«Gegen Desinformation hilft nur Bewusstsein»
Die 34-jährige US-Amerikanerin Nandini Jammi zeigt als eine der ersten auf, wie Online-Werbung Hass und Propaganda finanziert. Im vergangenen Sommer rief sie mit ihrer NGO «Check My Ads» US-Werbetreibende dazu auf, die wichtigsten Stimmen hinter dem Sturm aufs Capitol zu boykottieren. Kürzlich trat sie an einer Konferenz in Zürich vor der hiesigen Online-Werbebranche auf. Infosperber traf sie zum Interview.
Infosperber: Wie erklären Sie Ihrer Grossmutter, was Sie tun?
Nandini Jammi: Ich versuche zu verhindern, dass jemand, der Desinformation verbreitet, mit Werbung Geld verdient.
Wieso ist das überhaupt nötig?
Wir konsumieren Informationen nicht mehr hauptsächlich in Form einer gedruckten Zeitung. Wer in einer Zeitung Werbung schaltet, weiss wo seine Anzeige erscheint. Sie wird meist manuell von einem Menschen platziert. In den letzten fünfzehn Jahren wurde aber immer mehr Werbung im Internet geschaltet. Dort funktioniert Werbung hauptsächlich automatisiert. Wer auf einer Website Werbung schaltet, gibt deshalb die Kontrolle darüber, wo sie erscheint, ein Stück weit auf.
So funktioniert programmatische Online-Werbung
Wer heute auf seiner Website einen Werbeplatz verkaufen will, bietet ihn in der Regel an einer Börse an, wo ihn der Höchstbietende erwerben kann. Die Echtzeitauktion erfolgt innert Millisekunden. Der Ort, an dem die Werbung erscheint, ist dabei zweitrangig. Viel wichtiger ist die Zielgruppe.
Neben Google, dessen Börse AdX heisst, haben auch andere Techfirmen wie Facebook, Amazon oder Microsoft ähnliche Börsen aufgebaut. Sie geben vor, einzelne Internetnutzer gezielt erreichen zu können. Das gelingt dank Daten, die sie via Such- oder Surfverlauf über die Nutzerinnen gesammelt haben. Sie wissen oft, wie alt eine Person ist, wo sie wohnt, welches Geschlecht und vor allem welche Konsuminteressen sie hat.
Google revolutionierte das Geschäft mit Online Werbung Anfang der 2010er-Jahre, als es die automatisierten Echtzeitauktionen, genannt Real-Time-Bidding, anbot. Seither dominiert Google das Geschäft.
Das Online-Magazin «Republik» publizierte vergangenen Sommer eine ausführliche Recherche zum Thema.
Wo kommen jetzt konkret Sie ins Spiel?
Wir identifizieren Verbindungen zwischen Desinformationskanälen und der Herkunft der Werbung, die auf ihren Seiten erscheint. Dann setzen wir uns dafür ein, dass diese Einnahmequelle versiegt. Vor zweieinhalb Jahren gründeten wir eine Agentur, um Unternehmen zu helfen, ihre Werbung an für sie passenden Orten zu schalten. Da erfuhren wir über einen Kunden, eines der grössten Unternehmen der Welt, dass nicht einmal diese grossen Unternehmen wissen, wohin ihr Geld fliesst. Deshalb konnten wir ihnen auch nicht helfen. Also stellten wir den Agenturbetrieb ein und gründeten vor etwas mehr als einem Jahr eine NGO, um Werbetreibenden und ihren Kunden zu zeigen, was nicht stimmt.
Ja, ich bin eine Cancel Queen.
Nandini Jammi
Damit müssen Sie aber zuerst jemanden als Desinformationsschleuder taxieren. Man könnte sagen, sie canceln die freie Meinungsäusserung!
Ja, ich bin eine Cancel Queen (lacht). Ich glaube an das Recht auf die freie Meinungsäusserung. Alle haben ein Recht auf ihre Meinung. Dies bedeutet aber noch nicht, dass sie unbedingt dafür bezahlt werden müssen. Zudem begeben wir uns ja nicht in Grauzonen. Wie in unserer Kampagne zielen wir auf Personen, welche unbestritten Hass verbreiten, dabei grossen gesellschaftlichen Schaden anrichten und werbefinanziert sind. Die bekannte Website Infowars beispielsweise macht kein Geld mit Werbung. Und in den Fällen, die wir beobachten, ist es häufig so, dass die Werbetreibenden gar nicht wissen, dass sie Propagandisten finanzieren. Wir machen das öffentlich. Klar haben wir eine starke Meinung, aber letztendlich ist das ihre Wahl. Häufig wissen sie einfach gar nicht, dass sie Propagandisten finanzieren.
