Fall Relotius: «Lasst uns das hier im Haus machen»
«Wie haben die Leute versagt?», fragt der freischaffende Fotograf Mirco Taliercio irgendwann. Und gibt seine Antwort gleich selber: «Entweder sie sind ein Teil des Scams oder unfassbar dämlich. Es gibt nur die zwei Möglichkeiten.»
Taliercio war im Herbst 2018 mit seinem Freund, dem ebenfalls freischaffenden Reporter Juan Moreno, auf eigene Kosten nach Arizona gereist. Sie wollten den Beweis erbringen, dass der damalige Starreporter des Spiegels, Claas Relotius, gar nie bei der Bürgermiliz war, deren Geschichte er in einer grossen Reportage erzählt hatte, und deren Co-Autor Juan Moreno war.
Neue Namen, alte Fotos
Moreno hatten ernsthafte Zweifel beschlichen, als er die Story im Layout sah. Da war ein Foto aus einem Artikel der New York Times über dieselben privaten Grenzwächter. Doch die Namen in der Bildunterschrift stimmten nicht überein. Entweder irrte der «Spiegel» oder die «Times». Schon vorher hatte Moreno gestutzt, als er in der zweiten Fassung des Textes einen Schlussabschnitt las, der in einem früheren Entwurf fehlte. Dieser neue Schluss suggerierte, dass die Grenzwächter ziellos Jagd auf Menschen gemacht hätten.
Für Juan Moreno hätte man es gleich im Text merken können: Jemand lässt Relotius beim versuchten Mord zuschauen? «Sowas gibt’s nicht», sagt er im Film. «Wenn du sowas hast, dann schreibst du das doch nicht in die zweite Fassung. Dann ist es vermutlich dein Einstieg.»
Morenos Rolle bei der Aufdeckung des Fälschungsskandals ist weitgehend bekannt. Der Sky-Dokumentarfilm «Erfundene Wahrheit – die Relotius-Affäre» von Daniel Andreas Sager («Hinter den Schlagzeilen») bereichert die Berichterstattung über den Skandal trotzdem. Er fasst die Geschichte zusammen und wirft wichtige Fragen auf.
Für die Schweizer Medienlandschaft zusätzlich relevant ist die Fülle an auftretendem Schweizer Personal. Margrit Sprecher und Franz Fischlin, die als Jurymitglieder von Journalismuspreisen fungierten, und Reportagen-Chefredaktor Daniel Puntas Bernet. Mit einer teils erfundenen Reportage fürs Berner Magazin gewann Relotius seinen ersten grossen Preis. In der Schweiz kroch man ihm zuerst auf den Leim. Einige frühe Texte von ihm erschienen auch in der NZZ am Sonntag und in der Weltwoche.
Relotius fälschte auch E-Mails
Zentral im Film aber ist die Rolle des «Spiegels». Einerseits durch den Umgang mit den freischaffenden JournalistInnen, welche, wie Moreno, Zweifel an Relotius’ Arbeit geäussert hatten oder schlicht ausgenützt wurden. Und andererseits durch die Reaktion der Verantwortlichen nach Bekanntwerden des Skandals. Nachdem Moreno den Hauptbeweis vorgelegt hatte – ein Videointerview mit dem Amerikaner, von dem Relotius behauptet hatte, er hätte ihn begleitet – dauerte es einen Monat, ehe eine Aufarbeitung angeordnet wurde. Und es brauchte dafür einen weiteren Beweis Morenos, nämlich dass Relotius nicht nur Reportagen, sondern auch E-Mails fälschte.
Gemäss dem Chefredaktor Steffen Klusmann, der nach Bekanntwerden des Skandals die Führung der Redaktion übernahm, habe man sich überlegt, die Untersuchung in die Hände einer externen Kanzlei zu geben. Doch dann habe man gesagt: «Ne, lasst uns das hier im Haus machen.» Drei JournalistInnen wurden damit beauftragt, zwei davon arbeiteten beim «Spiegel», einer wurde während dem Lauf der Untersuchung befördert.
Stefan Weigel, damals Nachrichtenchef, sagt im Film, sie hätten ein paar Leute gefragt, sie im Büro getroffen oder mit ihnen in der Kantine zu Mittag gegessen. Und seine Kollegin Brigitte Fehrle meinte, schon Fragen nach der Arbeitsweise seien als Zumutung empfunden worden. Weigel sagt im Film: «Sagen wir mal so: Für uns war das auch alles neu und niemand hat jemals in so einer Kommission gearbeitet und es gab kein Prozedere.» Dr. Paul Milata, Ermittler in Betrugsfällen, meint im Film dazu: «Das ist weit entfernt von einem normalen Vorgehen.»
Viele offene Fragen
Der Film zeigt zudem, dass dutzende angefragte Spiegel-Angestellte dafür nicht interviewt werden wollten. Und so bleiben auch heute viele Fragen offen. Zum Beispiel: Weshalb funktionierte das Factchecking im Gesellschaftsressort im Vergleich zu anderen Abteilungen einfach nicht? Weshalb wurden frühe Vorbehalte und Hinweise wie derjenige eines freischaffenden Kameramanns aus dem Irak ignoriert? Weshalb wollte man Moreno lange partout nicht glauben? Und: Weshalb hat der «Spiegel» Relotius bis heute nicht verklagt?
Beantworten könnten diese Fragen Leute, die noch heute beim Spiegel in Top-Positionen arbeiten. Wie Geschäftsführer Thomas Hass, der das Unternehmen seit 2015 leitet. Oder nach Steffen Klusmanns Abgang der neue Chefredaktor Dirk Kurbjuweit, der gemäss Untersuchungsbericht als Redaktor selber einen Text bei Relotius in Auftrag gegeben und die Fertigstellung des Textes überwacht hatte. Dazu sagte er gemäss Bericht: «Da war ich enttäuscht, weil das Storyhafte fehlte, kein echter Relotius.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Der Spiegel macht vielleicht etwas Journalismus; sein Geschäftsmodel ist eher das Verkaufen von Stories für bourgeoise und akademische Konformisten. Es gibt eine klare Blattlinie, die unerwünschtes subtil in den Dreck zieht und erwünschtes subtil erhöht. Ab und zu gibt es einen obligatorischen Jubelartikel über eine Person, die besonders gut vernetzt ist. Relotius war kein Un- oder Zufall sondern ein deutliches Sublimat der Spiegelideologie. Vielleicht hat man sich in der Spiegelzentrale darauf verständigt, nicht mehr ganz so dreist vorzugehen, aber am grundsätzlichen Verständnis für Journalismus und die Aufgaben des Spiegel wird sich wohl kaum was geändert haben.