Teures Alzheimer-Medikament: Frauen sind im Ungewissen
Etwa 60 von 100 Menschen mit Alzheimer-Demenz sind weiblich. Ein Medikament gegen Alzheimer müsste darum auch den betroffenen Frauen nützen. Im Mindesten könnte man erwarten, dass ein weltweit bekanntes Ärztejournal wie das «New England Journal of Medicine» (NEJM) darauf hinweist, falls es Geschlechtsunterschiede gibt.
Bei der Studie zum Alzheimer-Medikament Lecanemab, das die US-Arzneimittelbehörde im Juli 2023 zuliess, gehen die Autoren jedoch mit keinem Wort darauf ein. Die Information, dass Lecanemab bei Frauen im Durchschnitt deutlich weniger wirksam war als bei Männern, findet die Leserin nur im «ergänzenden Anhang» zur Studie im «New England Journal of Medicine».
Geschlechtsunterschiede werden kaum untersucht
«Enttäuschend» sei das, kommentierten drei WissenschaftlerInnen in «Jama Neurology» und wiesen darauf hin, dass diese Information auch schon beim Alzheimer-Wirkstoff Aducanumab nur versteckt präsentiert worden sei. Bei einem dritten Wirkstoff in klinischen Tests, Gantenerumab, fiel die Wirkung bei Frauen ebenfalls schlechter aus. Von vier Wirkstoffen, die bereits zugelassen oder in Tests sind oder waren, schnitten damit drei bei Frauen schlechter ab als bei Männern.
Mögliche Geschlechtsunterschiede würden in der Alzheimer-Forschung nur spärlich berücksichtigt, kritisieren die drei KommentatorInnen: Bei einer Stichprobe von 118 Studien zu Demenz hätten bloss acht Studien berichtet, wie das Resultat ausfiel, wenn es nach Geschlecht aufgeschlüsselt wurde. Die Autoren der Lecanemab-Studie machten das immerhin im Anhang.
«In der klinischen Studie wurde festgestellt, dass das Medikament den kognitiven Verfall bei Männern verlangsamt. […] Für Männer scheinen die Daten zur Wirksamkeit überzeugend zu sein», schreibt der Medizinprofessor und Buchautor Marty Makary von der Johns Hopkins University im Blog «Sensible Medicine» zu Lecanemab. «Aber niemand hat über die Ergebnisse bei Frauen gesprochen.»
Im Gegensatz zu den Studienautoren – und zum Gros der Medien, die über die Studie berichteten – geht Makary auf die Geschlechtsunterschiede näher ein: Bei Frauen habe der Wirkstoff den geistigen Abbau bloss um 12 Prozent verlangsamt, bei Männern um 43 Prozent.
Bei Frauen ist die Krankheit bei der Diagnose oft schon weiter fortgeschritten
Ob dieser Befund statistischer Zufall ist oder einen biologischen Grund hat, ist noch offen. Frauen mit Alzheimer-Demenz könnten den beginnenden geistigen Abbau dank ihrer oft besseren verbalen Fähigkeiten meist länger kaschieren als Männer. Häufig würden die betroffenen Frauen darum zunächst als «depressiv» verkannt, sagt die Alzheimerforscherin Antonella Santuccione. Sie hat unter anderem bei Swissmedic, an der Universität Zürich bei verschiedenen Pharmafirmen gearbeitet und ist nun Direktorin des «Women’s Brain Project», einer Non-Profit-Initiative. Zu dessen Sponsoren gehören auch verschiedene Firmen, die Alzheimer-Medikamente entwickeln.
Lecanemab soll die sogenannten Amyloid-Ablagerungen im Gehirn von Alzheimer-Patienten abbauen und verhindern, dass sich neue bilden. Die Diagnose Alzheimer würde bei Frauen im Durchschnitt später gestellt als bei Männern, zu einem Zeitpunkt, an dem bereits mehr krankhafte Ablagerungen im Gehirn vorhanden seien, erläutert Santuccione. «Möglicherweise müsste man bei den Frauen früher mit der Behandlung beginnen, oder mit einer anderen Dosis», mutmasst sie. Ob dies den Frauen nützen oder zu mehr Nebenwirkungen führen würde, ist ebenfalls ungewiss.
Aus den veröffentlichten Daten der Lecanemab-Studie geht nicht hervor, ob die Frauen bereits mehr krankhafte Ablagerungen im Gehirn hatten oder in den Alzheimer-Tests anders abschnitten als die Männer.
Nach 18 Monaten kaum etwas spürbar von der Wirkung
An der Zulassungsstudie für Lecanemab nahmen ausschliesslich Menschen mit leichter Alzheimer-Demenz teil. Laut einem Fachartikel in «Neurology» verlangsamten diese alle zwei Wochen in eine Vene gespritzten Antikörper den geistigen Abbau im Verlauf von eineinhalb Jahren durchschnittlich um etwa vier bis fünf Monate, verglichen mit Betroffenen, die ein Placebo erhielten.
