Rat an die Politik: In der Krise braucht es auch Hofnarren
Am 26. Februar 2021, die Corona-Fallzahlen waren nach der heftigen zweiten Welle seit Wochen rückläufig, zog das Bundesamt für Gesundheit (BAG) eine Zwischenbilanz: Mehr als 9’000 Tote im Zusammenhang mit Covid-19 seit Beginn der Pandemie in der Schweiz. Mittleres Sterbealter 85 Jahre. Und: «Fünf Personen unter 30 Jahre starben bisher mit Covid-19», schrieb das BAG in seinem Bericht vom Februar 2021.
Wie viele Lebensjahre gingen wegen Sars-CoV-2 verloren? Bis Dezember 2021 waren es bei den über 65-jährigen Verstorbenen in der Schweiz 27’698 Jahre. «Das sind 6 Tage pro Senior», rechnet der Gesundheitsökonom Konstantin Beck im Buch* «Der Corona-Elefant» vor [bezogen auf alle über 65-Jährigen– Anm. d. Red.].
Für die Gesamtheit der Null- bis 64-Jährigen kommt er im selben Zeitraum auf eine verlorene Restlebenserwartung von 1 Stunde und 3 Minuten. Für die einzelnen verstorbenen Personen in dieser Altersgruppe hingegen bedeutete dies – Beck beruft sich hier auf die Covid-19 Taskforce – durchschnittlich 25,2 nicht mehr gelebte Jahre.
Gesundheitsökonomen machen solche nüchternen – und für Laien oft brutal anmutende – Rechnungen allenthalben, bei allen möglichen Krankheiten. Doch «zu Beginn der Pandemie waren diese Berechnungen verpönt, weil man lieber dem Slogan ‹Jeder Tote ist einer zu viel› folgen wollte», schreibt Beck in dem Buch, das seinen Titel in Anspielung an den «elephant in the room» bekam.
«Mit dem elephant in the room wird im englischen Sprachraum eine augenfällige Problematik bezeichnet, die von allen Beteiligten lieber nicht angesprochen wird, beispielsweise aus politischer Korrektheit», heisst es im Prolog der vier Herausgeber, darunter Pietro Vernazza, der schweizweit bekannte ehemalige St. Galler Chefarzt für Infektiologie.
«Gesundheit ist nicht die Hauptsache»
24 Autoren haben für das Buch «Der Corona-Elefant» Beiträge verfasst. Der Philosoph Ludwig Hasler beispielsweise hinterfragt das bei Verabschiedungen mantraartig wiederholte: «Und vor allem: Bliibed Sie gsund!»
Gesundheit sei aber nicht die Hauptsache, argumentiert Hasler. «Wir leben immer gesünder – und fühlen uns immer kränker. Wir stopfen bald 100 Milliarden in unsere Gesundheit – und liegen umso fleissiger flach. Wir achten peinlich auf Hygiene – und schleichen bald alle als Allergiker herum. Vier von zehn in diesem glücklichen Land fühlen sich «erschöpft». Wovon eigentlich? Absolute Weltspitze sind wir in Psychiatriedichte. Wir leben stets komfortabler – und fallen reihenweise ins Burn-out, lassen uns «krankschreiben», werfen Antidepressiva ein. Nein, Gesundheit ist nicht die Hauptsache. Die Hauptsache wäre: eine Antwort auf die Frage Wozu? Ein Ziel. So etwas wie Sinn. Etwas, das uns ermutigt, anzieht, kräftigt, animiert, tröstet, erheitert.»
«Der Skandal», findet Hasler, «ist nicht der Tod, der Skandal ist ein würdeloses Sterben – und ein verpasstes Leben. […] Öffentlich dominiert ein anderes Weltbild. Durch viele Köpfe (politische, journalistische) geistert ein neuer Aberglaube: Wir könnten eine Pandemie durchmachen, ohne dass ‹etwas passiert›. Also ohne, dass jemand daran stirbt. Und falls doch jemand stirbt, hat die Politik versagt, sie hatte nicht den Mut zu drastischen ‹Massnahmen›. Oder manche Leute kuschen einfach nicht (Partyvolk, Skifahrer). Es ist der Glaube, jeder Virus liesse sich – mit gutem Willen, bei entschlossener Regierung – unter Kontrolle bringen.»
