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23.6.2002: Urs P. Gasche in der NZZ am Sonntag © nzz

Nach diesem Artikel hat mich die NZZaS entlassen

upg /  Vor zwölf Jahren berichtete ich über die «unnötige Angstmacherei», mit der gesunde Frauen zum Röntgen der Brüste motiviert wurden.

Jetzt wird die Irreführung der Frauen von höchster und unabhängiger Stelle bestätigt. Krebsliga, Radiologen und Screening-Befürworter hätten die Frauen «verwirrend und irreführend» über den Nutzen des Mammographie-Screenings informiert und würden dies teilweise noch heute tun. Zu diesem Befund kommen das von Screening-Interessen unabhängige Fachgremium «Swiss Medical Board». Denn die von Krebsliga, Frauenärzten und Radiologen stets wiederholte Aussage, dass die Früherkennung das Risiko für Brustkrebs um 20 bis 25 Prozent verringere, würden nicht nur Frauen, sondern «offensichtlich auch viele Fachpersonen» falsch verstehen. Es handle sich um eine «relative Risikoreduktion», die zum Einschätzen des Nutzens irrelevant sei.
Das «Swiss Medical Board» wird von der FMH, der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften und den Gesundheitsdirektoren getragen. Dessen neusten Befund hat die «NZZ am Sonntag» am 2. Februar 2014 veröffentlicht.

Zusammenarbeit gekündigt

In der gleichen Zeitung hatte ich bereits vor zwölf Jahren über den übertrieben dargestellten Nutzen und die herunter gespielten Nachteile des Brust-Screenings berichtet. Unter dem Titel «Der Nutzen der Mammographie ist medizinisch umstritten» stellte ich fest: «Die Angst wird kräftig geschürt: Statistiken werden so irreführend präsentiert, dass der Nutzen weit übertrieben erscheint» und die Risiken kaum erscheinen.
Nach einem weiteren Artikel, ebenfalls im Jahr 2002, über die fragwürdige Werbung zugunsten der «Hormonersatztherapie» für Frauen zur Vermeidung von Brustkrebs, Herzkreislaufkrankheiten, Osteoporose und vorzeitiger Alterung hat mir die «NZZ am Sonntag» die Zusammenarbeit gekündigt. Heute gilt die «Hormonersatztherapie» als eine Ursache von Brustkrebs.
Krebsbehandlungen ohne Nutzen
Im Jahr 2009 hatte ich im «Tages-Anzeiger» über neue Studien informiert, die auf ein hohes Risiko von «Überbehandlungen» hinwiesen (siehe Attachment). Jetzt kommt der «Swiss Medical Board» zum Schluss, dass auf einen verhinderten Brustkrebs-Todesfall eine bis zehn Frauen kommen, die ohne Nutzen gegen Brustkrebs behandelt werden. Hintergrund: Die früh entdeckten Krebszellen hätten sich im Körper nicht verbreitet oder wären sogar wieder verschwunden. Fälschlicherweise glauben diese operierten Frauen, dass die Früherkennung und die wenig invasive Operation sie vor Schlimmerem bewahrt hat.
Je geringer der Nutzen ist, desto mehr fallen diese Schäden ins Gewicht: Verschiedene Studien haben gezeigt: Bei einem flächendeckenden Screening würden in der Schweiz etwa 400 Frauen (je nach Studie zwischen 60 und 600) ohne Nutzen operiert. Dafür könnte die Frühentdeckung bei einer Teilnahme aller gesunden 600’000 Frauen im Alter zwischen 50 und 69 «jährlich 120 bis 150 Leben retten», wie die Krebsliga heute erklärt. Das wären zehn Prozent der insgesamt 1350 jährlichen Brustkrebs-Todesfälle in der Schweiz.
Keine Lebensverlängerung
Das Vermeiden von Brustkrebs-Todesfällen heisst jedoch nicht, dass die am Screening teilnehmenden Frauen länger leben. Denn es können Frauen an den Folgen des Screenings, namentlich der Überbehandlungen, zusätzlich an andern Todesursachen sterben. Jedenfalls kommt das «Swiss Medical Board» zum Schluss: «Die Gesamtmortalität wird nicht beeinflusst».
Deshalb empfiehlt das Fachgremium den Kantonen, die noch kein Screening-Programm eingeführt haben (ZH, AG, SH, LU, ZG, NW, OW, UR, GL, SZ, AR, AI), auf ein solches zu verzichten. Den andern Kantonen, die ein Programm eingeführt haben oder unmittelbar davor stehen, empfiehlt das Gremium, die Programme «zeitlich zu befristen».

Siehe


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor verfolgt als Journalist die Einführung von Brustkrebs-Screening-Programmen zur Frühentdeckung von Brustkrebs schon seit 15 Jahren.

Zum Infosperber-Dossier:

RntgenZeichnung_Brust

Sinn und Unsinn der Früherkennung

Je früher man Risikofaktoren entdecken kann, desto mehr Menschen werden «krank» und ohne Nutzen behandelt.