Man müsse diskutieren, «wie relevant der Effekt klinisch ist», sagte Stefan Teipel, Professor am Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen in Rostock/Greifswald, gegenüber dem «Science Media Center». Von dieser Wirkung «merkt der Patient wahrscheinlich kaum etwas». Würde sich der positive Effekt mit der Zeit aber fortsetzen, dann würde dieser Unterschied zur Placebogruppe mit der Zeit bedeutsamer.
Nebenwirkungen wurden nicht nach Geschlecht aufgeschlüsselt
Die Kehrseite des als «mässig» wirksam eingestuften Medikaments: Bei 13 von 100 mit Lecanemab Behandelten – das Geschlecht wird hier in der Studie nicht aufgeschlüsselt – kam es zu einer Hirnschwellung, verglichen mit rund zwei von 100 in der Placebogruppe. Bei rund 17 von 100 Behandelten wurden (meist kleinere) Hirnblutungen festgestellt, gegenüber neun von 100 in der Placebogruppe.
Seiner Tante, die kürzlich an Alzheimer gestorben sei, hätte er angesichts dieses Nutzen-Risiko-Verhältnisses solche Kompromisse nicht empfohlen, bilanziert Makary. Es sei an der Zeit, den Fokus stärker darauf zu richten, wie sich Alzheimer verhindern lasse, mehr in die Präventionsforschung zu investieren, «und nicht bloss wahllos Pharmazeutika zu pushen».
Da widerspricht die Alzheimerforscherin Antonella Santuccione. «Auch wenn eine gesunde Lebensweise ähnlich wirksam ist wie die neuen Medikamente: Es ist schwierig, Menschen dazu zu bewegen. Viele fühlen sich bevormundet, wenn man sie zu einem gesünderen Lebensstil anhalten möchte», sagt Santuccione. «Zweitens unterschätzen viele Leute, wie schwerwiegend, langdauernd und tödlich die Alzheimer-Demenz ist.» Im Fall einer Erkrankung würde Santuccione darum mit der Lecanemab-Behandlung beginnen, auch wenn im Moment unklar sei, ob Frauen davon profitieren. «Diese Erkrankung ist so schlimm, dass ich bereit wäre, dieses Risiko einzugehen.»
Jahreskosten von über 25’000 Dollar – plus Untersuchungen
Die Frage ist, ob auch die Versicherer dieses Risiko eingehen sollten. Zu den etwa 26’500 Dollar Jahreskosten (in den USA) für Lecanemab addieren sich Kosten für Eingangs- und Folgeuntersuchungen, beispielsweise spezielle Tomografien, die in die Tausende gehen können. In der Studie wurden diese Untersuchungen anfangs im Drei-Monats-Rhythmus gemacht. Wer in den USA beispielsweise bei «Medicare» versichert sei und für die Behandlung in Frage komme, müsse jährlich 7000 Dollar der Medikamentenkosten selbst tragen, berichtet Makary im Blog «Sensible Medicine».
Der Hersteller Eisai betont, dass «die Resultate bei allen Ergebnissen zugunsten Lecanemab ausgefallen sind.» Das Geschlecht sei bezüglich der Wirksamkeit «keine statistisch relevante Kovariate» gewesen. Dabei beruft er sich auf die Streubreite bei der Schätzung der Wirksamkeit. Sie ist gross. Aufgrund der statistischen Ungenauigkeit könnte es im Extremfall sein, dass Lecanemab Frauen so gut wie nichts bringt – oder dass es bei ihnen ebenso wirkt wie bei den Männern. Irgendwo zwischen diesen Extremen liegt vermutlich die wahre Wirkung.
Die US-Arzneimittelbehörde FDA verlangt von den Lecanemab-Herstellern Eisai und Biogen nun sogenannte Postmarketing-Studien. Sie sollen innerhalb der nächsten Jahre klären, ob Frauen einen Nutzen von Lecanemab haben und wie gross dieser ist. Dabei handelt es sich allerdings um Beobachtungsstudien, die mit grösserer Wahrscheinlichkeit als die sogenannten randomisierten Studien vor der Zulassung verzerrte Ergebnisse liefern (Infosperber berichtete).
Diesen Weg – das Medikament jetzt zulassen und Folgestudien durchzuführen – hält Antonella Santuccione für vernünftig. «Wir brauchen Daten, wie Lecanemab ausserhalb der Zulassungsstudien wirkt. Falls sich in einigen Jahren herausstellen sollte, dass es den Frauen tatsächlich nichts bringt, dann sollten es die Krankenversicherer für diese Gruppe von Patienten auch nicht mehr bezahlen.»
Auch bei einem neuen Herzmedikament ist unklar, ob es Frauen nützt
Etwas Ähnliches passierte kürzlich beim Wirkstoff Colchicin gegen Herzschwäche. Die US-Arzneimittelbehörde liess das Medikament zu, obwohl Colchicin den Frauen in den massgeblichen Studien keinen messbaren Nutzen gebracht hatte.
Auch dort wies das «NEJM» jedoch nur im Anhang der Studien auf diesen Geschlechtsunterschied hin. Darauf machte die Kardiologin und Genderforscherin Catherine Gebhard vom Inselspital Bern in einem Leserbrief ans «NEJM» aufmerksam.
