Journalismus muss sich gegen Staat und Markt behaupten (2/2)
Was muss Journalismus sein? Analyse zur Journalismus-Debatte in zwei Teilen
Der folgende Artikel ist der zweite Teil einer Analyse zur aktuellen Mediendebatte. Vor dem Hintergrund der Abstimmung übers Mediengesetz vom 13. Februar 2022 diskutiert die Schweiz intensiv Rolle und Wert des Journalismus. Die beiden Artikel setzen sich ergänzend mit der selten diskutierten Identität des Journalismus auseinander. Was muss Journalismus sein? Und wer bestimmt in der Schweiz darüber?
Teil 1 orientiert sich an der Frage: Was ist das Problem?
Teil 2 untersucht die Frage: Wie steht es um Lösungen?
Nicht Google oder Facebook sind das Hauptproblem des Schweizer Journalismus. Die grösste Herausforderung ist, dass sich die Interpretationshoheit in der gesamten öffentlichen Debatte zum Publikum hin verlagert hat. Wie in Teil 1 argumentiert, sind wir deshalb potenziell alle JournalistInnen. Damit ist der Presserat überfordert. Der Journalismus muss sich noch stärker erklären, definieren und abgrenzen. Und Verantwortung für seine Existenz an sich übernehmen. Und nicht bloss für einzelne Artikel oder TV-Beiträge.
Die aktuelle Zahnlosigkeit des Presserats steht symptomatisch für die Selbstreflexionsprobleme im Schweizer Journalismus. Und die Reaktionen darauf sind wenig überraschend. Auf der einen Seite werden Stimmen laut, die Medienunternehmen notfalls auch mit staatlichem Zwang zur stärkeren Übernahme von Verantwortung verpflichten wollen – sogar mit Strafen für Falschinformationen. Diese Ideen basieren vorwiegend auf der veralteten, empiristischen Idee von Journalismus als Verbreiter «richtiger» Information. Erste vage Vorschläge kommen – wie schon bei der letzten grossen Vertrauenskrise, als der Presserat gegründet wurde, weiterhin von Seiten der Journalistinnen und Journalisten selbst. Die Gewerkschaft Impressum lancierte diesen Herbst das Projekt «Pro News».
Eine Gruppe um Hansi Voigt, ehemaliger Watson-Gründer, plant aktuell eine weitere Volksinitiative: Der Aargauer Zeitung sagte Voigt kürzlich: «Es braucht einheitliche Qualitätskriterien gegen Fake News und eine Verpflichtung zur Transparenz bei der Finanzierung.» Medien seien zentral für die Kohäsion der Gesellschaft. «Verharrt künftig jeder in seiner Bubble, geht die Aufklärung verloren.» Und Camille Roseau von der WOZ sagte in einem Interview mit dem Magazin der Gewerkschaft Syndicom: «Ziel könnte sein, eine grundsätzliche Neuaufstellung der Medienförderung vorzubereiten. Zum Beispiel über ein Grundrecht auf Informiertheit als Service public.» Staatliche Vorschläge wären aber nicht mehr weit von einem orwellschen Wahrheitsministerium entfernt. Dabei müsste die Politik Fragen klären wie: Was ist ein Fakt? Was ist Information? Was ist relevant? Diese Lösungen verkennen, dass Fakten oder Tatsachen nicht einfach für sich existieren. Sie sind immer das Resultat bestimmter Wahrnehmungen oder Methoden. Meistens sind diese sozial akzeptiert, geteilt oder juristisch abgesichert. Aber eben nicht immer. Was dann?
Freie Meinungsäusserung ist auch politisch
So werden auch die Stimmen lauter, welche Journalismus am liebsten ganz ohne Verantwortung hätten. Eine der lautesten von ihnen gehört Markus Somm, Chefredaktor und Verleger des Nebelspalters, der zwar klare Sicht verspricht, dessen Trägerschaft – gemäss eigenen Angaben «über sechzig Investoren» – aber zu grossen Teilen unbekannt ist. Somm hat besser als seine Gegnerinnen und Gegner begriffen, dass in der gegenwärtigen Medienwelt die Leserschaft nun das Sagen hat. Seine Perspektive etwas überspitzt: Journalismus gibt es nicht. Er ist auch nur frei geäusserte Meinung verkauft auf dem freien Markt. Die richtige Konsequenz daraus: Journalistische Arbeitsgrundsätze sind politisch. So kritisiert Somm den Presserat permanent als parteiisch. Bereits als Chefredaktor der Basler Zeitung weigerte er sich, die Rügen des Presserates zu publizieren, weil dieser angeblich eine politische Agenda verfolge.
