Kommentar

kontertext: Erdbeben in Spanien

Beat Sterchi © Alexander Egger

Beat Sterchi /  Nicht alles funktioniert in Spanien mit derselben eleganten Effizienz, mit der die Nationalmannschaft an der EM begeistert hat.

Es war in der Dorfkneipe, wo ich erfuhr, dass sich in Madrid wieder mal was tut, wobei ich anmerken muss, dass das Wort «Kneipe» nicht wirklich das richtige Wort ist für das, was man in Spanien eine «Bar» nennt. Eine spanische Bar ist nämlich immer auch ein Café, ein Imbiss, ein Spielsalon und manchmal auch einfach ein öffentlicher Raum. Zu der spanischen Bar gehören in der Regel ein Hund oder mindestens eine Katze und natürlich ein Fernseher, der immer läuft, wenn auch ohne Ton.

Schliesst in einem spanischen Dorf im grossen unterbevölkerten Teil des Landes die letzte Bar, bedeutet das, dass das Dorf nicht mehr richtig am Leben ist und vielleicht sogar ganz ausstirbt.

Hier ist es zum Glück noch nicht so weit.

An einem der wenigen Tische wurde Karten gespielt, an einem andern unterhielten sich drei Nachbarinnen bei Tee und Kaffee, und an einem dritten sass meine Nachbarin von gegenüber allein mit ihrem Handy bei einem Bier. Als sie sah, dass ich die Lokalzeitung von der Theke nahm, sagte sie, dort stehe davon sicher noch nichts drin, aber in Madrid habe es eben wieder mal ein Erdbeben gegeben. Präsident Sanchez habe nämlich verlauten lassen, dass er einen Rücktritt in Betracht ziehe. Bis nächsten Montag wolle er es sich überlegen.

Erst war ich überrascht, dann sagte ich: Endlich passiert etwas. Ich habe mich schon so lange gewundert, warum der sich das antut. Die letzten Tage waren ja besonders grauenhaft. Eine Schlammschlacht nach der andern.

Weil ich den Fernseher noch gar nicht beachtet hatte, sah ich Sanchez erst jetzt auf dem bei Info-Sendungen mittlerweile fast immer dreigeteilten Bildschirm. Pedro Sanchez links, Pedro Sanchez rechts und in der Mitte Pedro Sanchez in einem sich endlos wiederholenden Ausschnitt aus einer Rede im Parlament.

Meine Nachbarin, die sich wieder ihrem Handy zugewandt hatte, sagte dann, man wisse noch nicht genau, was der Anlass sei, ausser dass seine Frau vor Gericht gezerrt werden solle, wegen angeblich illegaler Machenschaften, und ich sagte:

Ach Madrid! Das ist ja so beschämend, wie die alle in der Öffentlichkeit ihre dreckige Wäsche waschen. Ich kann nicht begreifen, warum sogar der Präsident dieses Spiel mitmacht und auch dauernd meint, auf jemanden zeigen zu müssen. Jeder beschuldigt jeden und wir müssen dauernd noch neue Verdächtigungen zur Kenntnis nehmen. Immer könnte noch jemand irgendwo in einen weiteren Gerichtsfall oder in noch eine unschöne Affäre verwickelt sein. Alles so peinlich. Als wären diese Damen und Herren kleine Kinder, die nicht aufhören können, einander zu verpetzen.

Ja, so ist dieses Land, sagte darauf meine Nachbarin, wobei sie «dieses Land», also «este país», so aussprach, wie man es immer wieder hört. Nämlich so, als wäre dieses Land nicht ihr Land.

Weil ich dann sagte, jetzt hätte ich aber einen Grund, wieder mal die Abendnachrichten einzuschalten, meinte sie, dort könne ich jetzt fünf Tage lang zuschauen, wie alle weiter einander schlecht machen. Bloss davon, dass viele Leute mit ihrem Geld nicht mehr über die Runden kommen, davon wirst du nichts hören.

Wiederum sprach sie dabei «este país» so aus, als hätte sie mit «diesem Land» wirklich nicht im Entferntesten etwas zu tun.

