Kommentar
kontertext: Poesie und Politik – ein Wintermärchen?
Die SchriftstellerInnen Simone Buchholz, Dmitrij Kapitelman und Mithu Sanyal haben Anfang Januar in einem offenen Brief in der «Süddeutschen Zeitung» den Vorschlag gemacht, eine Stelle zu schaffen, an welcher eine Schriftstellerin regelmässig die politischen Debatten im Bundestag in «Poesie und Prosa» giessen könnte. Die grüne Bundestagsvizepräsidentin hat schnell positiv reagiert: «Ich unterstütze es, einen neuen diskursiven Raum zwischen Parlament und lebendiger Sprache zu öffnen. Poesie kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten», so Katrin Göring-Eckardt.
Dass das Anliegen so schnell Gehör fand, hat gewiss auch mit dem Namen von Mithu Sanyal zu tun, die mit ihrem Bestseller «Identitti» im Jahr 2021 weitherum besprochen, gelesen, auf fast jedem Sender und in jeder grösseren Zeitung interviewt wurde. Wer den Roman und den Sound dazu kennt, weiss, dass die Schriftstellerin auch ein Schriftsteller sein könnte – aber sicher besser eine Frau und noch besser keine weisse Frau. Die «Süddeutsche» wählte deshalb als Aufmacher für den offenen Brief das Bild von Amanda Gorman – als ob der Bundestag schon eine mediale Weltbühne für Diversity wäre. Das Anliegen hat also den leicht fahlen Anschein einer PR-Aktion. Dennoch birgt es etwas in sich, das man prüfen muss, nämlich die Frage nach dem Verhältnis von Poesie und Politik. Ist Lyrik «lebendige Sprache»? Und ist das Parlament der richtige Ort dafür?
Spott, Satire und Pathos
Während der Vorschlag in deutschen Medien länger diskutiert wurde, fand er in der Schweiz zuerst nur bei der NZZ Resonanz – als spöttische Satire. Satire neigt, so will es die Gattung, zur Überzeichnung: Genussvoll schildert der Literaturkritiker Jandl also die Vorstellung, dass Christian Lindner seinen Budgetentwurf künftig tanzt oder singt. Und kommt zum launigen Schluss, dass es ein Posaunist sein könnte, der dem Parlament künftig etwas den Marsch bläst.
In einer Stellungnahme gehen berufstätige SchriftstellerInnen in der «Süddeutschen Zeitung» ähnlich unzimperlich um mit dem Vorschlag.
Unter dem Titel «Darf’s sonst noch etwas sein?» fragen Dana von Suffrin und Tijan Sila etwa: «Sollen wir mit unseren zarten Dichterhändchen Kieselsteine auf die schweren Mauern des Reichstages werfen, wenn mal wieder Dutzende Afghanen abgeschoben werden? Und danach eine Ballade dichten, zu der die Abschieber sich Tränen aus den Augen wischen können?»
Ähnlich spitz fällt der Kommentar der Schriftstellerin Sophie Danneberg im Magazin Cicero aus: Sie fürchtet nicht ganz zu Unrecht Pathos, Kitsch und letztlich staatstragende Poesie.
Skeptisch, aber weniger polemisch nimmt Knut Cordson das Ansinnen in der Kulturbühne wahr. Zwar warnt auch er davor, Poesie als Heilmittel zu instrumentalisieren, doch zeichnet er zum Ansinnen von Buchholz, Kapitelman und Sanyal auch eine Vorläufergeschichte aus den 90er Jahren nach. Es war der Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky, der nahelegte, jeder moderne Staat könne von seinen Führungskräften verlangen, täglich ein Gedicht zu lesen oder sich vorlesen zu lassen. Und er erinnert auch an Stefan Heym als Alterspräsidenten im Bundestag, der bedeutende Eröffnungsreden hielt. Aber es gibt auch Beispiele in der Gegenwart: So hat Kanada seit 20 Jahren eine Parlamentspoetin, die zur Zeit von der aus der indigenen Bevölkerung stammenden Louise Bernice erfolgreich, das heisst mit viel Anerkennung wahrgenommen wird, wie Peter Mück auf SWR2 ausführlich darlegte.