Damit bewirtschaftet Somm allerdings ein Problem, das er selber geschaffen hatte. Er begründet den Vorwurf der Voreingenommenheit mit der schwachen Vertretung der Verleger. Über die Gewerkschaften, die Konferenz der Chefredaktoren oder die SRG wird dieser nämlich hauptsächlich von den Journalistinnen und Journalisten getragen. Die Verleger sind vertreten, allerdings in der Minderheit. Heute bedauert Somm gar offen, dass er als Mitglied des Verlegerverband-Präsidiums deren Vertretung nicht ganz verhindern konnte. Mit demselben Argument warf kürzlich auch Dominik Feusi im Nebelspalter ausgerechnet dem Presserat vor, die Medienfreiheit einzuschränken.
In einer Folge ihres Podcasts (der Claim: «Immer auf den Punkt. Immer ohne Agenda.») fantasierten die beiden das Gespenst des Presserats als Zensurbehörde herbei und lieferten gleich selber zahlreiche Argumente für eine Verstärkung jeglicher journalistischer Regulierung. So behauptete Somm in derselben Folge, die leserfinanzierte «Republik» werde bestimmt gerne Inserate des Bundes für die Kommunikationskampagne zur Impfwoche im November annehmen, obschon er ganz genau weiss, dass die «Republik» bisher bewusst ohne Werbung auskommt.
Gewiss, man könnte solche Falschbehauptungen und Verdrehungen nun als provokatives, aufmerksamkeitsheischerisches Geschwätz abtun, das schlimmstenfalls Verwirrung stiftet. Doch Verwirrung mittels politischem Parajournalismus muss nicht so harmlos sein. In den USA ist sie immerhin Teil einer radikal selbstbezogenen Politikstrategie, für welche eine faktenbasierte Debatte nur hinderlich und die Demokratie einzig Mittel zur Macht ist. Donald Trumps Berater Steve Bannon sagte einst, dass es auf die Demokratische Partei gar nicht ankomme. «Der wahre Gegner sind die Medien. Und die Art, mit ihnen umzugehen, ist die Landschaft mit Scheisse zu überziehen» (wörtlich: «flood the zone with shit»). Absichtliche Verletzung journalistischer Grundsätze kombiniert mit anti-demokratischer Agenda bedeutet eben auch selbstbezogene Kommunikation: Dass dies im Vorfeld der US-Präsidentschaftswahlen von 2016 tatsächlich der Fall war, belegt eine Harvard-Studie.
Wir befinden uns noch ein gutes Stück entfernt von amerikanischen Verhältnissen. Aber die Kombination von offener Ablehnung journalistischer Grundsätze und anti-demokratischer Politikagenda kennen wir nun auch. Es ist schon auffällig, mit welcher Vehemenz und Bereitschaft zur Verdrehung auch Akteure in der Schweiz die grundsätzliche Freiheit zur Verbreitung von Unwahrheiten verteidigen. Ausgerechnet auch der wegen übler Nachrede verurteilte Philipp Gut setzt sich seit kurzem für die vermeintliche Meinungsäusserungsfreiheit ein. Beispielsweise, indem er Cédric Wermuths Forderung nach einer Lauterkeitskommission für politische Werbung als demokratiefeindlich und autoritär bezeichnet. Gleichzeitig schreibt er als PR- Unternehmer Reden für die SVP und Bundesrat Cassis. Journalismus als blosse Meinungsäusserung ist eben auch nur Politik.
Freiwillige Selbstkontrolle fürs Rückgrat
Kein Wunder taucht immer wieder – und unabhängig von der existierenden Nachkontrolle des Presserats – die Idee einer zusätzlichen Vorkontrolle auf. Und zwar in Form einer Zertifizierung journalistischer Publikationen aus Eigeninitiative. Diese Idee geht davon aus, dass grundsätzlich mal nichts und niemand journalistisch arbeitet. Und alle, die sich mit diesem Attribut um höhere Glaubwürdigkeit bemühen wollen, dies aktiv beweisen müssen. Derartige Initiativen existieren bereits, etwa die «Journalism Trust Initiative» von «Reporter ohne Grenzen».
In ihrem Positionspapier empfahl die Eidgenössische Medienkommission (EMEK) auch, ein Qualitätslabel für Journalismus durchzusetzen: «Aus Sicht der EMEK sollte die publizistische Medienbranche ihr Profil gegenüber Blogs, Corporate Publishing, Content Marketing, Native Advertising und anderen alternativen Angeboten schärfen und ihre publizistischen Leistungen wirksamer ausweisen. So könnte die Branche ein Qualitätslabel einführen bzw. eine Form der Zertifizierung von journalistischen Inhalten vornehmen, in für die Nutzerinnen und Nutzer erkennbarer Abgrenzung zu medienähnlichen Angeboten.» In einem Diskussionspapier von 2019 präzisierte sie diese Empfehlung.
Anscheinend fiel es vielen Teilnehmenden eines Branchentreffens schwer, sich vorzustellen, wie das funktionieren könnte. Ein Gedankenexperiment: Jede Publikation, die als journalistisch wahrgenommen werden will, unterwirft sich Richtlinien der Faktenauswahl, Faktenerarbeitung und geschäftlicher Transparenz, an die sie sich halten will. Ein von allen Publikationen gewähltes Gremium funktioniert als Beschwerdestelle, welche bei möglichen Verstössen gegen die Richtlinien angerufen werden kann. Besonders wichtig: Bei Verstössen muss die Rüge prominent und dauerhaft publiziert werden. Im Gegenzug darf die Publikation das Etikett «Journalismus» tragen.
Die Institution, welche dies administriert und umsetzt ist privat (eine Stiftung?) und bloss finanziell getragen von den Organisationen, welche sich eben zertifizieren lassen wollen. Niemand wäre staatlich gezwungen, mitzumachen. Aber der Staat könnte die administrierende Institution, die sich in einem Wettbewerb mit ausländischer Konkurrenz befindet, finanziell unterstützen. So wie er heute zum Beispiel die Werbung für Schweizer Fleisch gezielt subventioniert.
Klar würde ein derartiges Label nicht alle Probleme lösen. Es könnte die Verbreitung von Lügen auch nicht verhindern oder Tell-artig irgendwelche sogenannten Fake News zerschmettern. Sein wichtigster Effekt wäre, dass sich alle positionieren müssen. Vom YouTuber oder der Influencerin bis zum Nischenjournalismusprojekt, der Kundenzeitung und den grossen Newsportalen. Klar könnte es sein, dass die grossen Verlage nicht mitmachen. Es würde bedeuten, dass ihre Medientitel Werbung und PR nicht mehr augenzwinkernd mit Journalismus anreichern könnten. Klar dürfte «Content», wie zum Beispiel dieser in der SonntagsZeitung erschienene Selbstversuch, der auch Werbung für ein Hotel im Südtirol macht, nicht mehr als Journalismus verkauft werden.
Zahlreiche Journalismus-Experten wie SRG-Ombudsmann Roger Blum sprachen sich vor zwei Jahren im «Tages-Anzeiger» gegen ein Zertifikat aus. Stattdessen schlugen sie vor, dass Medien freiwillig Transparenz schaffen sollten. Doch richtig angegangen wäre ein Label nichts anderes als genau das: Effizient kommunizierte Transparenz.
Eine freiwillige Zertifizierung würde Ehrlichkeit und Transparenz verlangen. Sie würde die Konflikte zwischen Kapitalismus und Demokratie viel schonungsloser offenlegen. Sie würde zeigen, weshalb sich gewisse Medienunternehmen und politische Parteien und PolitikerInnen nicht deutlicher zum Journalismus bekennen. Vor allem aber würde sie zeigen, dass es Journalismus in einer Zeit der sofortigen moralischen und politischen Kritik durchs Publikum nicht ohne die aktive Übernahme von Verantwortung geben kann.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Pascal Sigg ist Mitglied der Gewerkschaft Syndicom. Und Infosperber ist Gründungsmitglied des Verbands «Medien mit Zukunft».