Weshalb denn? Können Sie das Transparenzproblem erklären?
Ein Beispiel: Letztes Jahr schaute ich Stephen Bannons Sendung «War Room». Da erschienen immer wieder dieselben vier Werbeeinblendungen. Zwei werbende Firmen sagten uns, dass sie dies ganz bestimmt nicht wollten. Sie sagten mir, dass sie keine Werbevereinbarung mit Bannon’s Netzwerk «Real America’s Voice» hatten. Wohl aber mit dem Wetterkanal «WeatherNation». Es stellte sich heraus, dass beide zur selben Firma gehörten und wir vermuten, dass der Wetterkanal immer wieder vorgeschoben wurde, um Werbung für Bannon zu verkaufen. So schaltete sogar Procter & Gamble, dessen Markenchef sich wiederholt öffentlich sehr kritisch zu Online-Werbung geäussert hatte, dort Werbung. Bannon konnte also ziemlich sicher mit seiner antidemokratischen Propaganda Werbedollars verdienen, weil die Auftraggeber nicht realisieren, dass sie mit ihrer Werbung seine Show unterstützen.
Ihre Enthüllungen haben dies geändert?
Teilweise. Die betroffenen Firmen kommentieren ihre Werbeschaltungen zwar nicht öffentlich, aber ich habe danach keine Werbung mehr von Procter & Gamble auf diesen Kanälen gesehen. Zudem haben wir erreicht, dass bestimmte Börsen den Account der Dachfirma «Performance One Media» blockieren.
Sonst hat sich nichts geändert durch ihr Engagement?
Naja, die Werbebörsen haben teilweise ihre Richtlinien angepasst. Playwire zum Beispiel, ist auf Werbeschaltungen auf Kinder- und Game-Websites spezialisiert. Über diese Plattform darf gemäss der eigenen Richtlinien niemand Werbung verkaufen, der eine Regierung stürzen will. Wir fanden aber heraus, dass Charlie Kirk, einer der bekanntesten Propagandisten, der zum Sturm aufs Capitol aufrief, darüber Werbung verkaufte. Auch Yahoo hat die Monetarisierung «irreführender Narrative» mit einem Beispiel von Desinformation über Wahlen verboten.
Es gibt keinen Grund für Google, die Verkäufer-Accounts vertraulich zu halten.
Nandini Jammi
Sie konnten also etwas Druck ausüben auf die Börsen. Was fehlt aus ihrer Sicht noch?
Ein grosser Teil des Problems könnte über Nacht gelöst werden. Dafür müsste Google die Informationen zu den Verkäufer-Accounts offenlegen. Wir schätzen, dass etwa 90 Prozent von ihnen versteckt sind. Dann könnten die Werbetreibenden sehen, bei welchem Unternehmen sie Werbung schalten. Und nicht bloss auf welcher Website. Wie das Beispiel mit dem Wetterkanal zeigt, wissen Werbetreibende schlicht nicht, ob ihr Geld zu Kriminellen fliesst. Aber auch dass Google immer noch verdeckt, wer zum Beispiel hinter Websites mit vergleichsweise unschuldigem Clickbait-Inhalt steckt, macht das Vorgehen verdächtig. Es gibt keinen Grund für Google, diese Accounts vertraulich zu halten. Viele andere Börsen haben sie längst offengelegt.
Weshalb glauben Sie, dass Google sich weigert?
Ich glaube, es könnte zu vielen unangenehmen Fragen bis hin zu Klagen und stärkerer Marktregulierung führen, wenn auskommt, wer alles mit Googles Hilfe Geld verdient. Google macht immer nur kleine Schritte und entzieht sich seiner Verantwortung. Wir und andere haben zum Beispiel lange darauf hingewiesen dass die Website «Gateway Pundit» die Google-Richtlinien verletzt. Google hat zuerst nur einzelne Unterseiten blockiert. Das Unternehmen dahinter haben sie erst gesperrt, nachdem eine französische Journalistin einen Google-Vertreter vor laufender Kamera mit einem Ordner voll Gateway-Pundit-Artikel konfrontierte.
