Nachdenklicher Mann

Übergewicht und depressive Stimmung sind oft vergesellschaftet. © NewAfrica / Depositphotos

Suizidgedanken bei Behandlung mit «Fett weg»-Medikament

Martina Frei /  Personen mit Depressionen oder Angststörungen sollten mit «Fett weg»-Pillen aufpassen. Schweizer Studie empfiehlt Warnhinweis.

Im Januar 2024 kam die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA zum vorläufigen Schluss, dass die «Fett weg»-Wirkstoffe nach bisherigem Stand des Wissens nicht zu Suizidgedanken oder -handlungen führen würden. Ein kleines Risiko sei dennoch möglich, man verfolge das Ganze weiter. 

Ebenso die Europäische Arzneimittelbehörde EMA: Sie kam im April 2024 zum Fazit, dass die «Fett weg»-Medikamente nicht der Grund für Suizidgedanken oder -handlungen seien. Anlass für ihre Bestandsaufnahme waren etwa 150 Meldungen über Suizidgedanken oder selbst-schädigendes Verhalten bei Personen, die möglicherweise im Zusammenhang mit den Wirkstoffen Dulaglutid, Exenatid, Liraglutid, Lixisenatid oder Semaglutid standen. Diese Medikamente werden unter der Bezeichnung GLP-1-Imitatoren zusammengefasst.

Überdurchschnittlich viele Meldungen bei «Ozempic», «Rybelsus» und «Wegovy»

Doch nun melden Schweizer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Ärztezeitschrift «Jama Network Open» Bedenken an: Sie fanden in der WHO-Datenbank ein Warnsignal. Mit über 36 Millionen Einträgen ist dies die grösste derartige Datenbank weltweit. 140 Länder schicken Verdachtsmeldungen über unerwünschte Arzneimittelwirkungen dort hin.

Von den rund 30’000 Verdachtsmeldungen zum Wirkstoff Semaglutid berichteten 107 von Suizidgedanken, Suizidversuch, selbstschädigendem Verhalten oder Ähnlichem. Massgebend für das Warnsignal war nicht die (kleine) Anzahl, sondern ob solche Meldungen überproportional oft vorkamen.

Die Wissenschaftler verwendeten zwei etablierte Methoden, um Warnsignale bei Medikamenten zu erkennen. Entscheidend dabei ist, ob bestimmte Verdachtsmeldungen bei einem bestimmten Medikament deutlich häufiger sind als im sonstigen Durchschnitt bei allen anderen Medikamenten. Dies traf beim Wirkstoff Semaglutid zu.

Semaglutid ist enthalten in den Arzneimitteln «Ozempic» und «Rybelsus» (beide zugelassen gegen Diabetes) sowie in «Wegovy» (zugelassen zur Gewichtsreduktion bei starkem Übergewicht).

Für den ähnlichen Wirkstoff Liraglutid fand das Team hingegen kein Warnsignal. 

Vorsicht bei Narkosen

Die GLP-1-Imitatoren bewirken, dass sich der Magen langsamer entleert als sonst. Das kann dazu führen, dass bei einer Narkose noch Essensreste im Magen sind, obwohl der oder die Patientin vorher extra nichts gegessen hat. Kommt es infolge der Narkose zum Erbrechen, können die Essensreste und Magensäure in die Lunge gelangen, weil die Schutzreflexe während der Narkose ausser Kraft gesetzt sind (Infosperber berichtete). Diese Komplikation geht mit einer hohen Sterblichkeit einher. Die Europäische Arzneimittelagentur EMA rät nun, einen entsprechenden Warnhinweis in der Packungsbeilage anzubringen.

Nach dem Absetzen verschwanden die Symptome oft

Verglichen mit dem Durchschnitt der anderen Medikamente gab es bei Behandlung mit Semaglutid signifikant mehr Meldungen, dass die Patienten Suizidgedanken hegten. Diese verschwanden bei mehr als 60 Prozent derjenigen wieder, die das Medikament absetzten – kein Beweis, aber ein Hinweis, dass dies etwas mit dem Arzneimittel zu tun haben kann. 

