«So konnte ich mich aus der Alkoholsucht befreien»
Albert Lonchamp, 69, war 2005 bis 2009 Provinzial der Schweizer Jesuiten. Seit 2010 leitet er die Jesuiten-Zeitschrift «Choisir» in Genf.
Fachleute sagen, dass Abhängige zuerst ganz auf Grund laufen müssen, bevor Genesung überhaupt möglich ist. Wann waren Sie am Boden?
Albert Longchamp: Ich bin unmerklich vom «normalen» Zustand eines Bonvivants, der gerne sein tägliches Gläschen trinkt, in jenen eines schlechten Verlierers geraten, eines Betrügers, der sogar sich selber betrügt.
Doch dann schreckte mich eine sonderbare Erfahrung auf: Nachdem ich im Oktober 2005 Provinzial der Jesuiten geworden war und deshalb in Zürich arbeitete, bin ich an einem Samstagabend todmüde heimgekehrt. Hatte ich getrunken? Ich weiss es nicht mehr. Ich fiel in einen Tiefschlaf.
Anderntags, etwa um 10 Uhr morgens, rief mich meine Sekretärin an. Seltsam! Meine Mitarbeiterin kam doch nie sonntags ins Büro. Deshalb fragte ich sie: «Weshalb kommen Sie denn heute zur Arbeit?» Ihre Antwort: «Aber es ist doch Montagmorgen!» Ich hatte also 36 Stunden ohne Unterbruch geschlafen. Das war mein erster Schock. Vier Jahre später, beim Eintritt in eine Klinik in Kanada, erfuhr ich dann, dass mein Körper nicht mehr leben wollte, mit dem Alkohol nicht mehr leben konnte.
Wie konnte es so weit kommen?
In Zürich sah ich mich Schwierigkeiten gegenüber, von denen ich zuvor gar nichts geahnt hatte. Ich war verantwortlich für rund 60 Personen mit ihren persönlichen Problemen. Der eine erzählte mir von einer Beziehung, aus der er nicht mehr aussteigen konnte. Ein anderer wollte dem Orden den Rücken kehren. Hinzu kamen Spannungen mit Rom.
Es folgte der Suizid meiner Schwester im Jahr 2007. Wir waren einander sehr verbunden. Dann schockte ein pädophiler Priester in meiner eigenen Umgebung.
Von da an driftete ich ab. Ich versteckte mich, vertraute mich niemandem an. Mein Alkoholkonsum nahm zu. Ich begann, auch nachts zu trinken. Doch immer noch wollte ich mir das nicht eingestehen.
Später hat mich der Ordensgeneral der Jesuiten von meiner Aufgabe als Provinzial entbunden – auf Ersuchen meiner Mitbrüder, von denen mich einige aufgefordert hatten, von meinen Amt zurückzutreten und mein Alkoholproblem zu lösen.
Im September 2009 machte ich den Schritt und liess mich in Montréal in eine Rehabilitationsklinik einweisen. Kompetente Ärzte, ein sehr solidarisches Umfeld und ein rigoroser, aber heilsamer Aufenthalt befreiten mich vom Alkohol und führten mich zur vollständigen Abstinenz – eine «Auferstehung»! Was mich genesen liess? Eine authentische brüderliche Freundschaft.
Man spricht oft von der Einsamkeit der Priester. Kann das manchmal in die Alkoholabhängigkeit führen?
Die Einsamkeit – nicht nur jene der Priester! – kann Grund sein, um in die Illusionen des Alkohols zu fliehen. Die zölibatär lebenden Priester sind bei weitem nicht die bevorzugte «Kaste» dieser Krankheit. Sie teilen sie mit oft hoch qualifizierten Berufsleuten, mit Männern und Frauen in Politik, in Unternehmen oder in medizinischen Berufen.
Es kann auch Frauen und Männer in Herzensnot treffen, oder Paare, die sich trennen. Oder ehemalige Alkohol-Patienten, die Rückfälle erleiden. Das sind alles dramatische Situationen.
Die Alkoholsucht ist oft mit dem Verschweigen der Wahrheit verbunden, also mit Irreführung, und das zerstört das Vertrauen in den privaten Beziehungen und im Beruf.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine