Perspektive aus Vietnam: Die Schweiz im Corona-Jammertal
Red. Felix Abt ist Unternehmer und lebt in der Stadt Nha Trang im Süden Vietnams. Er berichtet hier, wie er die Corona-Pandemie bisher erlebte.
Ein lautes Schreien in der Nacht hatte mich oft aufgeweckt. Ein Nachbar konnte seine Schmerzen kaum ertragen. Seine Familie war froh, als ihn der Tod vor wenigen Jahren von seinen höllischen Qualen erlöste. Der Verstorbene war erst 20 Jahre jung, und litt an den Folgen des chemischen “Agent Orange”, welches die amerikanische Luftwaffe während des Vietnamkrieges zur Entlaubung der Wälder versprühte.
Der amerikanische Krieg, wie ihn die Vietnamesen nennen, hatte nie richtig aufgehört: Immer noch verursacht das hochgiftige Dioxin der Amerikaner Tot- und Missgeburten, Krebs, Immunschwächen, Nervenleiden, Diabetes und Parkinson in dem Land, das zu meiner Wahlheimat geworden ist.
Als gebürtiger Schweizer hatte ich Glück, in einem Land aufzuwachsen, welches, ganz anders als Vietnam, von Kolonisierung, Kriegen und Armut im 20. Jahrhundert verschont blieb. Als neutrales Land profitierte es sogar von Weltkriegen.
Fulminante Entwicklung, aber noch lange kein Wohlfahrtsstaat
Erfreulicherweise hat das ehemals mausarme Vietnam, das lange von Nahrungshilfen der Sowjetunion abhing, in den letzten drei Jahrzehnten eine fulminante Entwicklung mit einem exorbitanten Wirtschaftswachstum verzeichnet. Zwar wird das Entwicklungsland Vietnam gewiss nicht zweihundert Jahre lang wie die Schweiz brauchen, um sich zu industrialisieren und sich zu einem Wohlstandsstaat zu entwickeln. Es dürfte aber dennoch etliche Jahre dauern, bis die Wirtschafts- und damit die Steuerkraft des Landes genügend gross ist, um sich eine moderne Infrastruktur wie die Schweiz leisten zu können.
Dazu würde unter anderem eine unterbruchsfreie Stromversorgung, eine landesweite, saubere Trinkwasserversorgung und ein Strassennetz gehören, welches die sich in den letzten Jahren explosionsartig vervielfachten Fahrzeuge absorbieren kann, sowie ein Gesundheitswesen mit modernen Spitälern und Rehabilitationszentren, welches die Lebenserwartung verbessert. Im Durchschnitt leben die Bewohner der Schweiz ganze zehn Jahre länger als die Vietnamesen.
Gegen Desinformation und Panikmache
Dass das vietnamesische Gesundheitssystem wesentlich fragiler ist als das schweizerische, ist man sich hier bewusst. Das Gesundheitsministerium schickt mir und allen anderen Erwachsenen jeden Tag neue Updates zur Coronaviruspandemie aufs Handy. Covid wird auch täglich thematisiert im Fernsehen und in den Zeitungen. Wissenschafter, insbesondere Virologen sowohl des Inlands wie des Auslands, werden ernst genommen.
Desinformation und Panikmache auf dem Internet, insbesondere auf Facebook, welches von über zwei Dritteln aller Vietnamesen genutzt wird, werden unterbunden. Wer etwa das Gerücht weiterverbreitet, demzufolge der Pfizer CEO in Polizeigewahrsam sei um so Impfstoffe in Verruf zu bringen, muss mit hohen Geldbussen rechnen. Aber die Gefahr, dass jemand auf so eine bösartige Idee kommt, ist eher gering.
Im konfuzianisch geprägten Vietnam legt man Wert auf eine gute Ausildung, und insbesondere die Naturwissenschaften sind bei Vietnamesen, wie auch bei anderen Ostasiaten, hoch angesehen. In diesen Fächern holen sich vietnamesische Schüler an regionalen und internationalen Schulolympiaden überproportional viele Medaillen. Behauptungen ohne wissenschaftliche Beweise werden hier, anders als im Westen, deshalb weniger Bedeutung zugemessen. Und anders als im Westen, wo die sozialen Medien jeden Hinz und Kunz zu einem “Experten” von anspruchsvollen Sachverhalten, wie zum Beispiel Pandemien und Impfstoffen, befördern, geht es hierzulande besonnener und sachlicher zu.
Als der Coronvirus sich Anfang 2020 auszubreiten begann, hatte die Regierung schnell und konsequent gehandelt: Die Grenzen wurden dicht gemacht, Maskenpflicht und Social Distancing wurden eingeführt. Wo Infektionen auftraten, wurden lokale Lockdowns angeordnet. Monate später, als Coronavirustests aufkamen, wurde regelmässig getestet, vor allem in Gegenden, wo es Infektionsherde gab. Mitte des Jahres begannen westliche Medien erstaunt über den aussergewöhnlichen Erfolg Vietnams bei der Covidbekämpfung zu berichten. Es war fast das einzige Land, das nur geringe Ansteckungen und keinen einzigen Toten zu beklagen hatte.
Delta-Variante führt zu Überlastungen der Spitäler
Die Lage veränderte sich dramatisch mit dem Aufkommen der wesentlich ansteckenderen Deltavariante in diesem Jahr. Zwar versuchte das Land, die Verbreitung dieser Variante wieder mit strengen Lockdowns und anderen Massnahmen zu verhindern, im Sommer meldeten Spitäler jedoch einen Grossandrang von Covid-Patienten. Die Pandemie konnte nicht mehr unter Kontrolle gehalten werden und viele Krankenhäuser waren bald überlastet und mussten Patienten sogar abweisen. Die Todesfälle stiegen rasant.
