Kommentar
«Schluss mit dem Klassenkampf am Krankenbett»
Red. Der Autor ist Chirurg und Publizist in Frankfurt.
Es ist gerade einmal 50 Jahre her, da herrschten in der Medizin Zustände, die sich heute niemand mehr vorstellen kann. Ärzte waren die unantastbaren Halbgötter in Weiss (Ärztinnen gab es kaum), und das Krankenhaus war ein Kasernenhof: Unter der alleinigen Befehlsgewalt des Chefarztes (Chefärztinnen gab es keine) fungierten hörige Oberärzte als ausführende Organe, um die Assistenten zu dirigieren und zu disziplinieren. Einem Chefarzt wagte niemand zu widersprechen, denn das konnte die Karriere auf der Stelle beenden. Besonders krass waren diese Herrschaftsverhältnisse in der Chirurgie.
Es waren überhaupt ganz andere Zeiten. Es herrschte Kalter Krieg. Spanien, Portugal und Griechenland waren faschistische Diktaturen. Zu einer Friedensdemonstration in Bonn im Jahr 1982 kamen 400’000 Menschen zusammen. Überall traf man auf alte Nazis, als Lehrer in der Schule, als Richter, Staatsanwälte und als Politiker.
In der Medizin war das nicht anders. Die Präsidenten der Bundesärztekammer, Ernst Fromm von 1959 bis 1973 und Hans-Joachim Sewering von 1973 bis 1978, waren SA- und SS-Schergen, beteiligt an Kindereuthanasie.
Ein Bericht von Alexander Mitscherlich über die Nürnberger Ärzteprozesse wurde totgeschwiegen, er selbst wurde geächtet.
Dieser dumpf-konservative Zeitgeist führte auch zu skurrilen Diskussionen im Gesundheitswesen. Ein Beispiel: Als der Hanauer Landrat Martin Woythal (SPD) sein Konzept des „klassenlosen Krankenhauses“ vorstellte, das ein Ersetzen der Chefarzthierarchie durch demokratische Strukturen, die Vereinheitlichung der Pflegesätze sowie freie Besuchszeiten in 1- bis 2-Bett-Zimmern mit Sanitäreinrichtung, Telefon und Speisenauswahl vorsah, wüteten ärztliche Standesvertreter, das sei ein Rückschritt, asozial und der direkte Weg in die Anarchie!
In diesem Horrorszenario wagte es Hans Mausbach, Stationsarzt der Chirurgischen Klinik des Frankfurter Nordwestkrankenhauses, in einem Fernsehinterview zu berichten,
- dass es Experimente an Menschen gebe, die davon nichts wüssten;
- dass kommerzielle Interessen mitunter sogar in Operationsentscheidungen einfliessen würden;
- dass Gefälligkeitspublizistik für die pharmazeutische Industrie mit Kranken als Versuchsobjekten ganze pseudowissenschaftliche Bibliotheken füllen würden;
- dass Untertanengeist, Demütigungen und Karrieristentum verbreitet seien.
Am nächsten Tag degradierte ihn sein Chefarzt, Professor Edgar Ungeheuer (ja, so hiess er), vor versammelter Mannschaft auf eine untergeordnete Assistentenstelle. Mausbach habe die gesamte deutsche Ärzteschaft in den Schmutz gezogen, den Ärztestand insgesamt diffamiert und das eigene Nest beschmutzt.
Es kam fortan zu einer langen Reihe von Versuchen, Mausbachs ärztliche Existenz zu zerstören. Er wurde beschimpft, er wurde entlassen, er wurde aus der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie ausgeschlossen.
Über Inhalte seiner Kritik wurde nicht diskutiert, stattdessen wurde der Konflikt personalisiert mit Schlagzeilen im Deutschen Ärzteblatt wie
„Treibjagd auf das Ansehen der Ärzte, Schluss mit der Pogromhetze gegen Chefärzte! Schluss mit Klassenkampf am Krankenbett!“.
Sogar die Landesärztekammer Hessen ermittelte gegen Mausbach wegen eines „Berufsvergehens“. Mausbach aber blieb standhaft. Er verteidigte seine Stellungnahme gegen alle Verleumdungen und gewann letztlich alle Arbeitsgerichtsprozesse. Seine chirurgische Existenz aber hatte er verloren – ein hoher Preis!