Bei Semaglutid seien die Suizidgedanken als potenzielle Nebenwirkung wahrscheinlich selten. Dieses Risiko würde das Nutzen-Schaden-Verhältnis des Medikaments nicht verändern, vermuten Georgios Schoretsanitis von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und seine Ko-Autoren. Sie weisen aber darauf hin, dass etliche Verdachtsmeldungen Personen betrafen, die den Wirkstoff wahrscheinlich «off-label» erhielten, also für einen Zweck, für den er nicht zugelassen ist. 

Jeder Zehnte besorgte sich das Mittel über Internet

Semaglutid wurde in den letzten Jahren massiv beworben, sowohl vom Hersteller als auch über Social Media und andere Kanäle. Wegen des verbreiteten «off-label»-Gebrauchs kam es zu Lieferengpässen (Infosperber berichtete).

Gemäss einer Umfrage der «Kaiser Family Foundation» (KFF) unter etwa 1500 Personen in den USA besorgten sich zehn Prozent der Befragten das Mittel übers Internet, weitere zehn Prozent bekamen es von einem Schönheits- oder Wellnesszentrum.

Problematische Kombination mit Beruhigungsmitteln und Antidepressiva

Auffallend war in der Studie von Schoretsanitis und seinen KollegInnen die Zunahme der Verdachtsmeldungen über Suizidgedanken, Suizidversuch, selbst-schädigendes Verhalten oder Ähnliches bei Behandlung mit Semaglutid: Im Jahr 2022 betrafen solche Verdachtsmeldungen erst 0,16 Prozent aller Meldungen zu diesem Wirkstoff, ein Jahr später waren es bereits 0,97 Prozent.

Besonders betroffen waren Personen, die zusätzlich zu Semaglutid auch ein Antidepressivum oder ein angstlösendes Beruhigungsmittel (sogenanntes Benzodiazepin) erhielten. Bei einer solchen Kombination war die Wahrscheinlichkeit, dass bei Behandlung mit Semaglutid Suizidgedanken auftraten und gemeldet wurden, rund viermal höher als bei Ko-Medikation mit anderen Medikamenten. 

Studienautoren raten zu einem Warnhinweis

Ihre Studie beweise keinen ursächlichen Zusammenhang, betont der Studienleiter Georgios Schoretsanitis auf Anfrage. «Aufgrund dieses Ergebnisses schlagen wir aber vor, dass Ärzte, die Semaglutid verschreiben, die psychiatrische Vorgeschichte und den psychischen Zustand der Patienten vor Beginn der Behandlung beurteilen sollten. Bei Patienten mit psychischen Störungen oder mit früheren Suizidgedanken oder Suizidversuchen sollten die Ärzte vorsichtig sein und den psychischen Zustand während der Einnahme von Semaglutid regelmässig überwachen.» 

«Wir sind der Ansicht, dass in der Packungsbeilage von Semaglutid ein Warnhinweis für die Anwendung bei psychisch labilen Patienten oder solchen mit psychiatrischen Störungen aufgenommen werden könnte», schreiben die Studienautoren. An den Zulassungsstudien für Semaglutid durften bewusst keine Personen teilnehmen, die früher an einer Depression litten. 

In einem begleitenden Kommentar zur Studie warnen auch zwei nicht an der Studie beteiligte Ärzte: Bis Genaueres bekannt sei, sollten GLP-1-Imitatoren Personen, die schon einmal an einer Depression litten oder die schon einen Suizidversuch unternommen haben, nur mit grosser Vorsicht verschrieben werden. Bei Patientinnen und Patienten, die während der Behandlung mit einem solchen Medikament plötzlich depressive Symptome bekämen, sollten die behandelnden Ärzte überlegen, das «Fett weg»-Medikament abzusetzen.