Als die ersten Impfstoffe im ersten Quartal dieses Jahres verfügbar wurden, hatten reiche Länder wie die Schweiz gleich die gesamte Produktionsleistung mehrerer Monate bei den Impfstoffherstellern aufgekauft und gehortet; ärmere Länder wie Vietnam hatten das Nachsehen. Das Nachbarland Kambodscha hatte zwar schon Monate vor Vietnam mit Erfolg eine grosse Impfkampagne mit chinesischen Impfstoffen lanciert. Eine solche Kampagne wäre hier aber angesichts der Empfindlichkeiten der Vietnamesen gegenüber China zum Scheitern verurteilt gewesen. Anfang Juli waren erst 0,2 Prozent der vietnamesischen Bevölkerung geimpft. Mangels Impfstoffen konnte Vietnam deshalb auf diese überraschende Explosion der Infektionen im Sommer nicht sofort mit Impfungen reagieren. Zwar hatte ein vietnamesisches Pharmaunternehmen schon im letzten Jahr damit begonnen, an einem Impfstoff zu arbeiten; dieser dürfte aber erst Anfang nächsten Jahres verfügbar sein, weil der ordentliche Zulassungprozess Labortests und monatelange klinische Tests bis zur sogenannten Phase III (grosse Anzahl Testpersonen) umfasst.
Impfstoffe aus allen Ländern
Endlich Ende September lief der erste hier produzierte Testbatch des russischen Sputnik V Impfstoffes von vietnamesischen Förderbändern. Mangels Verfügbarkeit lokal hergestellter Impfstoffe legte sich das Gesundheitsministerium zwischenzeitlich ins Zeug, um so viele Impfstoffe wie möglich aus Russland, den USA, Grossbritannien und sogar China zu beschaffen. Als dann im Herbst endlich grössere Mengen Vakzine eintrafen, wurden Impfkampagnen gestartet, zuerst in den Millionenstädten Hanoi und Ho Chi Minh Stadt, wo der Virus wegen der hohen Bevölkerungszahl und der grossen Bevölkerungsdichte sich besonders stark ausbreitete, und anschliessend im Rest des Landes.
Anfang September waren 3 Prozent der Bevölkerung voll geimpft, Mitte November waren es schon die Hälfte und in Grossstädten um die 90 Prozent. Dieses Impftempo erlaubte es den Behörden, strenge Massnahmen wie Lockdowns aufzuheben und die Grenzen für geimpfte Touristen wieder vorsichtig zu öffnen. Als Folge der Impfkampagne sind die Todesfälle stark zurückgegangen und andere Kranke müssen nicht mehr auf ihre Operation wegen Covidpatienten verzichten.
Besonders aufgefallen ist mir, dass die Impfwilligkeit bei Vietnamesen extrem hoch ist, höher als in Israel und Portugal. Als die Impfkampagnen begannen, wurden Impfungen zum wichtigsten Gesprächsthema und die Leute fragten sich gegenseitig: “Bist Du schon geimpft” oder “wann hast Du Deinen Impftermin”? Mögliche Nebenwirkungen wurden kaum diskutiert, weil die relativ gut informierten Vietnamesen überzeugt sind, dass diese in der Regel harmlos und von kurzer Dauer sind, und dass das Risiko nicht geimpft zu sein, ein Vielfaches grösser ist, als das Risiko des Impfens. Auch war man sich hier bewusst, dass solange der Virus zirkulieren kann, ohne von Impfungen eingedämmt zu werden, neue Varianten aufkommen könnten. Das Horrorszenario einer Pandemie ohne Ende wollte man deshalb mit Impfungen verhindern. Ausser ein paar “querdenkenden” westlichen Ausländern hat sich deshalb hier niemand übers Impfen entrüstet.
Vietnamesische Freunde, welche von einer grösseren Impfresistenz in der Schweiz hörten, haben sich bei mir verwundert darüber erkundigt. Ich versuchte es ihnen so zu erklären: Während Portugal sich in die Nähe der Normalität zurückgeimpft habe, so wie es jetzt Vietnam tut, herrsche in der Schweiz pandemischer Die-da-oben-Populismus vom Feinsten. Er drücke sich aus mit viel Getöse, sogar Kuhglocken würden bemüht, gegen Impfungen und gegen andere vernünftige Covid-Massnahmen wie das Tragen von Masken. Diese Art “Volkswiderstand” habe es aber schon seit Jahrzehnten gegeben in der Schweiz.
Heldenhafte Wohlstandswinkelriede namens Schwarzenbach, Blocher oder Köppel hätten sich jeweils an die Spitze von Volksbewegungen gesetzt, um gegen ausländische Immigranten und andere “Parasiten” (und jetzt Viren) zu kämpfen, welche mit Hilfe der Regierung den bedrohten eidgenössischen “Couch Potatoes” ihren hart erarbeiteten Wohlstand wegnehmen wollten. Gegenwärtig richte sich der Massentrotz der massiv Herumopfernden gegen den bösen, manipulativen Staat, der sie angeblich zu ihrem Glück zwingen will.
Ein vietnamesischer Freund antwortete darauf lakonisch: “Was für ein glückliches Land, wo es sich die Leute leisten können, sich über eingebildete Probleme so heftig zu streiten.”
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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