Da Colchicin bei Überdosierung rasch giftig wird und Frauen diesen Wirkstoff langsamer ausscheiden als Männer, ist nicht auszuschliessen, dass Colchicin den Frauen mehr schadet als nützt – allerdings wurden die Nebenwirkungen, genau wie bei Lecanemab, dort nicht nach Geschlecht aufgeschlüsselt.
Forderung: Mehr Frauen zur Studienteilnahme motivieren
Der Grund, weshalb Colchicin nur bei Männern eine signifikante Wirkung erzielte, liegt möglicherweise daran, dass Frauen in den beiden wichtigsten Studien zum Colchicin stark untervertreten waren: Nicht einmal jede fünfte teilnehmende Person war dort weiblich. Diese kleine Zahl an Probandinnen schmälerte die Aussagekraft der Studien in Bezug auf Frauen. Beim Lecanemab dagegen war rund die Hälfte der Studienteilnehmenden weiblich.
Obwohl beide Medikamente in den USA bereits zugelassen sind, wissen nun weder Frauen mit Herzschwäche noch solche mit leichter Alzheimer-Erkrankung noch ihre behandelnden Ärztinnen, ob diese Behandlung für sie sinnvoll wäre – oder ihnen womöglich sogar schadet.
«Wenn wir nicht anfangen, genügend Frauen für klinische Studien zu rekrutieren, werden wir diese alarmierende Geschlechterlücke nie schliessen können», resümiert Gebhard auf «LinkedIn». ÄrztInnen und WissenschaftlerInnen sollten das Bewusstsein fördern, «dass Geschlecht und Gender in klinischen Studien wirklich eine Rolle spielen!»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Wer weiss etwas etwas über die Toxdaten?
Als Toxikologe musste ich ein Klinikpräparat prüfen. Auftrag 600 Ratten,streng nach Geschlecht getrennt. Resultat: Dosis letalis bei weiblichen Ratten halb so hoch,wie bei Männlichen.
Vorher gab es nur einen Toxtest mit 60 Ratten ohne Hinweis auf Geschlecht ( gemäss Archivblatt )
Schöne Tag no
Die hohe Anzahl der Patienten mit Alzheimer-Demenz stellt einen lukrativen Markt für jedes nur mögliche Medikament dar, und sei es auch noch so teuer und mit Nebenwirkungen behaftet.
Kürzlich wurde ein überraschender signifikanter Zusammenhang zwischen der Impfung gegen Herpes zoster und einem signifikant selteneren Auftreten der Alzheimer-Demenz bemerkt.
Das legt den Verdacht nahe, dass das Herpesvirus nach seinem «Auftritt» als Verursacher der Windpocken und bei seinem anschließenden «Schlummer» im Nervengewebe ganz nebenbei auch den Stoffwechsel der Nervenzelle in Richtung AD verändert.
Wäre es nicht angebracht, diesen Ansatz zu verfolgen und gleich «zwei Fliegen mit einer Klappe» zu schlagen, nämlich die teils sehr schmerzhafte Gürtelrose und die Alzheimer-Demenz mit einer Impfung zu vermeiden?
@ Hrn. Stigge: Ein Zusammenhang allein ist noch kein Beweis, selbst wenn er signifikant ist. Die Grippeimpfung beispielsweise scheint auch Unfälle und Verletzungen zu verhindern, alle Jahre wieder. Das ergab eine Studie. Eine andere Studie zeigte, dass Menschen mit einem Herzinfarkt, die im Sternzeichen Waage oder Zwilling geboren waren, Aspirin zum Blutverdünnen anscheinend nichts nützte – den anderen Sternzeichen hingegen schon. Wieder eine andere Studie ergab, dass Frauen, die zum Brustkrebs-Screening gingen, ein über 50 Prozent kleineres Risiko hatten, durch Unfall, Suizid oder Tötung zu sterben – obwohl das eine mit dem anderen nichts zu tun hatte.
@Frau Frei: Diese scheinbaren Zusammenhänge sind mir bekannt. Die Autoren der Studie nutzten die zeitliche Limitierung der Impfung mit 90 Jahren und fanden einen erstaunlichen «Sprung» in der Entwicklung der Demenz-Symptome zwischen Senioren unter 90 und über 90 Jahren – auf den Tag genau.
Das sollte doch zu denken geben!
Die Quelle: https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2023.05.23.23290253v1.full.pdf, kommentiert in: https://www.doccheck.com/de/detail/articles/43578-alzheimer-tschuess-amyloid-hallo-herpes
Aber auch ethnische Differenzierung kann die Wirksamkeit beeinflussen.
Es wäre wohl wünschbar, wenn die Kassenpflicht auf der Basis nachgewiesener Mehrwerte in Bezug auf früher zugelassene Medikamente erfolgen würden. «Innovationen» würden dabei aber, gemäss Pharma, praktisch am Markt uninteressant.
«Compassionate use» ist aber denkbar und entsprechende Finanzierungsmodelle könnten realistisch umgesetzt werden.
Problematisch wird es aber, wenn Märkte nach lokaler Kaufkraft, differenziert «abgerahmt» werden sollen. Das CH-Patentrecht hat das formell so «abgesegnet».