Es war aber gleichzeitig auch ein enormer Gewinn für die Medizin und für uns alle. Ein von Mausbach 1973 gemeinsam mit Erich Wulff, Hans-Ulrich Deppe und Paul Neuhöfer organisierter Kongress „Medizin und gesellschaftlicher Fortschritt“ in Marburg fand grossen Zulauf. Mit der Liste demokratischer Ärzte – mit Mausbach als Gründungsmitglied – entstand erstmals eine Opposition in den Ärztekammern, Mausbach war viele Jahre ihr Delegierter. Überall im Land wurden sogenannte „Basisgruppen Medizin“ gegründet. Es entstanden Zeitschriften gegen die stockkonservative Dominanz des Deutschen Ärzteblattes. In alternativen Gesundheitszentren wurde gleichberechtigte Teamarbeit praktiziert. 1980 kamen zum alternativen „Gesundheitstag“ 13’000 Menschen nach Berlin– als Gegenveranstaltung zum Deutschen Ärztetag.
Heute ist die eminenzbasierte Medizin von der evidenzbasierten abgelöst worden. Heute geniessen Ärztinnen und Ärzte die Freiheit der Rede auch am Arbeitsplatz, eine Freiheit ihrer beruflichen Entscheidungen, eine flache Hierarchie mit kollegialem Austausch. Sie wissen aber nicht, dass sie davon Vieles dem Mut und der Unbeugsamkeit von Hans Mausbach und seinen Weggefährten zu verdanken haben.
Am 9. September ist Hans Mausbach in Frankfurt am Main im Alter von 86 Jahren gestorben.
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Diese Kolumne erschien am 17. September 2022 in der «Frankfurter Rundschau».
Bernd Hontschik ist Autor des Buches «Heile und Herrsche! – Eine gesundheitspolitische Tragödie».
Westend-Verlag 2022, 22.30 CHF / 18 Euro [NACHTRAG 22.9.2022: Das Buch ist zur Zeit nicht erhältlich wegen eines Copyright-Problem beim Buch-Cover]
Aus der Verlagsankündigung: «Was wir in Deutschland derzeit erleben, ist eine Zeitenwende: Krankenhäuser werden aus öffentlichem Besitz an Klinikkonzerne verschleudert. Der Patient wird der Digitalisierung geopfert. Das Gesundheitswesen wird zu einem profitablen System umgebaut, in dem Ökonomen und Politiker das Sagen haben. Brauchen wir hundert Krankenkassen? Kann man die ungezügelt agierende Pharmaindustrie bändigen?
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Danke für diese Aufklärung! Ein sehr wertvoller Artikel! Als Jugendlicher besuchte ich Anfang der 90iger durch Zufall eine Veranstaltung, die mit Mitscherlichs Erkenntnissen über die unfassbare Gleichschaltung alle Mediziner in der NS-Zeit, die Menschenexperimente und die nahtlose Integration der Mörderärzte in die Nachkriegszeit aufklärte. Eine Aussage hat sich mir eingeprägt: «Man musste keine Ärzte zu diesen Experimenten zwingen! Bis auf wenige Ausnahmen wollten die meisten endlich uneingeschränkt am Menschen experimentieren und waren froh, dass das NS-System diese Möglichkeit bot.» Ich dachte mir damals, dass dies ja bedeuten könne, wenn man heute die gesetzlichen Schranken und den Patientenschutz niederrisse wir wieder gleiche Verhältnisse hätten. Ein tiefes Mißtrauen gegenüber den Halbgöttern ist mir seitdem geblieben. Man kann Hrn. Mausbachs Engagement gar nicht genug wertschätzen.
Ich bin überzeugt davon, dass Sie mit dieser Vermutung völlig recht haben.
Ich durfte selbst als Kind die ethische Verfassung der Medizin der späten 70er und der 80er Jahren am eigenen Leibe erleben – und das wohlverstanden in der ach so zivilisierten Schweiz.
Und auch heute zweifle ich immer wieder daran, dass man als Patient für den überwiegenden Teil der Ärzteschaft mehr als bloss ein Stück Fleisch oder mit Glück vielleicht noch die Summe der eigenen Körperfunktionen ist.
