Kommentar
«Wir Ärzte kümmern uns um Todesarten statt um Todesursachen»
In meinem Beruf kommt man dem Leben, aber auch dem Tod sehr nahe. Deswegen beschäftigt es mich immer wieder, wie wir in unserer Gesellschaft mit den Todesursachen umgehen. Immer wieder sind Berichte zu lesen, die eigentlich zur sofortigen Ausrufung der allerhöchsten Alarmstufe führen müssten: Die Umweltverschmutzung kostet jedes Jahr neun Millionen Menschen das Leben. Das ist das Ergebnis einer multinationalen Studie unter Beteiligung der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität.
Nach Berechnungen der WHO starben 1990 weltweit 2,3 Millionen Menschen wegen der Luftverschmutzung, 2019 waren es bereits 4,4 Millionen, darunter Jahr für Jahr etwa 600’000 Kinder. Die Europäische Umweltagentur beziffert die jährlichen Todesfälle in der EU wegen Feinstaubs auf etwa 240’000. Die Auswirkungen von übergrossem Lärm an grossen Strassen und Flughäfen werden in der EU auf 12’000 Todesfälle geschätzt. Etwa 95’000 Menschen sterben Jahr für Jahr in Deutschland an einer Sepsis, weltweit sind es elf Millionen. Zurzeit ist die Anzahl der Kältetoten in Europa noch zirka zehn Mal so hoch wie die der Hitzetoten, was sich aber als Folge der Klimakatastrophe langsam umkehrt.
Von den 356’000 Hitzetoten weltweit sind ein Drittel auf den Klimawandel zurückzuführen. Das stellte eine grosse Studie im Lancet 2019 fest. Überlastung, Stress und Überarbeitung macht die WHO für 745’000 Todesfälle verantwortlich. In den letzten 20 Jahren sind in den USA über 400’000 Amerikaner:innen an Opioid-Überdosen gestorben. Bis heute hat sich die Situation so verschärft, dass jedes Jahr 100’000 dazukommen.
Die Rolle der Armut
Aber auch wenn wir das alles einmal in den Griff bekommen haben sollten: Über allem stehen Armut und Einsamkeit. In den USA konnte man herausfinden, dass ungefähr 6,5 Prozent aller Todesfälle mit Armut assoziiert sind. Nur Herzkrankheiten, Krebs und Rauchen sind mit einer grösseren Anzahl von Todesfällen verbunden als die Armut.
Mahatma Gandhi nannte die Armut die schlimmste Form von Gewalt. Eine Studie im schottischen Glasgow aus dem Jahr 2019 ergab für die Bewohner der ärmsten Stadtviertel eine um 28 Jahre geringere Lebenserwartung. In Deutschland – etwas weniger dramatisch – haben ärmere Männer eine Lebenserwartung von 71 Jahren, reichere hingegen von 80 Jahren; ärmere Frauen von 75 Jahren, reichere von 82 Jahren.
Zehn Jahre Differenz
Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts sterben hierzulande [in Deutschland – Anm. d. Red.] ärmere Menschen fast zehn Jahre früher als reichere Menschen. Und dann gibt es neben der Armut noch die Einsamkeit, von der Bernard Lown, der berühmteste Kardiologe des Jahrhunderts, sagte: «Ich habe mich mein ganzes Leben als Arzt mit den Krankheiten von Herz und Kreislauf beschäftigt, mit den Menschen, die herzkrank werden. Risikofaktoren, über die ständig geforscht und gesprochen wird, Cholesterin, Bluthochdruck usw. sind nebensächlich. Für das Entstehen vieler Herz-Kreislauf-Krankheiten sind traurige, tragische Lebensumstände verantwortlich: Einsamkeit, Verzweiflung und Aussichtslosigkeit.»
Todesarten und Todesursachen
In der Medizin lernen wir, mit Todesarten umzugehen, in jedem Einzelfall immer wieder neu. Aber für die Todesursachen haben wir keine Rezepte, sie betreffen die ganze Gesellschaft. Ihnen steht man als Arzt völlig hilflos gegenüber. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum es in der Geschichte immer wieder so viele Ärzte unter Revolutionären gegeben hat.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Die Rezepte lägen in Wahrheit schon längst vor, wenn diese denn in der Gesellschaft die notwendige (Ge)Wichtigkeit erhalten dürfte. Leider sind die meisten Ursachen, welche der Veränderung bedürfen «nur» mit Menschlichkeit und mehr sozialer Fairness zu erreichen. Faktoren, welche mit allem Geld der Welt nicht gekauft werden können. Es ist gut zu wissen, dass es noch Menschen gibt, welchen solche Themen am Herzen liegen. Danke hierfür!