Kommentar
Wie und wann ist man tot?
Es ist nicht nur nicht schön, sondern es ist beunruhigend, dass die Organtransplantation in Deutschland auf der Stelle tritt, und zwar auf einer sehr bescheidenen Stelle. Immer wieder wird in allen Medien thematisiert, dass es zehn Mal mehr Organe zur Transplantation geben müsste, um Schwerkranke ausreichend versorgen zu können. Immer wieder wird von herzzerreissenden Fällen sterbender Menschen berichtet. Den Organverweigerern wird immer wieder ein schlechtes Gewissen gemacht. Bislang aber haben alle Appelle nichts gefruchtet. Die Organe fehlen, und das macht den Verantwortlichen Kopfzerbrechen.
Man hat sich vieles ausgedacht, um die Situation zu verändern. Die beteiligten Krankenhäuser wurden finanziell bessergestellt, Transplantationsbeauftragte wurden berufen, Hausärzte und Meldeämter wurden zur Thematisierung des Organspendeausweises aufgefordert, ein digitales Spendenregister wurde online geschaffen. Das hat nichts verändert. Vor allem aber hat bislang niemand verstanden, warum das so ist, warum Deutschland im internationalen Vergleich so sehr hinterherhinkt.
Die Erinnerung an die Konzentrationslager?
Es muss etwas geben, das die Menschen davon abhält, sich mit einem Organspendeausweis auszustatten. Vielleicht spielt es eine Rolle, dass zumindest in der älteren Generation die Berichte über die unvorstellbar grausamen medizinischen Menschenversuche in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern ein Misstrauen gegenüber der Medizin in ihr Gedächtnis tief eingegraben haben. Das ist die Furcht vor der Situation des Ausgeliefertseins.
Vielleicht sind es aber auch nur die unglaublichen Transplantationsskandale der jüngsten Zeit, die weiteres Misstrauen in die medizinischen Entscheidungen gesät haben, verbunden mit der Tatsache, dass die gesamte Koordination aller Transplantationen in den Händen einer privaten gemeinnützigen Stiftung liegt, der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO). Es wäre nun die Aufgabe der Verantwortlichen, die Ursachen des recht weit verbreiteten Misstrauens zu erforschen und gegebenenfalls abzubauen.
Leider geschieht das komplette Gegenteil: Bislang musste man sich aktiv für eine Transplantation entscheiden. Das ist gut so, das nennt man die Entscheidungslösung. Dagegen gab es Anfang 2020 im Bundestag eine interfraktionelle Initiative für eine Widerspruchslösung. Dabei muss man sich aktiv gegen eine Transplantation entscheiden, also widersprochen haben. Hat man das nicht getan, so ist man automatisch und ungefragt mit einer Organentnahme einverstanden. Im Bundestag wurde das mehrheitlich abgelehnt.
Neuer Anlauf für die Widerspruchslösung
Aber nun soll das Transplantationsgesetz nach nur vier Jahren schon wieder geändert werden, um doch noch die Widerspruchslösung einzuführen. Wird neuerdings wieder und wieder abgestimmt, bis das Ergebnis endlich passt? Das ist nicht gerade eine gute Voraussetzung, um Misstrauen abzubauen, denn das dient allein der Beschaffung, nicht dem Konsens. Es gibt aber kein Recht auf ein neues Organ. Es gibt dagegen ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und Sterben, ohne dass man gegen dessen Beschneidung zunächst Widerspruch hat einlegen müssen.
Vielleicht haben manche Menschen auch darüber nachgedacht, warum im Organspendeausweis geschrieben steht, dass man sich mit einer Organtransplantation «nach meinem Tod» einverstanden erklärt. Nicht nur ich bin der Meinung, dass das eine Irreführung ist. Organe eines toten Menschen kann man nicht transplantieren. Tot ist tot. Man muss also vor dem Eintritt des Todes tätig werden, den Tod sozusagen ein Stück ins Leben vorverlegen. Genau deswegen hat man ja den Hirntod erfunden, als eine Vorstufe des Todes, die die Organentnahme erlaubt.
Aber jetzt wird es noch beunruhigender: Die FDP spricht sich im Bundestag dafür aus, dass nicht mehr der Hirntod, sondern schon der Herztod ausreichen solle, um Organe entnehmen zu dürfen. Der Hirntod sei viel zu kompliziert festzustellen, und vor dem Hirntod kommt der Herztod, der sei ganz einfach festzustellen.
Der Tod soll also noch ein Stück weiter ins Leben vorverlegt werden. Die Begründung ist keine wissenschaftliche, keine medizinische, sondern eine rein utilitaristische: Es könnten damit die Spenderzahlen gesteigert werden. So wird das Misstrauen aber immer noch grösser. Mir graust davor, dass ich als Notarzt bei einer Wiederbelebung schon gleich auch eine potentielle Organentnahme mitdenken soll.
Mit solchen Ideen wird man kein einziges zusätzliches Organ gewinnen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Dieser Kommentar des Arztes und Autors Bernd Hontschik erschien zuerst in der Frankfurter Rundschau.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Das Recht, über den eigenen Körper zu bestimmen, gilt von vornherein für alle Peronen in allen Umständen (so etwa auch für Schwangere). Es darf deshalb von mir kein Tätigwerden verlangt werden, um dieses Recht auch durchzusetzen, wie dies bei der Widerspruchslösung der Fall ist. Durch die Widerspruchslösung wird mein Körper zu einem von vornherein der Allgemeinheit gehörenden Ersatzteillager, es sei denn, ich spreche mich dagegen aus. In unserer Rechtsordnung gibt es genügend Hinweise dafür, dass der Körper auch nach dem Ableben eines Menschen nicht einfach zu einem Zellhaufen wird, sondern nach wie vor personale Würde besitzt (z.B. Bestimmungen über Leichenschändung, Störung der Totenruhe etc.). Damit ich richtig verstanden werde: Ich bin nicht dagegen, solidarisch mit meinem Körper medizinisch Hilfe zu leisten. So habe ich in meinem Leben x Blutspenden geleistet und bin Blutstammzellenspender. Aber: Ob und wann ich spende und ob und wann ich darüber entscheide, ist allein meine Sache