Es herrscht auch heute eine erschreckende Insensibilität für Menschen, die sich nicht gefügig dem ärztlichen Rat unterordnen, sei es weil sie eben zum Beispiel schon schreckliche Erlebnisse in der Medizinmaschinerie erleben mussten. Es herrscht eine ausgeprägte Kaltschnäuzigkeit seitens der Ärzteschaft.
Deswegen bin ich überzeugt – sollte eines Tages die letzten ethischen Werte abgeschafft sein, werden wir wieder erleben, wie sich Ärzte in vorderster Front an solchen Schandtaten beteiligen werden.
Der Autor beschreibt am Anfang des Artikels die Zustände an deutschen Kliniken vor 50 Jahren. Das mag für Deutschland zutreffen, entspricht aber keinesfalls meinen eigenen Erfahrungen in Schweizer Krankenhäusern – ich war in den Siebzigerjahren Assistenzarzt an mehreren und Oberarzt an zwei Spitälern: die Hierarchien waren deutlich flacher als geschildert, mit den Oberärzten war man rasch auf Du, und über den Begriff „Halbgötter in Weiss“ haben wir schon damals gelacht. An einen „dumpf-konservativen Zeitgeist“ kann ich mich nicht erinnern. Der Unterschied zu den Verhältnissen an vielen deutschen Krankenhäusern war offensichtlich erheblich, wie uns deutsche Kolleg*innen schon damals berichteten. Diese Anmerkung scheint mir aus Gerechtigkeit meinen damaligen Chef- und Oberärzten gegenüber angebracht.
Eine dringend erforderliche Darlegung, Danke!
Das war doch zur Zeit Hackethals und vieler anderer wirklicher Ärzte und Ärztinnen wie auch Dr. Budwig und vieler weiterer.
Es hat seit dem verheerenden Einfluss von David Rockefeller auf die Heilkunst Tradition. dass wirklicher Fortschritt verhindert wird.
Es möge sich jeder Mensch und Zwangsversicherter überlegen, wer und welche Instanzen wofür eintreten, welche Fach-Exponenten hochgejubelt werden und welche stillgelegt werden, wer in die Gremien berufen wird und wer nicht.
Schon Paracelsus ist aus der Uni Basel geworfen worden, Semmelweiss wurde diskreditiert, Josef Issels und sehr viele weitere erfolgreiche Ärzte und Ärztinnen wurden «fertig» gemacht, und es geht weiter in unserer ach so aufgeklärten Gegenwart.
Wir können es am unterdrückten Fachdiskurs erkennen.
Es wird nur über die Unangepassten geredet, aber keinesfalls mit ihnen.
Die Inquisition feiert Urstände.
Viele der von Mausbachs wichtigsten Punkten sind trotz der weit verbreiteten Evidenz-basierten Medizin nicht einfach verschwunden, Sie haben sich auch verlagert.
So gibt es die Klassenmedizin heute noch.Gut versichert schnell behandelt,schlecht versichert wartet länger auf eine Bestrahlung etc.und stirbt halt früher!
Viele Kliniken und Ärzte machen sich auch heute noch gerne zu gefälligen Mitarbeitern der Pharmaindustrie gegen hohe Summen.
Die Macht der Krankenkassen und damit finanzielle Gründe führen die Entscheidungen der Ärzte betreffend Operationen und Behandlungen ad absurdum,weil finanzielle Gründe diese oft beeinflussen.So werden ganze Kliniken und auch Behandlungen von den Kassen gestrichen.
Die Ellbogenkultur in den Kliniken und der Untertanengeist sind leider noch immer vorhanden und zerstören regelmässig auch Karrieren oder setzen Chefärzte ab,die sich nicht genügend dem System beugen.
Die Liste ist noch länger ,der Kampf für Mausbachs Anliegen geht weiter!
Kann es sein, dass entweder mit Ihrer Verlinkung auf Herrn Hontschiks Buch etwas nicht stimmt, oder das Buch selbst das Problem ist? Denn man findet es nirgends zu kaufen. Bei der Suche im Web findet man Links direkt zu seinem Buch beim Westend Verlag, aber klickt man sich dorthin, erhält man nur einen 404-Fehler.
Das Buch ist zur Zeit tatsächlich nicht erhältlich, weil ein Copyright-Problem beim Buch-Cover aufgetaucht ist.