Koronare Bypass-Operation

Nach Eröffnung eines Herzzentrums im Tessin unterzogen sich viel mehr Einwohner und Einwohnerinnen einer Bypass-Operation. Den Nutzen will niemand abklären. © nanavati

Noch mehr Herzzentren schaden Patientinnen und Patienten

Urs P. Gasche /  Es gibt bereits zu viele davon. Jetzt will die Ostschweiz ein zusätzliches. Die Krankenkassenverbände wehren sich.

Den Krankenkassen geht es vor allem um unnötige Kosten und noch stärker steigende Prämien. Für Patientinnen und Patienten ist noch entscheidender, dass es bereits heute viel zu viele Herzzentren in der Schweiz gibt: 

  1. Das bedeutet für die Patientinnen und Patienten, dass die Herzchirurgen und ihre Teams zu wenig Übung haben und es deshalb zu vermeidbaren Komplikationen kommt. 
  2. Und dies heisst auch, dass mancherorts unnötig viel untersucht wird mit Herzkathetern, zu viele Herzschrittmacher unnötig eingesetzt werden, zu viele Bypass-Operationen gemacht werden usw. Denn die Kosten der Herzzentren sind zu amortisieren.

1Zu wenig Übung
Damit Ärzteteams genügend Routine haben, sollten sie nach internationalen Erfahrungen beispielsweise mindestens 200 Bypass-Operationen pro Jahr durchführen. Das sind 16 pro Monat. Auf diese Zahl kommen nach Angaben von Santésuisse heute jedoch lediglich 11 von 16 Spitälern in der Schweiz. 

Der grösste Teil der Herzeingriffe sind keine Notfälle, sondern planbare Operationen. Patientinnen und Patienten in St. Gallen fahren wohl gerne 40 Minuten ins Herz-Neuro-Zentrum Bodensee oder 60 Minuten ins Universitätsspital Zürich, wenn sie wissen, dass sie in diesen Zentren ein deutlich kleineres Komplikationsrisiko haben.

2Zu viele Eingriffe
Zu viele Herzzentren wollen ausgelastet sein. Das führt zu Überbehandlungen zum Schaden von Patientinnen und Patienten.


Tessin als Paradebeispiel

Einen Anschauungsunterricht für Über- und Fehlbehandlungen bietet der Kanton Tessin. Vor dreissig Jahren gab es dort weder ein Herzzentrum noch praktizierende Herzchirurgen. Die Abteilung für Kardiologie war im öffentlichen Regionalspital Ospedale Civico in Lugano eingebettet. Patientinnen und Patienten, die einen Herzeingriff nötig hatten, liessen sich vor allem in Zürich, in der Westschweiz oder in Bern behandeln. 

Der Weg durch die Alpen hat dazu beigetragen, dass sich die Einwohner des Kantons Tessin im Vergleich zum Rest der Schweiz nur selten am Herzen behandeln liessen – weit unter dem Schweizer Durchschnitt. Das zeigten Statistiken der Krankenkassen.

Doch 1995 spendete der deutsche Arzt Eduard Zwick, der – von den deutschen Steuerbehörden verfolgt – seit 1982 als Steuerflüchtling in der Schweiz wohnte, eine grosse Summe zur Errichtung eines Herzzentrums im Tessin. Dieses neue Cardiocentro Ticino CCT eröffnete den Betrieb im Jahr 1999 in Lugano.
Und siehe da: Seither «mussten» sich viel mehr Einwohner des Tessins einem Herzeingriff unterziehen. Die Tessiner verwandelten sich in wenigen Jahren von besonders herzstarken zu herzschwachen Schweizerinnen und Schweizern: 

Die Zahl der eingesetzten Herzschrittmacher war im Jahr 2022 im Tessin 18 Prozent höher als im Durchschnitt der übrigen Schweiz:

Herzschrittmacher
Herzschrittmacher- und Defibrillator-Implantationen: altersstandardisierte Zahl pro 100’000 Einwohner im Jahr 2022

Im Jahr 2022 wurden die Einwohner des Kantons Tessin (in Berücksichtigung der Altersstruktur) fünfzig Prozent häufiger einer koronaren Bypass-Operationen unterzogen als die Einwohner der Kantone Graubünden oder Basel-Land und im Durchschnitt so häufig wie die Einwohner der ganzen Schweiz, nachdem die Tessiner bis zur Eröffnung des Herzzentrums in Lugano abgeschlagen weit unter dem Durchschnitt lagen.1

Bypass koronarer
Bypass-Operation: altersstandardisierte Zahl pro 100’000 Einwohner im Jahr 2022

Auch beim Erweitern der Herzarterien mittels eines Ballons, häufig mit der Implantation eines Stents, lag das Tessin im Jahr 2022 über dem Schweizer Durchschnitt. Tessinerinnen und Tessinern wurden beispielsweise ein Drittel häufiger ein Stent implantiert als den St. Gallerinnen und St. Gallern (immer altersstandardisiert). Bezeichnenderweise untersucht niemand, ob die St. Galler zu ihrem Schaden unterbehandelt sind oder ob die Tessiner zu ihrem Schaden überbehandelt sind.