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Persönlich braucht es ein offenes Herz, tiefes Sachwissen, ein feines Gespür, ein sicheres Urteil, viel Demut, ein gerütteltes Mass an Melancholie, gesunde Neugier, eine Prise Spott und viel Verständnis für die eigenen Schwächen und die der anderen. Dann kann man vielleicht daran denken, einmal ein guter Journalist zu werden.
Als Medium das auf dem Markt bestehen soll, helfen alle Qualitätslabel, Zertifizierungen, Bücklinge vor dem Presserat, Geschacher unter den Platzhirschen nichts, solange man sich nicht im Klaren ist, dass man eigentlich Kasperli-Theater für Erwachsene spielt. Bring sie zum staunen, zum lachen, zum nachdenken, zum schämen, zum stolz sein. Wecke Gefühle und man wird dich lieben.
Ich mag nicht in das grosse Geheule einstimmen.
Ein Medium das nicht Publiziert was das Zielpublikum lesen (sehen) will kann auf die Dauer nicht überleben. Das war schon immer so und wird auch so bleiben. Daran würde die Einführung eines Labels nichts ändern.
Ein sehr interessanter Artikel, vielen Dank dafür. Ich glaube übrigens auch, dass wir uns alle Gedanken zu Qualitätsjournalismus machen müssen.
Zum Thema «flood the zone with shit» fällt mir spontan auch der Tages-Anzeiger ein. Der hat es z.B. 2020 geschafft innerhalb 5 Tagen ganze 15 Artikel (!) zum Thema Trump und dessen zum Teil grenzdebilen Tweets zu publizieren. Dann hat man dort (und auch in vielen anderen Publikationen) versucht Massnahmen-Kritiker als Coronaleugner zu diffamieren und sie ins rechte Eck zu stellen (Katja Früh bezeichnete z.B. Esoterikerinnen als Nazi-Hippies). Auch das ein echtes Armutszeugnis. Qualitätsjournalismus und Ausgewogenheit sehen für mich anders aus. Naturgemäss ist es für den aufgeklärten Leser sehr schwierig so eine Publikation als glaubwürdig zu empfinden, obwohl man – zum Teil gut versteckt – auch beim Tages Anzeiger seriös recherchierte Artikel finden kann.
Ob man solchen Journalismus mit 150 Millionen Franken jährlich per Mediengesetz (“Qualitätssicherung”) finanzieren soll, kann ja dann jeder im Februar selbst entscheiden.
Was erwartet der mit gutem Wissen und Toleranz ausgestattete Rezipient? Dass ihm die Medien nicht nur die eine Seite der Medaille präsentieren, sondern auch gegensätzliche Argumente veröffentlichen, die i. d. R. verschwiegen werden (siehe z. B. den Aufruf ehemaliger deutscher Generäle und Botschafter im IS). Man kann sich nur eine Meinung bilden, wenn man verschiedene Blickwinkel einnimmt. Was erwartet die Masse der Leser, mit wenig Grundkenntnissen ausgestattet, intolerant, fakegläubig und nicht bereit bzw. in der Lage, sachlich zu argumentieren? Natürlich, dass ihre Ansichten bestätigt werden und ihnen in diesem Sinne die Welt erklärt wird. Das leisten vor allem die Boulevardmedien mit ihren populistischen, leider bei ihrer Klientel meinungsbildenen Artikeln, die ja schon das Urteil in sich tragen. Insofern ist die ganze Diskussion müßig, und wenn man weiß, dass sich die meisten Medien nicht mehr über den Verkauf, sondern über die Werbung finanzieren, dann weiß man auch, wer den Inhalt wesentlich mitbestimmt. Als vor vielen Jahren der VW-Patron Piech mal dem Spiegel nach einem kritischen Beitrag drohte, die Werbung von Volkswagen, Audi, Seat und Skoda einzustellen, wurden solche Artikel nicht mehr oder nur noch sehr moderat im Ton veröffentlicht. Es ist auch im Journalismus so: wer das Geld hat, hat die Macht.