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9 Meinungen

  • am 3.02.2014 um 12:30 Uhr
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    Als Autorin des gestern in der NZZ am Sonntag erschienen Artikels muss ich mich vor dir verneigen, lieber Urs: Du hattest schon damals recht und bist nicht nur den Fachpersonen, sondern auch uns Journis oft eine Nasenlänge voraus. Ganz der Sperber 🙂

  • am 3.02.2014 um 13:45 Uhr
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    Sehr geehrter Herr Gasche, studieren Sie bitte die Vorgehensweise des SMB. Deren Analysen beruhen auf der weltweit geächteten QALY-Analyse. Somit kann man die Kosten tief halten, ohne die zugrundeliegenden medizinischen Fachkenntnisse gebührend einfliessen lassen zu müssen. Die Mammografie erfüllt generell die Vorgabe des KVG, ‹zweckmässig› zu sein, da man damit einen Krebs im Frühstadium erkennen und heilen kann (Heilungsrate schlechter je später Diagnose). Somit muss man die Beurteilungsqualität, sprich die Treffsicherheit des Erkennens eines möglichen Tumors, resp. Fehldiagnosen seitens unserer Radiologen verbessern (Ihre vorliegende Aussage widerspricht ansonsten Ihrem Artikel ‹Brustkrebs-Screening: Bluffen mit bester Qualität› auf InfoSperber). Ferner sind bessere Preise aufgrund der systematischen Mengenausweitung auszuhandeln. Rationalisierung anstelle von Rationierung über korrekte Anwendung der WZW-Kriterien. So aber werden Frauen ab 50, nur weil Sie keine Kinder mehr bekommen können, als minderwertigeres Leben eingestuft, welches es offenbar nicht mehr zu schützen gilt. Diese höchst verwerfliche Beurteilung des SMB im fachfremden Dienste der Ökonomie von wertem und unwertem Leben zur generellen Förderung des volkswirtschaftlichen Nutzens ist äusserst gefährlich und muss aufgehalten werden. Die korrekte korruptionsfreie Anwendung der WZW-Kriterien ist für die Kosteneffizienz der OKP entscheidend, nicht die Rationierung im Interesse der Ökonomie und der Versicherer.

  • Portrait.Urs.P.Gasche.2
    am 3.02.2014 um 14:41 Uhr
    Permalink

    @Keusch. In meinen Artikeln und auf Infosperber ist von Kosten und QALYs nicht die Rede. Es ist ein Aspekt, dem das «Swiss Medical Board» unter anderem nachgegangen ist, der jedoch für den Entscheid einer Frau, am Screening teilzunehmen oder nicht, keine Rolle spielt. Entscheidend ist der Nutzen im Vergleich zu den Risiken und Nachteilen. Und diesen Vergleich hat das «Swiss Medical Board» sehr sorgfältig gemacht und ist zum praktisch gleichen Schluss gekommen wie die Schweizerische Krebsliga in ihrem neusten Faktenblatt zum Mammographie-Screening. Wenn Sie dies eine «höchst verwerfliche Beurteilung» nennen und den Eindruck wecken, es handle sich um eine korrupte Anwendung der WZW, dann verlassen Sie den Boden einer sachlichen Auseinandersetzung.

  • am 3.02.2014 um 16:29 Uhr
    Permalink

    @Gasche: Gerne lade ich Sie dazu ein, den Boden der sachlichen Auseinandersetzung zu betreten und sich mit der Problematik der vorliegenden QALY Analyse des SMB unter 2.3 des Berichtes, wie vom ‘Verein Ethik und Medizin’ kritisch hinterfragt, sachlich auseinanderzusetzen (http://www.physicianprofiling.ch/MBMammoScreening.pdf ). Dabei gilt es zu bedenken, dass die USA die Beurteilung von medizinischen Massnahmen auf Basis des QALY-Konzeptes seit 2010 per Gesetz ausdrücklich verbietet ( http://www.vems.ch/hta ). Auch die schweizerische Juris Prudenz bewertet die Aussagekraft von QALY als limitiert an ( https://hill.swisslex.ch/JournalPortal.mvc/AssetDetail?assetGuid=a447f980-e0f0-448c-996f-a95061200fb9 ). Sie beinhaltet nur die zusätzliche Gefahr einer Diskriminierung chronisch Kranker, Behinderter oder älteren Menschen, weshalb so erhobene Ergebnisse wie auch die ihnen zu Grunde liegenden Annahmen stets kritisch zu reflektieren seien. Sind Sie den nicht auch der Meinung, dass die Schweiz sich nicht der Empfehlung der SMB anschliessen sollte, sondern im Interesse des Gesundheitsschutzes unserer Frauen, die Performance des Brustkrebsscreeningprogrammes gemäss VEMS testen sollte?

  • am 3.02.2014 um 17:23 Uhr
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    Lieber Herr Keusch
    Frauen können sich selbst zu Wort melden, was sie wollen und was nicht. Man könnte auf anderen (Gesundheits)Gebieten viel
    mehr Positves für viel mehr Personen erreichen. Nur kann man da nicht soviel Apparate einsetzen. Schade, dass es nur noch um Umsatz geht.

  • am 5.02.2014 um 15:06 Uhr
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    Lieber upg – jetzt warte ich auf Deine ebenso fundierte Analyse über die ebenso teuren und überflüssigen Prostata-"Übungen» der Urologen mit den Männern ü70.

  • am 5.02.2014 um 18:23 Uhr
    Permalink

    Interessante Diskussion. Die Argumentation von Urs P. Gasche gefällt mir besser.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 8.02.2014 um 11:20 Uhr
    Permalink

    Meine Meinung über Urs P. Gasche war nie von einem etwas unterschiedlichen politischen Ausgangspunkt abhängig. Die sogenannte Wahrheit ist immer konkret, bloss «grundsätzlich» hätte ja fast jeder Recht. Zu den empirisch wichtigsten Aufgaben von gutem, vorbildlichem Journalismus ist der Nachweis dessen, was falsch läuft. Geschieht dies «ohne Rücksicht auf Verluste", liegt der von Spinoza analysierte Affekt des Mutes vor. Zu den grössten Genugtuungen gehört es wohl, wenn ein mutiger Publizist oder Politiker (Frauen nie ausgeschlossen) nach Jahren nachträglich recht bekommt. Auf ewig recht bekommt niemand. Ich gratuliere in diesem Sinn für diesen Beitrag.

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