Später in der Tagesschau des öffentlichen Fernsehens dann tatsächlich das Übliche: Mit geschulterten Kameras verfolgt die Medienmeute bekannte Gesichter, Ministerinnen mit Aktenbündeln vor der Brust steigen ein in edle Autos, Minister mit einem Smartphone am Ohr schälen sich möglichst schwungvoll aus solchen heraus. Während man sich sonst fragt, warum die eigentlich immer alle lachen, machen sie für einmal sehr ernste Gesichter. Die Vizepräsidentin Nummer eins betritt in einem roten Jackett ein offizielles Gebäude, geht zu einem Rednerpult und sagt etwas in ein Mikrofon. Was sie sagt, soll vertuschen, dass sie nichts sagen will oder nichts zu sagen hat. Dann sagt eine Sprecherin der Opposition, auch in einem roten Jackett, das Gegenteil, und danach ruft ein Expräsident, in einem kurzen Ausschnitt aus einer vermutlich längeren Rede, alle «fortschrittlichen Kräfte» dazu auf, Widerstand zu leisten. Die Demokratie ist wieder mal in Gefahr und die Demokratie muss geschützt werden, denn die Demokratie, die Demokratie, die Demokratie … Als hätten alle von jenen Katalanen und jenen Katalaninnen gelernt, die in ihrem Streben nach Unabhängigkeit, während sie dabei die Erfordernisse der Demokratie missachteten, nicht aufhören konnten, unablässig von Demokratie zu reden. Es ist wirklich fast so, als wäre es mittlerweile in ganz Spanien verboten, mehr als einen Satz in ein Mikrofon zu sagen, ohne das Wort Demokratie mindestens einmal einzubringen.
Nein, es darf nicht sein, dass die andern die Demokratie jetzt vollends zerstören, sagen die einen wie die andern.

Die einen sind natürlich die Sozialisten, die «Linken», und die andern sind die «Rechten», also «la derecha», zu der jetzt auch noch die Ultrarechte gehört. Dazu muss man wissen, dass jedes Mal, wenn die Linke in Spanien die Rechte als solche benennt, die ganze Unrechtsgeschichte seit Francos Aufstand gegen die Republik auch noch nach bald hundert Jahren einfach mitschwingt und mitgedacht werden muss. Wird das Wort «la derecha» von der Linken ausgesprochen, beinhaltet es immer den Argwohn, diese Rechte sei eigentlich faschistisch und neofrankistisch. Umgekehrt können grosse Teile dieser Rechten unmöglich ohne offen bekundete Abscheu von dieser Linken reden, die in Wirklichkeit nicht sozialistisch, sondern kommunistisch, wenn nicht sogar terroristisch sei. Genau so wie jene radikalen Basken, mit denen sie sich verbünde, um an der Macht bleiben zu können. Und überhaupt lebe man ja längst in einer Diktatur und Sanchez sei nichts anderes als ein «caudillo», denn der erlaube sich Sachen, die das Land seit Franco nicht mehr erlebt habe.

So wurde mir bei dieser Tagesschau schnell klar, wie recht meine Nachbarin hatte und dass dies nun fünf Tage lang so weitergehen würde: dass sich noch mindestens zwei weitere Expräsidenten gezwungen fühlen werden, wieder mal die Demokratie zu retten, und dass sich alle im gegenseitigen Beschuldigen täglich steigern und sich zu übertreffen versuchen werden; und zweifellos würden nun die Heerscharen der sogenannten vierten Gewalt wie von Wespen gestochen hinter der politischen Prominenz herjagen und sämtliche Wortmeldungen ohne Rücksicht auf Verluste mit sehr ungesichertem Erkenntnisgewinn in den Schaufenstern ihrer Kanäle ausstellen wie Trophäen. Man wird auch einmal mehr Zeuge sein und zuschauen müssen, wie sie ohne jegliche Selbstironie hordenweise diese Mikrofonsträusse überall hinstossen, aber man wird sich einmal mehr nicht wundern, dass überall so ziemlich das Gleiche rauskommt und dass es ein oder zwei Mikrofone problemlos auch gebracht hätten, denn mehr als zwei Sichtweisen wird es nicht geben.

Aber einmal mehr kommt mir dieses Getue rund um die Tagesschau fragwürdig vor.