Ein Krisenstab aus zufällig ausgewählten Bürgern soll helfen
«Selbst in gut etablierten Demokratien […] wird nicht selten argumentiert, in einer derart grossen Krise müssten Politiker an die Macht, welche die erforderlichen Massnahmen rasch und entschieden durchsetzen und sich nicht um als kleinlich erachtete Gegenargumente kümmern. […] Auch in unseren Demokratien besteht eine grosse Gefahr, den Rechtsstaat ungebührlich einzuschränken», warnen Bruno S. Frey, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Zürich, und Margit Osterloh, emeritierte Volkswirtschafts-Professorin an der Universität Zürich, in dem von ihnen verfassten Buchkapitel.
Viele Leute würden Einschränkungen des Rechtsstaates und der Demokratie tolerieren, weil sie der Ansicht seien, dass sie unbedingt erforderlich seien, «um den selbstdeklarierten ‹Krieg› gegen das Coronavirus zu gewinnen». Doch nicht autoritäre Politiker seien nötig, sondern «zur Aufrechterhaltung eines Rechtsstaates braucht es vor allem eine Diskussion in der Öffentlichkeit, die unterschiedliche Überlegungen und Politikmassnahmen zulässt. […] Wenn wieder eine Bedrohung wie Covid-19 auftritt, muss auf der Verfassungsebene garantiert sein, dass die bürgerlichen Freiheiten und der Rechtsstaat nicht mit den Füssen getreten werden. Insbesondere müssen staatlich alimentierte Medienorgane, wie die grossen Fernsehsender, gehalten werden, auch unterschiedliche Meinungen zu kommunizieren und nicht nur als Erfüllungsgehilfen der Exekutive zu handeln», argumentieren die beiden.
Ihr Vorschlag: «In einer Krise, in der ungewöhnliches Handeln notwendig erscheint, soll ein zufällig aus der Gesamtgesellschaft auserwählter Krisenrat berufen werden. Die […] Mitglieder vertreten automatisch ein breites Spektrum von Meinungen und Interessen, so dass Diversität gesichert ist. Um notwendige Informationen zu erhalten, können die Mitglieder des Krisenrates Experten um deren Meinung befragen. Die Regierung und die ihr unterstellte staatliche Bürokratie müssen auf die Beschlüsse des Krisenrates eingehen. Sie können einen Gegenentwurf erarbeiten und vorstellen. Die Entscheidung, ob der Vorschlag des Krisenrates oder der Regierung befolgt werden soll, muss das Parlament – oder zumindest ein Ausschuss des Parlamentes – entscheiden.»
Massnahmen gegen das Gruppendenken
Andere Autoren im Buch empfehlen, «Hofnarren», «Troublemakers» oder «Advocati diaboli» einzusetzen, deren Aufgabe es ist, «alle denkbaren Gegenargumente gegen die vorherrschende Politik- und Medienmeinung zu suchen, um damit einem Gruppendenken vorzubeugen und am Ende zu angemesseneren, besseren Entscheidungen zu kommen».
Auch eine vom Volk gewählte «Gegenvorschlagskommission» zur Regierung wird ins Spiel gebracht. «Im Falle der Corona-Krise etwa hätte die Gegenvorschlagskommission der Regierung wohl schon früh empfohlen, die Immunität infolge Genesung als wichtigste Ressource wirkungsvoll zu dokumentieren und zu nutzen. Und fast sicher hätte sie angemahnt, die wichtigsten Daten als Entscheidungsgrundlage besser zu erheben und auszuwerten», schreiben Reiner Eichenberger, Professor für Theorie der Finanz- und Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg und David Stadelmann, der Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth.
Sie kritisieren, dass die anfangs knappen Impfstoffe auch an (unerkannt) Genesene verabreicht wurden und damit nicht an jene, die sie viel nötiger gehabt hätten. Die fehlende Zertifizierung von Genesenen dürfte deshalb «viele Todesfälle mitverursacht haben. Erst über ein Jahr nach Krisenbeginn und weit fortgeschrittener Durchimpfung wurde die Immunität [Genesener – Anm. d. Red.] mit Covid-Zertifikaten dokumentiert und nutzbar gemacht. Den Grund dafür sehen wir in einem Politikversagen unter Beteiligung von Regierung, Medien und Wissenschaft.»
