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Wissenschaftler kritisieren Behörden und werfen ihnen eine Verharmlosung der Bleiverschmutzung vor. © CC BY-SA 4.0

Notre-Dame de Paris: Behörden verharmlosen Bleivergiftungen

Tobias Tscherrig /  Nach dem Brand der Kathedrale Notre-Dame in Paris weisen 90 Kinder erhöhte Bleiwerte auf. Die Behörden spielen die Fälle hinunter.

Sechs Monate nach dem Grossbrand der Kathedrale Notre-Dame in Paris veröffentlichte die Regionale Gesundheitsagentur (ARS) am 14. Oktober einen Bericht, der das Ausmass der Bleiverschmutzung bei Anwohnerinnen und Anwohnern zeigt. Die Resultate sind beunruhigend: Bei neunzig Kindern – und damit bei fast zehn Prozent aller getesteten Kinder – wurde eine erhöhte Bleikonzentration festgestellt.

Insgesamt berichtet die ARS von zwölf Kindern, bei denen Bleivergiftungen festgestellt wurden. Weitere 78 Kinder stehen unter ärztlicher Aufsicht. Trotz dieser Resultate versucht die ARS die Bevölkerung zu beruhigen. Dazu nutzt sie auch eine veraltete Studie aus dem Jahr 2009.

Veraltete Studie als Grundlage
Trotz der festgestellten Bleikontamination bei Kindern stellt sich die ARS auf den Standpunkt, dass es in der Nachbarschaft der Kathedrale Notre-Dame keinen Hot-Spot einer Bleikontamination gebe. Die Resultate lägen auf gleicher Ebene wie beim Rest der Bevölkerung, sagte Michel Cadot, der Präfekt der Region, auf einer Pressekonferenz, die gemäss dem Online-Magazin «mediapart» fünf handverlesenen Journalisten vorbehalten war.

Um diese Aussage zu stützen, verweist die ARS auf die Studie «Saturn-Inf», die im Zeitraum zwischen 2008 und 2009 an insgesamt 3831 Kindern in 143 Krankenhäusern durchgeführt wurde. Und das, obwohl die französische Gesundheitsbehörde, die für die ARS mit der Analyse der Bleivergiftung um Notre-Dame beauftragt ist, gleich selbst warnt und die Daten der Studie als «nicht aktuell» bezeichnet.

Die Obsoleszenz der Studie ergibt sich aus den veränderten Rahmenbedingungen: Im Jahr 2009 war der Schwellenwert für eine Bleivergiftung doppelt so hoch wie heute. Damals galt als vergiftet, wer mit 100 Mikrogramm Blei pro Liter Blut (μg/l) belastet war. Zehn Jahre später liegt der Grenzwert bei 50μg /l. Am 8. Juni 2015 beschlossen die französischen Gesundheitsbehörden per Dekret, dass ab 50 Mikrogramm Blei pro Liter Blut, der sogenannten «Schnellinterventionsschwelle», eine Meldung an die regionale Gesundheitsbehörde abgegeben werden muss. Diese muss dann die Umgebung des Kindes untersuchen, um die Herkunft der Kontamination zu bestimmen und die Quelle der Verschmutzung zu entfernen.

Schwellenwert dient als staatlicher Richtwert
Vor allem das Einatmen oder Einnehmen von Bleistaub gilt als besonders giftig. Bleistaub kann bei Kindern schwere neurologische Schäden verursachen, bei Erwachsenen können neben neurologischen Schäden, Herz-Kreislauf- oder Nierenerkrankungen, Fruchtbarkeitsprobleme oder Krebserkrankungen auftreten.

So weisen Gesundheitsexperten in französischen Medien darauf hin, dass es keine sichere Schwelle gebe, unter der Bleikonzentrationen als problemlos gelten. Philippe Glorennec, Spezialist für Risiken von Bleikontamination am Nationalen Institut für Gesundheit und medizinische Forschung (Inserm) sagt zum Beispiel gegenüber «mediapart», dass es sich beim Wert von 50μg /l um eine von den Behörden festgelegte Schwelle handle, die benötigt werde, um staatliche Strategien zur Risikoprävention festzulegen. Man dürfe den Wert von 50μg /l nicht als Gefahren-Schwelle betrachten, unter der Blei harmlos sei.

Ausmass der Vergiftungen wird verharmlost
Seit dem Brand der Kathedrale Notre-Dame wurden bei insgesamt 877 Kindern, die in fünf benachbarten Stadtteilen wohnen, erhöhte Bleikonzentrationen festgestellt. Zwölf Fälle wurden als Bleivergiftungen mit Konzentrationen von über 50μg /l deklariert. Bei einigen dieser Fälle gehen die Bleikonzentrationen sogar bis zu 135 μg/l. 78 Kinder stehen unter ärztlicher Aufsicht, weil bei ihnen Bleikonzentrationen festgestellt wurden, die über der «Wachsamkeitsschwelle» von 25 μg/l liegen.

