US-Behörde will unwirksame Mittel streichen: Eine Première!
Es ist ein Milliardenmarkt: Etwa 70 Produkte in den USA enthalten Phenylephrin. Meist handelt es sich dabei um Husten-, Erkältungs- oder Allergiemittel. Allein im Jahr 2022 sollen schätzungsweise 242 Millionen Packungen im Wert von rund 1,8 Milliarden Dollar über US-Ladentische gegangen sein. Apotheken verkauften Phenylephrin-haltige Produkte im Wert von über 3 Milliarden Dollar. Dem will die US-Arzneimittelbehörde FDA nun ein Ende bereiten.
In der Schweiz enthalten unter anderem «Neocitran Grippe» oder «Neotylenol Grippe» nebst weiteren Wirkstoffen auch Phenylephrin. Die Substanz soll abschwellend wirken, zum Beispiel bei Erkältungsschnupfen.
Doch im November 2023 kam ein Beratergremium der FDA nach Durchsicht etlicher Studien einstimmig zum Schluss, dass Phenylephrin zum Einnehmen nichts bringt. Deshalb schlug die FDA letzten November vor, Phenylephrin zum Schlucken (nicht lokal, zum Beispiel als Nasenspray) aus freiverkäuflichen Produkten zu entfernen. Sie eröffnete eine Vernehmlassung.
Eine neue Ära?
Seitdem gingen hunderte von Stellungnahmen bei der FDA ein. Manche Konsumenten pochten darauf, dass einzig Phenylephrin ihnen helfe. Andere argumentierten, dass man es aus dem Verkehr ziehen sollte, weil Käufer sonst fälschlicherweise annehmen würden, dass es wirke. Wieder andere fanden, man könne das Phenylephrin zum Einnehmen doch weiterhin frei verkaufen, es sei in den üblichen Dosierungen ja schliesslich nicht gefährlich.
Eine bereits auf dem Markt befindliche, unbefristet zugelassene Substanz wegen Wirkungslosigkeit zu verbieten, wäre eine Abkehr von den bisherigen Gepflogenheiten der Arzneimittelbehörden. Denn fast immer ordneten die Behörden Marktrücknahmen nur dann an, wenn sich ein Wirkstoff als zu riskant erwies oder wenn kommerzielle Gründe dagegen sprachen, schrieben zwei Wissenschaftler in der US-Ärztezeitung «Jama».
Nur für wenige Behandlung sei der Nutzen eindeutig bewiesen
Falls die FDA tatsächlich Phenylephrin zum Einnehmen wegen Wirkungslosigkeit vom Markt nähme, stiesse sie eine grosse Türe auf. Denn was käme als Nächstes an die Reihe?
Die Auswahl ist gross. Sie reicht von extrem teuren Krebsmedikamenten bis zu diversen «sanften» Heilmitteln, die nicht besser wirken als ein Placebo. Wahrscheinlich würden viele Produkte durchfallen, wenn man die Wirksamkeit in der Praxis noch einmal überprüfen würde, prophezeien die beiden zwei Wissenschaftler in «Jama». Denn nur für wenige Behandlungen gebe es «starke, qualitativ hochwertige Beweise für ihre Wirksamkeit».
Neu zugelassene Arzneimittel: Oft kein Beweis für Zusatznutzen
Neue Medikamente hätten häufig keinen nennenswerten Vorteil gegenüber bereits existierenden Behandlungen, bestätigte auch der US-Jurist und Experte für Arzneimittelzulassung Jonathan Darrow 2021 im «Journal of Managed Care + Specialty Pharmacy».
Er zitierte eine Studie des deutschen «Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen». Ihr zufolge boten von 216 neu zugelassenen Medikamenten nur 32 einen beträchtlichen Zusatznutzen und 22 einen grossen. Blieben 125 neu zugelassene Medikamente, die bloss aus der Sicht der Hersteller einen Vorteil haben – nicht aber aus Sicht derer, die sie kritisch prüften. Sie fanden keine Beweise für einen Zusatznutzen für die Patienten.
Besonders schlimm war es in der Psychiatrie und Neurologie: Dort bescheinigten die Prüfer nur gerade 6 Prozent der neu zugelassenen Medikamente einen Zusatznutzen.
Vermeintliche «Durchbrüche» in der Krebsheilkunde waren nicht besser
Eine andere, systematische Überprüfung von Krebsmedikamenten, die zwischen 2009 bis 2013 neu für verschiedene Krebsarten in der EU zugelassen wurden, zeigte: Bei mehr als der Hälfte gab es keinen Beleg, dass die Patienten dank dieser Arzneimittel signifikant länger oder besser lebten. Dennoch kamen diese Arzneimittel auf den EU-Markt – und sie blieben es, obwohl die Hersteller rund drei Jahre später in 33 von 68 Fällen noch immer keinen Beweis erbracht hatten, dass die Kranken davon profitierten.
Seit kurzem ist nun der neue Leiter der FDA, Martin Makary, im Amt. Makary gehört seit Jahren zu den prominenten Kritikern von unnötigen Behandlungen. Wenn er tatsächlich das umsetzt, was er bisher gepredigt hat, dann werden viele Hersteller von wirkungslosen – frei verkäuflichen und rezeptpflichtigen – Produkten um ihre Geschäfte bangen müssen.
In der Schweiz gab es noch keine solche Marktrücknahme
Hierzulande wäre die behördlich angeordnete Marktrücknahme einer unbefristet zugelassenen, aber wirkungslosen Substanz wohl ein Novum. Angefragte Experten kennen jedenfalls kein solches Beispiel in der Vergangenheit. Die Schweizerische Heilmittelbehörde Swissmedic teilt auf Anfrage mit, dass das Ergebnis des FDA-Überprüfungsverfahrens in ihre Evaluation mit einfliessen werde.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Die Ergebnisse der Zulassungsbehörden sollten öffentlich einsehbar sein resp. mitgeliefert werden. Wenn kein Zusatznutzen nachgewiesen wurde, dann erfolgt nur eine Zulassung auf Zeit.