Es braucht also kein Singen und Tanzen und auch nicht unbedingt das Pathos einer Gospelrede, wie wir sie aus den USA kennen, wenn Literatur auf Öffentlichkeit trifft. Denn Poesie und die Sprache insgesamt verfügen über unzählige Tonlagen. Sie kennen den treffenden Vergleich durch Metaphern, sie bergen die Mittel der Zuspitzung, sie kennen das Gleichnis, die Klage, den Witz und die Ironie. Gerade wenn Lyrik selber politisch sein will, ist Letztere unabdingbar. Nur braucht es dazu wohl auch eine warnende Erinnerung. Zum Beispiel jene an Heines Versepos «Deutschland, ein Wintermärchen» von 1844, in welchem er alle deutschen Nationalsymbole einer traurig ätzenden Satire unterzieht und die Zukunft des Landes in einem stinkenden Nachttopf versenkt. «Das Wintermärchen» erschien trotz Zensur, wurde aber umgehend wieder verboten und Heine für immer aus Deutschland verbannt.
Im Ernst
Wie also kann man den Vorschlag von Poesie im Bundestag ernst nehmen, jetzt, wo er zur Umsetzung kommen könnte? Es sind zwei Punkte, die es ernsthaft zu bedenken gilt: Der eine betrifft die Gattung, der andere den Kontext.
Bezüglich Gattung kennen wir einige Formen von politischer Lyrik aus dem Bereich des Gesangs: Vom Gospel bis zum Protestsong oder zur Schnitzelbank bilden Gesänge durch ihre spezifischen poetischen Mittel Gegenöffentlichkeiten, sie sind andere Ausdrucksweisen für Missstände als die sachliche Information oder die politische Kampfschrift. «Southern trees bear strange fruit» von Billie Holiday tat dies so eindringlich, dass Konzertveranstalter das Lied verboten haben, weil die Sängerin mit der Metapher der «seltsamen Früchte» die auf Sklavenplantagen der Südstaaten Erhängten meinte. Eine Metapher muss also nicht beschönigen: Sie kann durch ihre Schönheit treffen. Dennoch gilt für Lyrik, ob Slam oder Elegie, wohl eins: Ihr Verhältnis zur Wahrheit ist indirekt. «Tell all the truth but tell it slant», lautet die Weisheit dazu bei Emily Dickinson – «Success in circuit lies». Es ist der Umweg, es ist die Schrägheit, welche Dickinson als ästhetisches Movens poetischer Sprache hier herausgreift in ihrem berühmten Gedicht, und damit trifft sie den Kern der Sache. Es ist das, was Lyrik interessant und riskant macht. Nicht so sehr ihre politische Absicht, sondern die Schwierigkeit, sie zu verstehen, wenn sie ihr Geschäft ernst nimmt, ist ihr Risiko. Probe aufs Exempel: Auch in einer Zeitung mit klarem linkspolitischem Anspruch wie «Die Wochenzeitung» kann das Auftauchen von Sibylle Berg als Lyrikerin irritieren. Mit ihrem jüngsten Gedicht zum Neuen Jahr, «Alles neu», konterkariert sie die üblichen Neujahrswünsche. Finsterer Grundton, dystopische Bilder, kollektive Anklage (ihr), kollektive Erlösungsphantasie (wir), Abschaffung des Menschen – und ziemlich schräges Pathos. Etwa in der zweitletzten Strophe:
Aus Trümmern werden wir errichten,
was strahlt und rein ist, ohne Gier,
und alle gleich ist die Devise,
der neue Mensch, das ew’ge Tier.
Ihr stört, ihr seid der Schmutz des Alten,
der Zeit so träge macht und zäh.
Zusammen rufen wir ins Gelbe,
in das, was übrig ist und Gift:
Du Mensch, du Pest, du Missgeburt,
hab so viel Anstand jetzt und geh!
