar nicht überall so menschenverachtend wie auf CNN, wo auf ihre hypnotische Wirkung zusammengeschnipselte Bildsignale eher wenig mit Berichterstattung zu tun haben. Trotzdem: Meist ist es peinlich, Zeuge sein zu müssen, und es kann nur als harter Schicksalsschlag bewertet werden, dass man sich jetzt auch noch gezwungen sieht, für die anstehende Aufrüstung Verständnis aufzubringen. Auch gilt es wieder Kriegsverbrechen zur Kenntnis zu nehmen, obschon man doch erst noch gerade der Ansicht war, dass es Kriegsverbrechen nicht geben kann, weil jeder Krieg an sich schon ein Verbrechen ist. Aber jetzt wägt man wieder ab, vergleicht, weiss sich im Recht und hört sich weiter alles an.

Da wird einem doch tatsächlich mitgeteilt, der rapide ansteigende Absatz von ukrainischen Fahnen sei ein Ausdruck von Solidarität. So viel weiss man in der Fahnenfabrik und die Reporterin wiederholt es noch dreimal, ohne dass man auf den Aus-Knopf gedrückt hätte.

Auch die unsäglichsten Satzfragen hört man sich an, obschon die so oft klingen, als hätte sich der Fragesteller eben gerade auf Wikipedia ein bisschen zum Thema kundig gemacht, um sich auch selber einbringen zu können. Dabei möchte man ja eigentlich nur hören, dass Schweigeminuten auch ihren Wert hätten, dass sich nämlich das Wesentliche nicht fassen lässt, dass die Widersprüche nicht aufzulösen sind und dass es Medienschaffende gibt, die nicht alle ins gleich Horn blasen. Natürlich soll man die Leute nicht an ihren Worten aufhängen, aber von dem, was sie tun, gibt es nur diese wie Lawinen auf uns einstürzenden Bilder, die man nicht unter einen Hut bringen kann und die mit den vielen Worten so oft rein gar nichts zu tun haben.

Steht man am Herd und dreht das Gas auf, fragt man sich, wie kann das überhaupt noch fliessen und was bedeuten all diese Sanktionen und diese Drohungen, wenn man doch weiter munter Handel treibt? Was denkt die Mutter mit ihrem Kind auf der Flucht, wenn sie an einer Grenze Nothilfe bekommt und gleichzeitig erfährt, dass der Spender auch weiter jenes Gas kauft, dessen Erlös diesen Krieg erst möglich machte? Man bringt es einfach nicht unter einen Hut. Aber selbstgerecht ist man stolz, beim Lesen der Prawda oder bei Russia Today die Propaganda zu entlarven – dagegen, dass auch hier alles verstrickt ist, dass mir westliche Technologie die östliche Falschmeldung übersetzt, dass Gut und Böse einmal mehr nicht mehr zu trennen sind, dagegen etwas tun kann man nicht.

Nichts, rein nichts kann man tun.

Ausser schweigen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Beat Sterchi ist freier Autor. Vor «Capricho» (Diogenes 2021) veröffentlichte er die Reisereportage «Going to Pristina» (essais agités 2018) und den Lyrikband «Aber gibt es keins» (Der gesunde Menschenversand, 2018). www.beatsterchi.ch

Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Die Gruppe ist dabei, sich neu zu konstituieren. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler und Felix Schneider.

Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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3 Meinungen

  • am 15.03.2022 um 11:46 Uhr
    Permalink

    Aber wer schweigt, macht sich mitschuldig, schreibt Ulrike Guérot in ihrem neuesten Buch.
    Stimmt, mit Schweigen kann man Gut und Böse nicht trennen.

  • am 15.03.2022 um 11:48 Uhr
    Permalink

    Lieber Beat.Ich muss zuerst zwei Dinge kurz erklären: Ich (1945) habe vor zwei Jahen beschlossen, in Zukunft alle Menschen, die mir sympathisch sind, zu duzen. Und zweitens, ich habe mir vorgenommen, nie mehr im Infosperber zu schreiben, da viele meiner Berichte («Das darf man so nicht sagen!») zensuriert worden oder überhaupt nicht veröffentlicht worden sind.
    Warum ich jetzt doch wieder schreibe: Du verstehst es, deine Ideen in einem so exzellenten Deutsch zu schreiben, und die so ehrlich und mutig sind, dass ich dich unbedingt näher kennen lernen will und sofort «Capicho» bestelle. Danke, ich bin so glücklich, dass es auch in der Schweiz doch noch ein paar vernünftige, scheuklappenlose und menschenliebende Zeitgenossen gibt, die den Mut haben, gegen den Einheitsbrei der Zwangsmeinung anzukämpfen. B R A V O !
    Sepp, ein ins Welschland geflohener Thurgauer.

  • am 15.03.2022 um 12:00 Uhr
    Permalink

    Herr Sterchi, weil wir nichts getan und geschwiegen haben ist dieser Krieg ausgebrochen. Wir haben keinen Druck auf unsere Regierungen geübt, als es klar wurde, dass weder EU, USA noch NATO an einer echten Verhandlung mit Russland interessiert sind. Wir haben alle während den Jahrzehnten geschwiegen, als Russland trotz dem Verschwinden der Sowjetunion weiterhin als „das böse diktatorische Regime“ kritisiert wurde. Jetzt ist es zu spät. Hoffentlich lernen wir endlich, trotz unterschiedlichen Meinungen zusammen für eine bessere Welt zu arbeiten. Solange Wohlstand über Demokratie siegt und kritisieren leichter als zu handeln, dürfte das schwierig bleiben. Doch wir können jene Menschen und Organisationen unterstützen, die für Kooperation statt für Konkurrenz sind; wir können unsere Kinder dazu erziehen, damit kommende Generationen es besser machen, und wir können jene Parteien wählen, die der Zusammenarbeit der Konkurrenz Vorzug geben. Was wir nicht sollten, ist zu schweigen.

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