Google antwortet Infosperber (nicht)
Wer via Google Werbung im Internet schaltet, weiss in den meisten Fällen nicht, mit wem er eine Geschäftsbeziehung eingeht. Nach dem Interview hat deshalb Infosperber Google gefragt: Weshalb hält Google in seinem öffentlichen Register «sellers.json» viele Accounts der Werbeanbieter im Internet geheim?
Um die Infosperber-Anfrage kümmerte sich die Zürcher PR-Agentur «PRfact». Via Agentur beantwortete Google die Frage nicht, sondern wies auf eine Anleitung hin. Darin heisst es, Google würde «einige Publisher» – nach Jammis Schätzungen sind es etwa 90 Prozent – aus Datenschutzgründen vertraulich behandeln. Zudem soll diese Intransparenz nicht ernst genommen werden: «Wir empfehlen derzeit nicht, die Vertraulichkeit bei Kaufentscheidungen zu berücksichtigen.»
Wie reagieren denn die Medien, welche Sie bei den Werbebörsen zu canceln versuchen? Wurden Sie jemals dafür verklagt?
Breitbart hat mal angedroht, «Sleeping Giants» [die Transparenzinitiative, welche Jammi mitgründete und im Sommer 2020 verliess; die Redaktion.] wegen unerlaubter Einflussnahme zu verklagen. Dies hätte jedoch nur funktioniert, wenn wir selber die Werbeaufträge gestoppt hätten. Aber die Unternehmen haben jeweils von sich aus breitbart.com blockiert. Deshalb gehen sie eher zum Gegenangriff über. Als wir erreichten, dass der Politkommentator Dan Bongino von kleineren Werbebörsen – jedoch nicht von Google – gesperrt wurde, begann er mich täglich auf seiner Show anzugreifen. Dies dauerte Monate, und ich musste es dokumentieren.
Weshalb?
Seine Fans drohten mir mit dem Tod. Damit konnte ich umgehen. Aber irgendwann beschuldigte er mich, ihn zu «swatten», also ihm eine Spezialeinheit der Polizei ins Haus zu schicken. Da hatte ich wirklich Angst um mein Leben, denn es war eine indirekte Aufforderung an seine Fans, mir mit einem gefälschten Hinweis ein SWAT-Team in die Wohnung zu schicken.
Für Aussenstehende erscheint ihr Vorgehen eher konfrontativ und amerikanisch. Wie sind Sie international vernetzt?
Wir glauben, dass unsere Arbeit sehr dringlich ist, und unterstützen andere Initiativen sehr. Wir geben auch gerne Wissen weiter, damit Menschen in anderen Ländern dies nutzen können. Zum Beispiel mit unserem Newsletter. In Spanien gibt es eine ähnliche Organisation, in Frankreich [Infosperber berichtete], Brasilien oder in Grossbritannien, in Deutschland und der Schweiz [siehe Kasten unten].
Wir kommen immer wieder auf dieselbe Infrastruktur aus den USA zurück.
Nandini Jammi
Und wo wäre eine derartige Intiative aus Ihrer Sicht besonders dringlich?
In Indien! Es ist wirklich beängstigend, was in Indien passiert. Indien ist die grösste Demokratie der Welt. Mit den Aufrufen zur Gewalt gegen Muslime ist der Niedergang Richtung Faschismus meiner Meinung nach aber schon weit fortgeschritten. Es gibt ein paar Medien, welche die Gewalt sehr gefährlich schüren. Das Wildeste daran ist, dass sie alle von Werbebörsen in den USA unterstützt werden. Letzten Endes kommen wir immer wieder auf dieselbe Infrastruktur zurück. Facebook, Twitter und Google erhalten alle Aufmerksamkeit. Aber die Leute kennen Unternehmen wie Magnite, Pubmatic oder Triple-Lift nicht. Sie sind aber genau so gefährlich. Ein grosser Teil unserer Arbeit besteht darin, Werbebörsen und -netzwerke wie sie bekannt zu machen.
Politische Vorstösse konzentrieren sich immer noch stark auf Google und Facebook. Sie sagen also: Es geht gar nicht um Social Media und Suchmaschinen?