Auf psychische Veränderungen achten

Kurz nach der Veröffentlichung der Ergebnisse von Georgios Schoretsanitis und seinen Kollegen erschienen zwei weitere Studien zum Thema in der Fachzeitschrift «Jama Internal Medicine». Keine davon kläre jedoch eindeutig die Frage, ob Semaglutid und seine chemisch verwandten Wirkstoffe bereits bestehende psychische Probleme verschlimmern würden, finden zwei Kommentatoren. Wachsam zu bleiben und die psychische Gesundheit der mit solchen Medikamenten behandelten Patienten fortlaufend zu überwachen, sei daher «unerlässlich».

Eine dieser beiden Studien analysierte mehrere Hersteller-gesponserte Studien mit rund 3700 Teilnehmenden im Hinblick auf Depressionen oder Suizidgedanken. Sie lieferte keinen Hinweis, dass Semaglutid diese begünstige. Von den neun Studienautoren geben acht Interessenkonflikte an, die den Hersteller von Semaglutid, Novo Nordisk, betreffen. Mehrere arbeiten für diese Pharmafirma. Eingeschlossen waren in dieser Studie nur Personen, die Dosen von jeweils 2,4 Milligramm bekamen. Die Daten von etwa 400 Personen, die nur 1 Milligramm-Dosen erhielten, wurden hingegen nicht einbezogen. Zum Vergleich: Die mittlere Dosis in der Schweizer Studie, die ein Warnsignal fand, betrug 0,5 Milligramm.

Die zweite Studie stammt aus Schweden und Dänemark. Sie untersuchte, ob Personen, die (meist gegen Diabetes) neu Semaglutid oder einen verwandten Wirkstoff (sogenannte GLP-1-Imitatoren) erhielten, öfter Suizid begingen als Menschen, die ein anderes Diabetes-Medikament bekamen. Etwa ein Drittel aller Studienteilnehmenden war früher schon mit Antidepressiva behandelt worden. Die Wissenschaftler (mehrheitlich ohne Interessenkonflikte zu Novo Nordisk) weisen darauf hin, dass GLP-1-Imitatoren die Blut-Hirn-Schranke überwinden und so ins Gehirn gelangen können. Sie fanden jedoch keinen Hinweis, dass diese Wirkstoffgruppe das Risiko für Suizide oder selbst-schädigendes Verhalten erhöhe. Die Schweizer Studie fand dieses Signal nur für Semaglutid, aber nicht für den GLP-1-Imitator Liraglutid.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Pillen

Die Politik der Pharmakonzerne

Sie gehören zu den mächtigsten Konzernen der Welt und haben einen grossen Einfluss auf die Gesundheitspolitik.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

Eine Meinung zu

  • am 12.09.2024 um 19:51 Uhr
    Permalink

    Auch wenn Übergewicht durch die Verfügbarkeit ungesunder «Lebensmittel» begünstigt scheint, liegt für mich die Ursache (Essen quasi eine Droge) im Unglücklichsein. Oft begründet durch Umwelt, insbesondere die nächste Umwelt: Wohnen. Immissionen (Lärm, Luft) machen nicht wenigen Menschen das Leben chronisch zur Hölle; die meisten sind ja zu «lebenslänglich» in Wohnblöcken «verurteilt». Ich forsche seit Jahren zu diesem Thema. Der oft gehörte Satz «Dann ziehen Sie halt um» ist nutzlos. «Das Gleichnis vom Huhn» – Um vorzeitiges Ableben zu vermeiden, wird das Huhn zur Psychiaterin geschickt. Das Huhn schildert dieser, dass es sich in der Massentierhaltung überhaupt nicht wohl fühle. Der Maststall stehe direkt an der Strasse. Ständig Verkehrslärm. Im Maststall selbst gäbe es zu viele Hühner, Gegacker, Lärm u.a. Immissionen. Es gehe ihm aufgrund seiner Wohnsituation nicht nur mental schlecht, auch körperlich leide es stark. (…)

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...