Ausgestrahlt wird sie abends, wie es zum spanischen Tagesrhythmus passt, zur allerbesten Sendezeit, also abends um 9 Uhr, und auch wenn sie nur beschränkt wirklich aufmerksam verfolgt wird, über den Bildschirm geht sie noch immer so flächendeckend, dass man sich des Verdachtes nicht erwehren kann, man habe es auch hier mit einer Nachwirkung der Diktatur zu tun, denn unter Franco war das Hören der Nachrichten Bürgerpflicht. Sicher ist, dass es sich um den wichtigsten Referenzrahmen für das öffentliche Leben handelt.

Nach den Wortmeldungen aus allen Lagern zu der Rücktrittsdrohung von Sanchez folgten wie eh und je wieder diese Grossaufnahmen von den Korrespondenten und von den Korrespondentinnen, die allein durch die Kraft ihrer bildlichen Präsenz jederzeit mehr Realität ausstrahlen als alles, was sie möglicherweise zu berichten haben, und noch immer sind die meisten aufgegriffenen Themen viel zu komplex, um in der kurzen Zeit, in zwei oder drei schnell gesprochenen Sätzen verständlich transportiert werden zu können. Auch das Bildmaterial hatte sich nicht geändert. Was man bei der noch immer vorherrschenden Form der visuellen Berichterstattung zu sehen bekommt, kann einfach unmöglich die Ursachen und die Konsequenzen eines politischen Konfliktes veranschaulichen. Das schafften früher die Aufnahmen von in Sitzungszimmer getragenen Köfferchen nicht und das schaffen heute die Bilder von durch die Hallen der Macht getragenen Computertaschen auch nicht. Eigentlich schlicht erschreckend, dass sich dieser Blödsinn über die Jahre gehalten hat, und nicht weniger verstörend ist die Tatsache, dass sich auch in der Abfolge der Themenpunkte rein nichts versachlicht hat. Nach dem Aufzählen der Toten in Kriegen und Katastrophen geht es nahtlos weiter mit einer Sportmeldung. Eigentlich ein jede Sensibilität beleidigender Mischmasch, ein Verhältnisblödsinn sondergleichen. Weltpolitik vermischt mit Trivialitäten, alles gleich gross, gleich schnell, gleich flüchtig! Was dann noch folgt, ist das Wetter und vermutlich auch eine unaufhaltsame Abstumpfung beim Publikum.

Längst war mir auch klar geworden, dass diese Tagesschau einfach nicht für mich gemacht wird, und lange vor dem Wetterbericht dachte ich, dass bei meinem Küchen-CD-Player eine besondere Aufnahme der Goldbergvariationen greifbar sein müsste, die mir ein Freund geschenkt hatte und die ich gelegentlich anhörte, während ich mir etwas zu Essen zubereitet habe.

In die Finger kriegte ich aber eine selbstkopierte Scheibe ohne Hülle mit gregorianischen Gesängen, von der ich nicht mal mehr weiss, wer singt oder woher sie stammt. Aber Halleluja. War das eine Wohltat. Als der Fernseher verstummt war und sich diese Stimmen wie Wolken am Himmel daher schoben und ich spürte, dass ich der Letzte war, den dieser Gesang für sich einnehmen wollte, war der Abend gerettet.

Ich weiss natürlich, dass sich sehr leicht jemand finden liesse, der auch dieses Singen als Gewäsch bezeichnen würde. Aber die Demut, die hier gegenüber den Launen des Universums zum Ausdruck kam, war so ziemlich das Gegenteil von allem, was mir durch das Erdbeben in Madrid zugemutet worden war und zugemutet werden sollte. Halleluja.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.
Beat Sterchi ist freier Autor. Vor «Capricho» (Diogenes 2021) veröffentlichte er die Reisereportage «Going to Pristina» (essais agités 2018) und den Lyrikband «Aber gibt es keins» (Der gesunde Menschenversand, 2018). www.beatsterchi.ch
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Eine Meinung zu

  • billo
    am 29.07.2024 um 12:19 Uhr
    Permalink

    Danke, Beat Sterchi – nun fühl ich mich im Friaul beim gelegentlichen Lesen der «Nachrichten» aus Rom nicht mehr so ganz allein!

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