PTCA Koronarangioplastik
Koronarangioplastik (PTCA), meistens mit Stents: altersstandardisierte Zahl pro 100’000 Einwohner im Jahr 2022


Was ich nicht weiss …

Unglaublich: Für dieses Beispiel eines raschen Übergangs von statistisch niedriger Behandlungsintensität zu einer statistisch eher überdurchschnittlichen Zahl von Eingriffen interessierte sich und interessiert sich noch heute niemand: Weder ärztliche Fachgesellschaften noch Behörden noch Universitäten oder Fachhochschulen haben Vor- und Nachteile für die Tessiner Bevölkerung verfolgt und untersucht.
Die entscheidende Frage lautet: Erkranken, leiden und sterben heute weniger Tessiner Einwohner an Herzkreislaufkrankheiten als vor dreissig Jahren?

Ein Problem: Für das Untersuchen solcher Fragen sind wahrscheinlich keine Drittmittel zu akquirieren. Wer am Gesundheitsmarkt gut verdient – Kardiologen, Spitalinvestoren, Hersteller von Stents und Pharmafirmen –, hat kein Interesse daran zu erfahren, dass ein Teil der Eingriffe wahrscheinlich in die Kategorie Über- und Fehlbehandlungen eingeteilt werden müsste. Und Behörden und Nationalfonds haben keine entsprechende Forschung in die Wege geleitet.

Ohne wissenschaftliche Anhaltspunkte können diese «Leistungserbringer» weiterhin behaupten, die Tessiner seien bis vor dreissig Jahren unterversorgt gewesen und heute dank des Herzzentrums besser versorgt als die Einwohner der Kantone Graubünden, St. Gallen oder Basel-Land.

Die Gesundheitsindustrie und unter deren Einfluss auch die Behörden messen die Qualität des Gesundheitssystems weniger an den Resultaten der Behandlungen, sondern in erster Linie am medizinischen Angebot an Ärzten, Spitalbetten, der Zahl der MRI- und CT-Geräte usw. Nach diesem Kriterium ist die Qualität der Gesundheitsversorgung im Tessin heute besser.


Dreissig Prozent mehr Stents

Stents sind Röhrchen aus Metall oder Kunststoff, die mit einem Herzkatheter in eine Arterie eingeführt und an einer verengten Stelle platziert werden, wo sie diese offen halten sollen, um einen künftigen Herzinfarkt zu verhindern. Das Prozedere birgt Risiken. Zudem verschliesst sich die Arterie mit der Zeit häufig trotzdem und es besteht die Gefahr einer lebensbedrohenden Thrombose. 

Regelmässig kommen neue Modelle auf den lukrativen Markt, meist teurere, die angeblich sicherer sind und länger halten als die jeweils bisherigen. Dies wird jedoch nicht mit Langzeitstudien belegt.

Tessinerinnen und Tessinern wird heute wie erwähnt ein Drittel häufiger ein Stent implantiert als den St. Gallerinnen und St. Gallern (altersstandardisiert). Der Kanton Tessin gehört zur Gruppe der Westschweizer Kantone sowie Thurgau oder Luzern, in denen die Bevölkerung in den letzten Jahren deutlich häufiger als im Schweizer Durchschnitt mit Stents behandelt wird.

Doch niemand zeigt sich interessiert zu untersuchen, ob die Tessinerinnen und Tessiner heute weniger an Herzkreislaufkrankheiten leiden und daran sterben oder ob es ihnen angesichts der eingegangenen Operationsrisiken gesundheitlich sogar schlechter geht als vor dreissig Jahren.

Der Einsatz von Stents ist am nützlichsten und häufig lebensrettend unmittelbar nach einem erlittenen Herzinfarkt. Stents beheben jedoch die Ursache der Erkrankung nicht. Für das Vermeiden von Arterien-Verstopfungen müssen in erster Linie Risikofaktoren verringert werden: Rauchen, zu hoher Cholesterinspiegel, Hypertonie, Diabetes und Übergewicht. In zweiter Linie sind Medikamente zweckmässig.