Wenn sich die ARS nun auf die zehn Jahre alte «Saturn-Inf»-Studie beruft, bei der der gesetzlich festgelegte Grenzwert mehr als doppelt so hoch als der heutige Standard ist, verharmlost sie die Vergiftungen, die nach dem Brand der Pariser Kathedrale auftraten. Bei der damaligen Studie lag die Bleikonzentration über 50μg /l, die bei Kindern im Alter von 6 Monaten bis 6 Jahren gefunden wurde, bei durchschnittlich 1,5 Prozent. Heute liegt der Durchschnitt bei den Kindern, die in der Nähe der Kathedrale wohnen oder zur Schule gehen, bei 1,9 Prozent. An dieser Zunahme kann die ARS nichts aussergewöhnliches feststellen.

Weiter versucht die ARS zu beruhigen, indem sie erklärt, dass der durchschnittliche Bleiwert im Blut der Kinder derselben Altersgruppe, die in der Nähe der Kathedrale leben, bei 13,5 μg/l liege. Bei der Studie aus dem Jahr 2009 habe derselbe Durchschnittswert noch bei 15,3 μg/l gelegen. Glaubt man diesen Zahlen, ist der durchschnittliche Bleiwert im Blut der Kinder also sogar zurückgegangen.

Diese Gegenüberstellung lässt «mediapart» nicht gelten und kommt zum Schluss, dass die Gesundheitsbehörde mit «Studien und Zahlen jongliert». Demnach berücksichtige die Behörde in ihren Angaben die Ergebnisse einer Studie, die auch in Bezirken durchgeführt wurde, die nicht von der Bleiverschmutzung von Notre-Dame betroffen seien – was tendenziell zu niedrigeren durchschnittlichen Bleikonzentrationen führe.

Im Übrigen seien die Blei-Kontaminationen bei 704 von 877 Kindern erst im August und September entdeckt worden und damit während oder nach den Sommerferien, in denen die betroffenen Kinder nicht mehr regelmässig die verschmutzten Schulen und Kindergärten besuchten. In dem von der ARS präsentierten Bericht wird mit keinem Wort erwähnt, dass Bleikonzentrationen im Blut im Laufe der Zeit abnehmen – ein Teil des Bleis wird eliminiert, ein anderer Teil in den Knochen abgespeichert. Die Untersuchung sei ausserdem nicht systematisch, kritisieren französische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. So seien die Kinder zu spät und zum Beispiel schwangere Frauen gar nicht untersucht worden.

Werte wie vor 30 Jahren
Gegenüber «mediapart» erklärt Glorennec, dass der Rat für öffentliche Gesundheit eine Politik zur Reduzierung der Blei-Exposition auf ein möglichst niedriges Niveau empfohlen habe und im Jahr 2014 eine Zielvorgabe von einem durchschnittlichen Wert von 12 μg/l für das Jahr 2017 definiert habe. Gemäss dem Wissenschaftler könne bei Kleinkindern bereits eine geringe Bleikonzentration zu Aufmerksamkeitsstörungen, einer Abnahme der Hörschärfe und Ähnlichem führen. «Es wird geschätzt, dass ein IQ-Punkt bereits ab 12 μg/l verloren geht und bei einer Kontamination zwischen 1 und 100 μg/l 6 bis 7 IQ-Punkte verloren gehen können.»

Glorennec erklärt, dass «die höchsten Konzentrationen, die um Notre-Dame herum beobachtet wurden, in der gleichen Grössenordnung liegen wie diejenigen in städtischen Bevölkerungsgruppen, die in den 1980er und 1990er Jahren bleihaltigem Benzin ausgesetzt waren». Eine Situation, die mit den Verschmutzungsraten vor mehr als dreissig Jahren identisch sei, sei bei weitem nicht so beruhigend, wie es die ARS behaupte.

Laut der Inserm-Ehrenforscherin Annie Thébaud-Mony, die sehr früh vor den gesundheitlichen Risiken der Umweltverschmutzung um Notre-Dame warnte, istdas Vorgehen der ARS, «deren Hauptaufgabe darin besteht, die öffentliche Gesundheit zu erhalten und damit die Bleikontamination bei Kindern zu minimieren, inakzeptabel.»


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Eine Meinung zu

  • am 24.10.2019 um 14:19 Uhr
    Permalink

    Mir scheint es logisch, dass die Bleiwerte erhöht sind – Dächer wie das der Kathedrale von Notre Dame sind immer mit Blei abgedeckt. Das ist nach wie vor das beste Material, um die alten Dachstöcke zu erhalten.
    Wenn’s brennt, wird logischerweise das Blei geschmolzen. Blei hat ja einen eher niedrigen Brennwert, daher ist es auch logisch, dass dieses Blei in der Atemluft aufgenommen wird.
    Dass die Behörden das herunterzuspielen versuchen, erscheint mir ebenso logisch. Die möchten ja lieber nicht belangt werden. In Frankreich gehören alle Sakralbauten dem Staat, demzufolge müsste der Staat für alle auftretenden Folgeschäden, die auf den Brand eines Sakralbaues zurückzuführen sind eben auch aufkommen.

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