Doch soll es hier nicht um Stilkritik gehen, sondern um die Frage: Versteht man das? Wer – und wie? Was wäre daraus politisch ableitbar? Wer mag sich das anhören, wenn er/sie realpolitisch seit Jahrzehnten um Naturschutzgesetze kämpft? Und erst jene, die sie bekämpfen?
Das heisst nicht, dass das Gedicht verfehlt ist. Es heisst nur: Das Zusammentreffen von Literatur und Öffentlichkeit ist immer schräg, indirekt, umwegig und von Missverständnissen belagert. Man erinnere sich nur an das Gedicht «avenidas» von Eugen Gomringer an der Fassade einer Berliner Hochschule: Es musste entfernt werden, weil StudentInnen es für sexistisch hielten. Das Gedicht wurde in der Zwischenzeit «verpflanzt» an die Fassade des Genossenschaftswohnhauses «Grüne Mitte». Allein diese Verschiebung hat es naturalisiert. Der Zusammenhang von Blumen und Frauen, den das Gedicht lakonisch beschwört, stört dort niemanden mehr, im Gegenteil. Wer hat nun das Gedicht besser verstanden?
Es ist also mit Poesie und Politik wie mit Kunst und Politik, dass immer der Kontext mitbedacht werden muss. Das «und» zwischen den beiden Bereichen stiftet keineswegs nur eine Verbindung, es ist auch eine Trennung, die alle möglichen Verhältnisse impliziert: Kunst mit Politik, Politik mit Kunst, Politik durch Kunst (im Falle des Kunsthauses Zürich verheerend). Kunst durch Politik wäre ebenso falsch. Die beiden Pole müssen Abstand halten, müssen indirekt zueinanderstehen, genau wie Kunst und Religion auch. Insofern sollte Poesie eigentlich nicht am Ort der Politik, nicht direkt und bezahlt im Bundestag spielen. Dorthin gehörten eher «lebendige» Reden, die durch gute Rhetorik direkt treffen. Das könnten SchriftstellerInnen als Gäste besser übernehmen denn als Angestellte.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Silvia Henke ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und Publizistin. Sie unterrichtet an der Hochschule Luzern Design & Kunst u.a. Kunst und Politik und visuelle Kultur. Forschungsschwerpunkte sind Kunst & Religion, ästhetische Bildung, transkulturelle Kunstpädagogik. Sie interessiert sich grundsätzlich für die Widersprüche der Gegenwart, wie sie auch in der Medienlandschaft auftauchen, und veröffentlicht regelmässig Texte und Kolumnen in Magazinen und Anthologien.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Die Gruppe ist dabei, sich neu zu konstituieren. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer und Felix Schneider.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
1. Anstatt über US Sklavenlieder hätte ich eher Brecht erwähnt, wenn wir von politischer Lyrik reden.
2. Jeder Poet ist frei, heute schon die Politik zu «verdichten».
3. Wes Brot ich fress des Lied ich sing
4. Der deutsche Bundestag sollte Deutschland repräsentieren, und da sind nun mal 90% weiss (bzw. genaue Daten werden gar nicht erhoben, abergerade mal 25% haben Migrationshintergrund, davon wiederum ist die Mehrheit weisse Slaven und Türken). In der Werbebranche hat man unhinterfragt Amerikanische Standards eingeführt, so dass in jedem Spot mindestens eine Schwarze und ein Asiat sein muss, was ein komplet falsches diverses Bild von einem nicht-diversen Land gibt.
Es ist auffällig, dass das Dichten besonders von jenen Medien bespöttelt wird, die auch ihre Kulturberichterstattung zugunsten von Entertainment und Politpropaganda abgebaut haben. Das ist besonders augenfällig bei der NZZ, die ihr einstmals stolzes Feuilleton zum Kampfblatt und Forum für Boulevard umfunktioniert hat. So wird man denn auch von Paul Jandl weiterhin längliche Essays lesen müssen, bei denen man nie so recht weiss, worum es geht. In Gedichtform könnte er es vielleicht knapper in ein paar Zeilen hinkriegen, ohne dass dadurch etwas Relevantes an Inhalt verlorenginge.