An einer Herzschwäche oder Herzinsuffizienz leiden viele Patientinnen und Patienten. Falls ihr Zustand insgesamt stabil ist («stable patients with coronary artery disease»), helfen ihnen Medikamente kaum etwas. Stents bringen ihnen keinen Zusatznutzen. Weder kommt es zu weniger Herzinfarkten noch leben diese Patienten länger.2 Trotzdem kommen die meisten Stents genau bei denjenigen Patientinnen und Patienten zum Einsatz, denen sie nichts nützen, kritisierte Professor Michael Ozner schon vor Jahren.

Das ist nicht irgendein Professor. Ozner ist ärztlicher Direktor eines Herzkreislauf-Präventionsinstituts in South Florida und hatte als Einziger Behandlungsergebnisse weltweit verglichen. Und zwar diejenigen in den USA, wo Stents sehr häufig verwendet wurden, mit denen in Kanada, wo Stents viel seltener zum Einsatz kamen. Statt eines Zusatznutzens dank häufigem Stent-Einsatz musste Ozner in den USA lediglich viel mehr Opfer von Komplikationen feststellen. 

Bereits 2010 hatte er das Buch «The Great American Heart Hoax: Lifesaving Advice Your Doctor Should Tell You about Heart Disease Prevention (But Probably Never Will)» veröffentlicht.

In den USA wurden von 2019 bis 2021 in Herzkranzgefässen etwa eine Million Stents platziert. 229’000 davon waren unnötig und unzweckmässig. Das zeigt der Index des Lown Institute. Das war 22 Prozent.

Auch in der Schweiz kommt es angesichts der Überkapazität der Herzzentren zu vielen Über- und Fehlbehandlungen mit Stents, wenn auch wahrscheinlich weniger häufig als in den USA. Denn in der Schweiz sind mehr Patienten, die an Herzinsuffizienz leiden, bei Kardiologen in Behandlung, die selber keine Stents einführen. Eine Statistik darüber fehlt.


Überbehandlungen mit Herzkathetern

Für diagnostische Zwecke werden in der Schweiz jährlich rund 40’000 Koronarangiografien mit Herzkathetern durchgeführt. Dies setzt die Patientinnen und Patienten jedes Mal einem Risiko aus. Obwohl wissenschaftlich erwiesen ist, dass Herzkatheter – ausser in Notfällen – erst eingesetzt werden sollen, wenn nicht-invasive Massnahmen nicht helfen, werden bei über einem Drittel der Patientinnen und Patienten Koronarangiografien durchgeführt, ohne es vorher mit nicht-invasiven Massnahmen versucht zu haben. Das ergab 2012 eine Studie an über 2714 Patientinnen und Patienten in der Schweiz.3

Fazit

Vor diesem Hintergrund ist zu beurteilen, ob ein zusätzliches Herzzentrum in St. Gallen zweckmässig ist. Schon heute gibt es in der Schweiz pro Einwohner mehr Herzzentren als in allen anderen europäischen Ländern. Es geht nicht nur um unnötige Kosten und noch höhere Prämien, sondern auch um die Gesundheit der Bevölkerung.

Verantwortliche, die es ernst meinen mit der öffentlichen Gesundheit, sollten harte Fakten dazu liefern, was das Herzzentrum in Lugano und die heutige grössere Behandlungsintensität den Tessinerinnen und Tessinern seit 1999 gebracht hat.

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FUSSNOTEN
1Obsan (Hrsg.) (2014). Statistique médicale, OFS (2011), exploitation propre.
2William Boden et al. (2007). «Optimal Medical Therapy with or without PCI for Stable Coronary Disease». NEJM 356:1503-1516 April 12.
3Plos (2015): «Appropriateness of Diagnostic Coronary Angiography as a Measure of Cardiac Ischemia Testing in Non-Emergency Patients – A Retrospective Cross-Sectional Analysis»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Blutdruck_messen

Unnütze Abklärungen und Operationen

Behandeln ohne Nutzen ist verbreitet. Manchen Patienten bleiben Nebenwirkungen oder bleibende Schäden.

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Eine Meinung zu

  • am 3.06.2024 um 17:36 Uhr
    Permalink

    Exakt auf den Punkt gebracht. Nur lesen will das keiner 🙁
    Danke Herr Gasche

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