Das Aufkommen von Online-Desinformation korreliert nicht zuerst mit der Nutzung von Social Media. Sondern vielmehr mit der Veränderung des Online-Werbemarktes im freien Web. Gerade in Europa wird ja auch mit politischen Mitteln versucht, Desinformation oder Hatespeech einzudämmen. Aber letztendlich ist mir nicht wohl bei der Vorstellung, dass eine Regierung die freie Rede einschränkt. Ich glaube wirklich, dass es eine Antwort des freien Marktes braucht. Deswegen ist uns Transparenz auch so wichtig. Gegen Desinformation hilft letztendlich nur Bewusstsein.
Bis zu 20 Millionen Franken aus der Schweiz
Die Zürcher Stadtpolizei wirbt auf russischen Propaganda-Websites. Die Migros auf Breitbart. Der Schweizer Werbeberater Michael Maurantonio schätzt gemäss einer Republik-Recherche, dass jährlich bis zu 20 Millionen Franken aus Schweizer Werbebudgets zu den Betreibern von Hass- und Desinformationsseiten auf der ganzen Welt fliessen – Tendenz steigend. Mit seiner Initiative «Stop Funding Hate Now!» will Maurantonio auf die Gefahren der Online-Werbung aufmerksam machen, weil sich auch die Schweizer Werbebranche vor Transparenz scheut.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Desinformation: bewusst falsche Information zum Zwecke der Täuschung
Propaganda: systematische Verbreitung politischer, weltanschaulicher o. ä. Ideen und Meinungen mit dem Ziel, das allgemeine Bewusstsein in bestimmter Weise zu beeinflussen
Hassrede: Hass verbreitende Art des Sprechens oder Schreibens
Es lohnt sich, sich die Definitionen dieser Begriffe vor Augen zu halten, wenn man das Interview ließt, denn die Dame vermischt alle drei, und behandelt es als wäre es dasselbe.
Im Gegensatz zum allgemeinen Sprachgebrauch ist Propaganda, heute auch in Form von PR und Marketing, anzutreffen, meist nicht auf Lügen angewiesen. Mit Ausnahme der Dark/Black Propaganda/PR, versteht sich.
Hassrede ist ein unklarer Begriff, bei dem nicht klar ist, was er genau umfasst, obwohl alle glauben es zu wissen.
Desinformation ist ein schwammiger Begriff, der oft auf Meinungen angewendet wird, mit denen man nicht einverstanden ist. Ich verweise hier auf den Artikel über ‹Faktenchecker›.
Danke für die Präzisierung. Genau so haben wir das auch verstanden.
Keine Produkte kaufen, die online ungefragt beworben werden. So einfach wäre das. Und klimafreundlicher.
Es macht mir eher Angst, was die Dame dort von sich gibt und anscheinend auch verinnerlicht hat. Die Aussicht, dass Werbeeinnahmen eines Mediums von Wohl und Wehe ihrer Einschätzung, ob es nun «Desinformation» und «Hass» verbreitet oder nicht, abhängen, ist sehr beängstigend. Wer kontrolliert denn diese Kontrolleure? Muss ein Medien dann den teuren Klagsweg beschreiten, um wieder als sauberer Werbeträger gelistet zu werden? Kommen dann die Werbekunden zurück oder ist man dann dauerhaft stigmatisiert? Was «Hass» ist, was zur Gewalt aufstachelt, was «Desinformation» ist, dürfen in einem Rechtsstaat nur Gerichte klären und keinesfalls private Organisation, die instrumentalisiert werden können. Zahlt die Organisation der Dame dann Millionen Schadensersatz wegen des Abspringens von Werbekunden aufgrund nicht justiziabler Anschuldigungen? Das letzte was unsere Welt braucht, ist ein neuer Tugendterror der im Gewand der Aufklärung daherkommt.
Zu Paul Schön und Oliver Fehr:
Wer die Transparenz scheut (wie Google z.B.) ist sich bewusst, dass es etwas zu verstecken gibt.
Wo Gerichte machtlos sind, weil die Gesetzgebung naturgemäss der technischen Entwicklung nachhinkt, ist es Pflicht der Bürgerinnen und Bürger, Tranzparenz einzufordern.
Es ist interessant zu sehen, wie prompt die Kritik erscheint an der mutigen bewussseinsbildenden Initiantin einer Bewegung, welche sich um Offenlegung der obskuren Machenschaften bei der Online- Werbung benüht. Sogenannte Verteidigung der freien Meinungsäusserung als Verteidigung einer selbstgerechten «Licence to Kill» ?
Jacques Schiltknecht , Luzern