Evaluation der Taskforce und der kostspieligen Massnahmen gefordert
Mit Blick auf die Nationale Covid-19 Taskforce kritisiert der Titularprofessor an der School of Management der Universität St. Gallen, Peter Rohner: «Es sollte nicht wieder vorkommen, dass eine Mehrheitsmeinung eines willkürlich zusammengesetzten Gremiums aus Wissenschaftlern als Wahrheit – statt als aktueller Stand der Erkenntnis und damit des Irrtums – aufgefasst wird.»
Er fordert eine Evaluation der Taskforce und ihrer Wirkung, bei der es unter anderem auch um die Frage gehen sollte: «Hat sich die Covid-19-Taskforce auch zum Ziel gesetzt, Vertrauen und Zuversicht als Gegengewicht zur in der Bevölkerung grassierenden Angst zu schaffen (z.B. durch die Relativierung der in den Medien dauernd präsenten Zahlen)?
Überhaupt, die Evaluation: «Viele der zum Teil kostspieligen Massnahmen […] wurden kaum einer Begleitevaluation unterzogen. Oder diese wurde nicht bekannt gemacht», kritisiert Pietro Vernazza in einem Beitrag.
Vierte Impfdosis mit gleichem Impfstoff bringt nicht mehr viel
Auch medizinische Aspekte nehmen im Buch breiten Raum ein. So warnt beispielsweise der Immunologe Andreas Radbruch, Wissenschaftlicher Direktor am Deutschen Rheuma‐Forschungszentrum Berlin und Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, vor «immunologischen Laien, die uns immer wieder boostern wollen». Radbruch legt für Laien nachvollziehbar dar, warum «schon eine vierte Impfung mit derselben Dosis von demselben Impfstoff nicht mehr sehr effektiv» sei.
Wer Becks und Vernazzas Position während der Pandemie verfolgt hat, ahnt bereits vor der Lektüre, dass «Der Corona-Elefant» kein Loblied auf die Corona-Politik singt. Es gehe den Autorinnen und Autoren um «lessons learned» und nicht um Kritik, betonen die Herausgeber im Prolog – ein Anspruch, den das Buch nicht durchgängig erfüllt.
Ihr Ziel mit dem Buch und der gleichnamigen Website: Die Corona-Themen sollen «nicht nur als «pro» und «contra» erlebt und diskutiert werden. Stattdessen soll eine Diskussion um die besten Ansätze ermöglicht werden.»
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* Konstantin Beck, Andreas Kley, Peter Rohner, Pietro Vernazza (Hrsg.): «Der Corona-Elefant». Versus Verlag Zürich 2022, 36 CHF, Bestellung hier
➞ Lesen Sie demnächst das Buchkapitel «Ist die Impfung ein kategorischer Imperativ?» in gekürzter und überarbeiteter Version auf Infosperber.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
- Infosperber: «Die Situation jetzt ist völlig irrational»
- Infosperber: «Die Genesenen werden bei den Zertifikaten diskriminiert»
- Infosperber: «Covid-19: Alle wollen testen und getestet werden. Wozu?»
Bravoooo!!! Genau solche Bücher sind jetzt nötig! Eine grosse Aufarbeitung all der Verrückheiten, die geschehen sind. Insbesondere die Meinungsvielfalt muss in Zukunft von den grossen Medien gefordert werden. Die «gutmütige Diktatur» muss sich im öffentlichen Raum einer heftigeren Diskussion stellen. Die regierungsgläubigen Menschen müssen aushalten, dass man in guten Treuen verschiedener Meinung sein kann. Ich bin so froh, dass jetzt der damalige Elefant im Raum zünftig unter die Lupe genommen wird
Statistische Berechnungen ohne Berücksichtigung von Risikofaktoren und Vorerkrankungen scheinen mir bei Covid unsinnig und fehlleitend.